In meiner ersten Arbeitswoche im Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie, Anfang der 1980er-Jahre, war ich als Assistenzarzt mit einem Mädchen konfrontiert, das sich mir in der Erstuntersuchung anvertraute und über sexuellen Missbrauch berichtete. Meine Oberärzte und der Chefarzt wussten wenig dazu zu sagen, und ich wurde aufgefordert, eine Literaturrecherche zu machen und in der Klinikfortbildung zum Thema zu referieren. Das Thema „sexueller Missbrauch und Trauma-Folgen bei Kindern und Jugendlichen“ hat mich seither nie mehr losgelassen, auch wenn ich zeitweilig genug davon hatte. Heute machen wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema und das Engagement für Teilhabemöglichkeiten psychisch belasteter und traumatisierter Kinder und Erwachsener meinen Hauptbeitrag zum Fachdiskurs in den Heilberufen aus.
Noch in den 1990er-Jahren schien das Thema generell nicht für eine wissenschaftliche Entwicklung geeignet zu sein. Ich promovierte und habilitierte zu anderen Themen und trug bei meinen ersten Vorstellungsvorträgen für eine Professur zu anderen Fragen vor – gleichsam mein Herzensthema verleugnend. Kurz nach meinem Amtsantritt als Klinikdirektor an der Universität Rostock war ich zu einem standesrechtlichen Gutachten zur Frage „Entzug der Approbation als Arzt“ bei einem Chefarzt beauftragt worden. Dieser sollte über Jahre hinweg ihm zur Behandlung anvertraute Kinder und Jugendliche missbraucht haben. Ohne die Mitwirkung von Betroffenen war es für mich nicht möglich, diesen Auftrag zu erfüllen, zumal im Vorfeld mehrere strafrechtliche Verfahren, u.a. weil der Kollege sich in einer Fachpublikation so einfühlsam zur körperlichen Untersuchung von Kindern geäußert habe, eingestellt worden waren. Es war sowohl für den Träger der Einrichtung wie für die Staatsanwaltschaft nicht vorstellbar, dass ein angesehener Chefarzt serienmäßig sich an den ihm anvertrauten Kindern vergangen haben soll. Da kein strafrechtlicher Tatnachweis vorlag, wandte ich mich an einige der mittlerweile erwachsenen Betroffenen mit der Bitte, sich dem Vorgehen analog einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung auszusetzen und zwar aus altruistischen Motiven, nämlich zur möglichen Durchsetzung von Garantenpflichten in der Heilbehandlung.
Das Gutachten ging mir nah: Es ging um mein Fach, es ging um einen feinsinnigen Kollegen mit musikalischen Interessen. Bei vielen seiner ehemaligen Kollegen traf ich auf eine Mauer des Schweigens, während ich bei Betroffenen offen aufgenommen wurde. Als ihm auf der Basis meines Gutachtens die Approbation entzogen wurde, erhielt ich Zuschriften, aber auch Drohanrufe mit dem Tenor, wie ich einen Familienvater und Kollegen so beschädigen könne. Erstmalig machte die Staatsanwaltschaft das, was vielen Betroffenen die unnötige Begutachtung erspart hätte: Sie ordnete eine Hausdurchsuchung an, und es wurde eine Unzahl belastender Bilddokumente gefunden. Auf der Basis dieser Beweise wurde eine Anklage vorbereitet. Der Beschuldigte, der nicht mehr als Arzt tätig sein konnte, hatte übrigens anderswo begonnen, sich ehrenamtlich als Fußballtrainer für Kinder seines Prädilektionsalters „zu engagieren“. Er schrieb mir einen verzweifelten vorwurfsvollen Brief und klagte mich an, ich hätte ihn zum Dead man walking gemacht. Kurz vor der Hauptverhandlung beging er Suizid. Der Fall war überall Thema, ich selbst hatte immer wieder Schuldgefühle, aber die Betroffenen kamen in der Debatte kaum mehr vor und schon gar nicht zu Wort.
