Der Versuch einer Abgeordnetengruppe von SPD, Grünen und Linken buchstäblich auf den letzten Drücker vor der Bundestagswahl handstreichartig das deutsche Abtreibungsrecht noch weiter zu liberalisieren, ist nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich, sondern auch politisch schädlich und ethisch fragwürdig. Es handelt sich um einen ideologisch motivierten Akt reiner Symbolpolitik, die an den realen Problemen vorbeigeht und einen mühsam gefundenen gesellschaftlichen Kompromiss ohne Not aufkündigt.
Das Vorhaben ist das Ergebnis eines extremen ethischen Reduktionismus, der auf mehreren fragwürdigen Voraussetzungen beruht.
Das derzeit geltende Recht eröffnet bereits einen niederschwelligen Zugang zu medizinisch sicheren Abtreibungen, ohne die betroffenen Frauen oder die involvierte Ärzteschaft zu kriminalisieren. Zugleich trägt es dem Lebensrecht des Ungeborenen dadurch Rechnung, dass es eine Beratungspflicht statuiert und eine dreitägige Frist zwischen der Beratung und dem Abbruch verlangt. Diese Balance soll jetzt durch eine Regelung ersetzt werden, die den sowohl verfassungsrechtlich als auch ethisch gebotenen Lebensschutz im ersten Trimester der Schwangerschaft grundsätzlich negiert und Abtreibungen zu normalen Gesundheitsleitungen stilisiert, deren Kosten vollumfänglich von der Versichertengemeinschaft zu tragen sind. Dieses Vorhaben ist das Ergebnis eines extremen ethischen Reduktionismus, der auf mehreren fragwürdigen Voraussetzungen beruht.
Gradualismus
Während in den großen bioethischen Debatten der letzten Jahrzehnte aufgrund der neueren Einsichten von Entwicklungsbiologie und Embryologie zumeist implizit unterstellt wurde, dass spätestens nach der erfolgreichen Einnistung des Embryos dessen prinzipielle Schutzwürdigkeit außer Frage steht, wird jetzt ein gradualistischer Ansatz propagiert, der dem ungeborenen Leben ausgerechnet in seinen verletzlichsten frühen Entwicklungsphasen keinerlei Schutz mehr bietet und zudem im krassen Widerspruch zur Entwicklung innerhalb der Medizin steht, die die frühen Feten längst als „Patienten“ entdeckt hat. Statt an bewährten philosophischen Standards zur Statusbestimmung (im Sinne der klassischen SKIP-Argumente) festzuhalten, werden fragwürdige Zäsuren in der Embryonalentwicklung postuliert, die wissenschaftlich kaum zu rechtfertigen sind.
Entgrenzte Selbstbestimmung
Der Gesetzesinitiative der Parlamentariergruppe basiert zudem auf einem entgrenzten Selbstbestimmungsdenken, das sich unter Berufung auf die vermeintliche „reproduktive Autonomie“ der Schwangeren eine absolute Verfügungsmacht über das Kind anmaßt. Eine solche Konzeption zerreißt nicht nur den elementaren Zusammenhang zwischen Zeugung und elterlicher Fürsorgeverantwortung, sondern verkehrt die Eltern-Kind-Beziehung in ein totalitäres Herrschaftsverhältnis. Zudem lässt sie ein falsches Verständnis normativer Gründe erkennen, das mit unserem bisherigen Moralverständnis unvereinbar ist. Denn wenn sich der moralische und rechtliche Status des Ungeborenen erst aus der subjektiven Bereitschaft der Schwangeren ergeben soll, die aus der biologischen Abhängigkeit resultierenden Belastungen für sich zu akzeptieren, dann sind es nicht mehr die intrinsischen Eigenschaften und damit der objektive Wert des Ungeborenen selbst, die die Quelle der normativen Ansprüche bilden, sondern externe Faktoren, die von rein subjektiven Präferenzen abhängen. Eine solche Vorstellung von Selbstbestimmung wird aber weder dem kategorischen Kern moralischer Ansprüche noch dem kognitiven Gehalt und den relationalen Bedingungen echter Autonomie gerecht.
Menschenwürde
Das Vorhaben der Abgeordnetengruppe hat auch gravierende Konsequenzen für die Deutung der Menschenwürde: Zum einen läuft es auf eine problematische Entkopplung von Menschsein und der Trägerschaft von Menschenwürde hinaus, so dass beide Begriffe nicht länger denselben Begriffsumfang aufweisen. Zum anderen wird die Würde im Sinne einer philosophisch hochgradig umstrittenen Leistungstheorie an den erfolgreichen Abschluss eines bestimmten biologischen Entwicklungsstandes gebunden, was mittel- und langfristig weitreichende Folgen auch für andere Lebensbereiche (etwa den Umgang mit behinderten oder dementen Personen) hat.