Fachlich diskutierten wir über ethische Leitlinien zur körperlichen Untersuchung, obwohl völlig klar ist, was ärztliches Handeln und was sexuelle Gewalt ist, über Nähe und Distanz und die Herausforderungen im psychotherapeutischen Arzt-Patienten-Verhältnis. Es ging um den Täter, um die Profession, um den Stand, um die Schwierigkeiten und Verführungen des Therapeutenberufs; schlicht, es ging um uns als Opfer einer übergroßen Aufgabe, nicht aber um die uns anvertrauten Kinder. Ich schicke diesen biografischen Einstieg voraus, um zu zeigen, wie schwierig es ist, die Perspektive der Betroffenen im Blick zu behalten, wenn sich ein Berufsstand bedroht fühlt. Die Abwehrmechanismen und die Verleugnung im Umgang mit sexuellem Missbrauch, wie sie weltweit in der katholischen Kirche schmerzhaft offenbar wurden, sind also nicht singulär, sondern eher typisch für die Reaktion von Institutionen, die unter Druck geraten. Meine gutachterlichen und beruflichen Erfahrungen im Umgang mit sexuellem Missbrauch in Institutionen waren zunächst von solchen Vorkommnissen im eigenen Fach und in den Heilberufen geprägt.
Sexueller Missbrauch in Institutionen
Das alles ist lange her. Später konnte ich vieles besser einordnen, etwa die exzellenten Zeugnisse, trotz offensichtlicher und schon am Ausbildungsort Heidelberg offenbar gewordener Ungeeignetheit für den Heilberuf. Heute weiß man um das Heidelberger psychotherapeutische Institut, um die Liaison-Versorgung der Odenwaldschule durch die Heidelberger Kinder- und Jugendpsychiatrie und vieles mehr über Mitwisser-Netzwerke mit verzerrter Wahrnehmung und Toleranz für scheinbar geniale Täter, sog. „vorbildliche Therapeuten mit kleinen Mängeln“. Während sexueller Missbrauch in der Familie seit den 1980er-Jahren in Deutschland diskutiert wurde, war Täterschaft in Institutionen damals noch Tabu. Hinweise auf die Vorgänge in der Odenwaldschule in einem Artikel der Frankfurter Rundschau wurden von den zuständigen Aufsichtsbehörden aktiv ignoriert.
Es gelang uns im Rahmen eines vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten Projekts, pädagogische Fachverbände zu dieser Thematik an einen Tisch zu bringen. Bezeichnend für die damalige Haltung ist ein Interview mit Hans Thiersch aus Tübingen, der immerhin die Offenheit hatte, darüber zu sprechen, den Text aber später nicht mehr abgedruckt wissen wollte.1 Im Rahmen des Projektes gab es zahlreiche Berichte über Fälle aus weltlichen und kirchlichen Institutionen, die häufig so gelöst wurden, dass die betroffenen Kinder aus der Gruppe entfernt wurden und man versuchte, Schaden von der Institution abzuwenden, indem man die Betroffenen zum Schweigen brachte. Im Schwerpunkt „Recht und Verhalten“ der Volkswagen-Stiftung bearbeitete ich zwei interdisziplinäre Projekte: zum institutionellen Umgang mit betroffenen Kindern und zu Informations- und Teilhaberechten von Kindern in der Krankenbehandlung.
Diese klinischen, gutachterlichen und wissenschaftlichen Vorerfahrungen hatte ich im Gepäck, als ich, von Rostock kommend, den Ruf auf den Lehrstuhl der neu gegründeten Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Ulm antrat. Schon beim Bau der Klinik achtete ich auf externe Beschwerdemöglichkeiten, später auf die Einbindung des Patientenfürsprechers in ein kindgemäßes Beschwerdesystem usw., denn ich wollte den Neuaufbau einer Institution dafür nutzen, Schutzkonzepte – die damals offiziell noch nicht so hießen – zu entwickeln, die präventiv wirken und die Rechte der Kinder stärken.
In allen Einstellungsgesprächen thematisierte ich die besonders gefahrgeneigte Tätigkeit und die spezifische Verantwortung und bekam viel Zuspruch von den neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die häufig über entsprechende Erlebnisse in Institutionen berichteten. Dennoch dauerte es Jahre, bis der Personalrat des Universitätsklinikums Ulm einer entsprechenden Anlage zum Arbeitsvertrag zustimmte.2 Es fielen die üblichen Argumente: „Man kann doch nicht hoch motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Pflege- und Erziehungsdienst und im ärztlich therapeutischen Bereich einem Generalverdacht aussetzen.“ Gesehen wurde die Schwächung von Arbeitnehmerrechten, gefürchtet wurde um den Ruf der Institution, vielfach geleugnet wurden die Garantenpflichten gegenüber den uns anvertrauten Patientinnen und Patienten.
Einladung in den Vatikan
Friedemann Pfäfflin, Professor der forensischen Psychiatrie und Leiter des Ausbildungsinstituts für Psychotherapie in Ulm, bat mich kurz nach meinem Dienstantritt in Ulm, bei einer Fachtagung im Vatikan einen Vortrag über die Folgen sexuellen Missbrauchs an Kindern zu halten. Organisiert wurde die Veranstaltung vom damaligen Leiter der päpstlichen Akademie, Monsignore Sgreccia, aktiv unterstützt und beraten durch den deutschen Psychiater Manfred Lütz. Anlass der Tagung war der Missbrauchsskandal in der Diözese Boston, der heute durch den Film „Spotlight“ (2015) bekannt ist. Es war ein erster, für mich faszinierender professioneller Kontakt mit der Katholischen Kirche. Welche narzisstische Versuchung, was für eine Bestätigung, dass dieses vernachlässigte Thema nun endlich ernst genommen wird!
Zugleich auch Realismus und Zweifel: Warum wurden weltweit führende Forscher wie etwa David Finkelhor nicht angefragt? Ging es nur darum, der Kirche ein Alibi durch eine fachliche Auseinandersetzung zu geben? Die Chance auf Anerkennung für die Thematik, Neugier auf die Situation und auch Höflichkeit und Dankbarkeit gegenüber dem Kollegen ließen mich zusagen. Erst im Vatikan merkte ich, welche Verantwortung ich übernommen hatte, denn ich war der einzige der eingeladenen Experten, der über die Leiden der betroffenen Kinder sprechen sollte und etwas über die Folgen von Missbrauch für Kinder und Jugendliche sagen konnte. Einmal angekommen im Vatikan, stieg – fasziniert und gleichzeitig eingeschüchtert von Kunst und historischer Macht – der wahrgenommene Druck. Ähnlich wie im Politbetrieb versuchten Personen aus den Dikasterien des Vatikans, die Expertinnen und Experten kennenzulernen, um einzuschätzen, ob sie für ihre Argumentation einzuspannen wären, und sie versuchten, uns in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Sexualmoral: Sünde versus Informed Consent Paradigma
In den Diskussionen fragten betagte Kardinäle, was an der Sünde „sexueller Missbrauch von Knaben“ schlimmer sei als an anderen sexuellen Sünden, schließlich seien solche Übergriffe in den zehn Geboten nicht erwähnt. Erstmals wurden mir die Schwierigkeiten einer Sexualmoral deutlich, für die jede Sexualität, außer zu procreativen Zwecken innerhalb der Ehe, Sünde ist. Vielen Anwesenden war nicht gleich möglich, das Problem der Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse zu verstehen. Nicht generell akzeptiert war das in der westlichen Welt anerkannte Informed Consent Paradigma, welches auch in allen gebräuchlichen Definitionen des sexuellen Missbrauchs enthalten ist: Kinder können solchen Taten nicht frei zustimmen, weil sie die Dimension der Handlungen nicht absehen. Es ging nicht um Machtausübung, Verantwortung und Ausbeutung abhängig Anvertrauter, sondern es ging um Sünde. Zwischen Homophilie und Ephebophilie gab es, wenn überhaupt, nach meinem Eindruck in der Bewertung Vieler nur Nuancen.