Gerechtigkeit
Die gesetzliche Ausgestaltung des Abtreibungsrechts berührt nicht nur die Privatsphäre der einzelnen Schwangeren, sondern grundlegende Aspekte der Generationengerechtigkeit, der Geschlechtergerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit:
Im Blick auf die intergenerationelle Dimension der Gerechtigkeit ist zu verlangen, dass die bereits geborenen Menschen den nachfolgenden Generationen genau dasselbe Schutzniveau gewähren sollten, das sie selbst in ihrer eigenen vorgeburtlichen Entwicklungsphase genossen haben und dem sie ihre heutige Existenz überhaupt erst verdanken, um eine ungerechtfertigte Selbstbegünstigung zu vermeiden. Es wirkt verstörend, dass dieses in der Ökologie-Debatte zentrale Argument zum Schutz künftiger Generationen ausgerechnet im Umgang mit dem ungeborenen Leben keine Gültigkeit haben soll.
Hinsichtlich der Geschlechtergerechtigkeit ist aus einer rechtshistorischen Perspektive einzuräumen, dass die konkrete Ausgestaltung der einschlägigen Strafgesetze in der Vergangenheit oft einseitig zulasten der Schwangeren gingen. Statt jedoch aus einer früheren Ungerechtigkeit die Rechtfertigung zum Begehen neuen Unrechts abzuleiten, sollte eine zeitgemäße Ausgestaltung der gesetzlichen Regelungen (zum Beispiel im Unterhaltsrecht) die Kindsväter stärker zur Verantwortung ziehen.
Effizienter Lebensschutz bedarf neben der stets gebotenen individuellen Verantwortung für das eigene Sexualverhalten auch gezielter sozialpolitischer Anstrengungen.
Schließlich berührt die Abtreibungsproblematik insofern auch Fragen der sozialen Gerechtigkeit, als Entscheidungen für oder gegen die Fortsetzung einer Schwangerschaft stets in einem bestimmten sozio-ökonomischen Umfeld getroffen werden. Die Geburt eines Kindes darf in unserer strukturell kinderfeindlichen Gesellschaft auch für Alleinerziehende nicht zum Armutsrisiko werden, sondern ist durch entsprechende familienpolitische Maßnahmen (wie etwa längere und flexiblere Elternzeiten, kostenlose Kita-Plätze, sozial gestaffelte Kindergeldzahlungen, höhere steuerliche Freibeträge) sozialrechtlich so auszugestalten, dass die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Reproduktion deutlich wird. Effizienter Lebensschutz bedarf neben der stets gebotenen individuellen Verantwortung für das eigene Sexualverhalten auch gezielter sozialpolitischer Anstrengungen, die es Betroffenen durch konkrete Unterstützungsleistungen überhaupt erst ermöglichen, sich auch in schwierigen ökonomischen Situationen oder prekären Beziehungskonstellationen für die Annahme des Kindes entscheiden zu können.
Desiderate für eine zukunftsweisende Debatte
Aus diesen Überlegungen ergeben sich neben der Ablehnung jeder weiteren Schwächung des heute ohnehin schon prekären Lebensschutzes vor allem vier Desiderate für die weitere Diskussion.
Erstens bedarf es dringend einer Weitung des Diskursfeldes: Statt die Abtreibungsproblematik auf eine Frage weiblicher Selbstbestimmung zu reduzieren, käme es auch im Blick auf ein sozialwissenschaftlich aufgeklärtes relationales Autonomieverständnis gerade umgekehrt darauf an, Reproduktion als komplexe Thematik zu begreifen, die nicht nur die unmittelbar betroffenen Kindseltern oder gar die Schwangere allein etwas angeht, sondern vielfältige soziale Beziehungen berührt und weitreichende gesamtgesellschaftliche Implikationen und Folgen hat.
Zweitens sollte unter Beibehaltung des derzeitigen rechtlichen Staus quo gezielt daran gearbeitet werden, sowohl die Beratungsqualität als auch die Erreichbarkeit spezialisierter psychosozialer Beratungsangebote gerade in bestimmten Krisensituationen (etwa im Falle einer Konfrontation mit auffälligen pränataldiagnostischen Befunden) für Betroffene zu verbessern.
Drittens ist unbedingt an der derzeitigen Finanzierungsregel festzuhalten. Abtreibungen sind keine normalen Gesundheitsleistungen und sollten daher auch keinesfalls in den Leistungsumfang der Krankenversicherung aufgenommen werden.
Schließlich sollte viertens angesichts der großen Zahl ungewollt kinderloser Paare, die gerne ein Kind adoptieren würden, im Blick auf die hohen Abtreibungsquoten auch verstärkt darüber nachgedacht werden, ob nicht wenigstens ein Teil der betroffenen Kinder ausgetragen und nach der Geburt zur Adoption freigegeben werden könnte. Da sich die Humanität einer Gesellschaft vor allem daran zeigt, wie sie mit ihren schwächsten und schutzbedürftigsten Mitgliedern umgeht, könnte auf diese Weise zumindest eine gewisse Schadensbegrenzung erreicht werden.
Da die Initiative der Abgeordnetengruppe zur Neuregelung des Abtreibungsrechts keine realen Probleme löst, sondern die Gesellschaft weiter spaltet, ist zu hoffen, dass eine Mehrheit der Abgeordneten diesem prozedural und inhaltlich fehlgeleiteten Projekt eine Absage erteilt.