In mehreren verwirrten Diskussionen ging es darum, wie man die Kirche vor Schaden schützen könne, indem man schwule Männer vor der Priesterweihe erkenne. Homosexualität wurde als Hintergrund von Ephebophilie diskutiert. Manchmal wurde ich den Verdacht nicht los, dass man aus Anlass der Missbrauchstaten ganz andere Probleme und Konflikte regeln wollte. Immer wieder ging es um die Täter: Wie kann man verdiente Geistliche, die sich verfehlten, geräuschlos sichern, etwa durch Ämter als Bibliothekare? Wie kann man Täter mit den Mitteln der modernen Medizin behandeln? Selbst den Möglichkeiten der hormonellen Therapie, der sogenannten „chemischen Kastration“, wurde ein eigener Vortrag und eine Diskussion gewidmet. Immer wieder kam zur Sprache, dass gar nicht selten Täter selbst Betroffene sind. Es ging um die Täter, um die Kirche, um den Ruf der Kirche und die Reaktion der Kirche, insbesondere im Kirchenrecht, hingegen explizit nicht um eine Kooperation mit weltlichen Behörden wie Staatsanwaltschaften und Strafgerichten und erst recht nicht um die Betroffenen.
Kirchenrecht und der Wunsch nach transparenten Verfahren
Zentraler Streitpunkt war das Kirchenrecht. Johannes Paul II. hatte auf Anraten der Glaubenskongregation eine kirchenrechtliche Meldepflicht für schwere Delikte des sexuellen Missbrauchs an die Glaubenskongregation eingeführt und damit die Bearbeitung der Fälle, nach dem Versagen der Ortsbischöfe etwa in Boston, zentralisiert. Damit wurden jedoch viele Akten und Unterlagen dem Zugriff lokaler Ermittler entzogen. Vertreter der Rota und der Kongregation der Ordensleute waren empört. In der Glaubenskongregation hatte man wohl keine Idee davon, um welches Ausmaß es ging, das nun diese mittelalterlichen Gerichtstrukturen an einem absolutistischen Hof, ohne hinreichendes Personal und ohne Bearbeitungsstatistik, bewältigen sollten. Für weltliche Beobachter ist kaum vorstellbar, dass hier eine Gerichtsbarkeit bei so entscheidenden Fragestellungen ohne Statistiken auskommen muss. Eine effektive Kontrolle der Implementation von Verfahren wurde völlig ausgeblendet.
Diese Unzulänglichkeiten in der Fallbearbeitung durch die Glaubenskongregation trugen zum Unmut vieler Betroffenen bei, die mehr Transparenz erwarteten. Die Frage der Stellung der Betroffenen im Kirchenrecht, also sozusagen ein kirchenrechtlicher Opferschutz, war nie Thema. Die Betroffenen waren Zeugen, und man tat gut daran, ihre Zeugnisse auf Glaubhaftigkeit zu überprüfen. Nicht zur Debatte stand die Praxis der Versetzungen oder internationaler Verschiebungen zur Aushebelung staatlicher Strafjustiz. Es ging um Einschränkungen der Privilegien in der Amtsführung der Bischöfe und Ordensoberen und um die zentrale Macht Roms, nicht um Funktionalität oder Angemessenheit von Verfahren und schon gar nicht um den Einbezug von Laien, es sei denn als forensische Gutachter, aber nicht in Entscheidungsgremien. Mir wurde Gelegenheit gegeben, am letzten Tag der Tagung noch etwas zu Kindern und Jugendlichen als Betroffenen zu sagen.3
Auch die Deutsche Bischofskonferenz verabschiedete im Anschluss an die Tagung Leitlinien. Im Gegensatz zu pädagogischen Fachverbänden reagierte eine bedeutende Institution. Das gab mir Hoffnung. Viele Betroffene hätten sich daher schon damals an die Missbrauchsbeauftragten der Diözesen wenden können. Aber fast alle nach der Tagung in Rom beschlossenen Maßnahmen funktionierten nicht wirklich, wurden nicht gelebt und vielerorts nicht umfassend installiert, und wenn doch, dann gerieten sie schnell in Vergessenheit.
Nach dem sogenannten Missbrauchsskandal 2010
Anfang des Jahres 2010 stellte sich Klaus Mertes SJ, der damalige Leiter des Canisius-Kollegs in Berlin, der institutionellen Verantwortung. In Deutschland veränderte dies die mediale Diskussion über sexuellen Missbrauch. Im Sinne von Michael King4 (1999) handelte es sich um ein moralisches Agenda-Setting durch den Skandal an einer höheren Bildungseinrichtung. „In categories of agenda it is not individuals, but social systems which are being unjust to children.” Nicht die einzelnen Täter standen wie zuvor im Vordergrund der Berichterstattung, sondern die Schule als vermeintlicher Schutzort wurde angeklagt, ebenso die Kirche als Institution, der Eltern ihre Kinder nicht nur für die akademische Bildung, sondern auch für die Seelenbildung anvertraut hatten, ja letztlich die Gesellschaft, welche den Schutz von Kindern nicht gewährleisten konnte. Insbesondere bei der katholischen Kirche klafften der hohe moralische Anspruch, das geschlossene System des Klerikalismus und die brutale Realität der sexuellen Ausbeutung auseinander. Dass die sexuelle Gewalt in einer Institution vorkam, die in den letzten Jahrzehnten vor allem durch eine rigide, von vielen Menschen als überholt empfundene Sexualmoral aufgefallen war, vergrößerte den Skandal.
Unter öffentlichem Druck reagierte die katholische Kirche relativ schnell und richtete eine Hotline ein. Kurz darauf wuchs der politische Druck so stark, dass die Bundesregierung einen Runden Tisch „sexueller Kindesmissbrauch“ unter dem Vorsitz dreier Ministerinnen einrichtete: Justiz; Familie Senioren, Frauen und Jugend; Wissenschaft und Forschung. Die ehemalige Bundesfamilienministerin Dr. Christine Bergmann wurde zur Unabhängigen Beauftragten sexueller Kindesmissbrauch ernannt. Direkt nach ihrer Ernennung beauftragte sie mich mit der Begleitforschung und wissenschaftlichen Unterstützung ihrer Arbeit, und so begann der Aufbau einer staatlichen Anlaufstelle für Betroffene. Es handelt sich um den bis dahin breitesten Prozess der Beteiligung Betroffener mit über 20.000 Anrufen, E-Mails und Schreiben.
Bemerkenswert war, dass über 5.000 Betroffene einer detaillierten wissenschaftlichen Verwertung ihrer persönlichen Erfahrungen zustimmten. Sie wollten mit ihren Anliegen Gehör finden und mit ihren Testimonials an der Haltung der Politik und der Gesellschaft etwas ändern. Zu erwarten war, dass sich unterschiedliche Personen meldeten: Bei der katholischen Hotline wurden mehr Anrufer erwartet, die mit ihrer Kirche etwas klären wollten, bei der staatlichen Anlaufstelle hingegen mehr, die mit ihrer Kirche abgeschlossen hatten, die Vorgänge in der Kirche aber anprangern und eventuell auch Entschädigungen fordern wollten. Nach vielen vertrauensbildenden Maßnahmen ist es uns später gelungen, die aggregierten Datensätze zu vergleichen; generell konnte diese Annahme bestätigt werden5.
Allerdings betonten nicht wenige der von der Kirche Enttäuschten, dass Spiritualität und Glaube für sie eine wichtige Ressource im Überleben war. Die Schilderungen der Taten und der erlebten Belastungen stimmten weitgehend überein. Auffallend war, wie viele Betroffene sich von ihrer Kirche nicht gehört, nicht wahrgenommen und nicht verstanden fühlten. Zu betonen ist, dass manche es als kirchliche Aufgabe ansahen, sich um sie zu kümmern und ihnen einen Weg zurück in die Glaubensgemeinschaft zu ermöglichen. Viele andere hatten die Amtskirche „abgeschrieben“. Für die katholische Kirche in Deutschland beteuerte der eingesetzte Missbrauchsbeauftragte, Bischof Ackermann aus Trier, den Aufklärungswillen: „Wir wollen wissen, was erlitten wurde“. Er war in einer nicht einfachen Position kontinuierlich am Runden Tisch sexueller Missbrauch präsent und signalisierte fast immer Demut und den Willen zur Veränderung. Andere Organisationen wie die evangelische Kirche oder der Sport kamen in dieser Debatte, trotz zahlreicher Betroffener, die sich an uns aus diesen Bereichen gewandt hatten,6 relativ „ungeschoren“ davon.
Nach der Thematisierung des Missbrauchsskandals in der Odenwaldschule konzentrierte sich der Diskurs über sexuelle Ausbeutung in pädagogischen Institutionen auf den Aspekt rigide katholische Einrichtungen versus Einrichtungen der Reformpädagogik – zahlreiche Pädagoginnen und Pädagogen hatten nämlich vermutet, dass in modernen partizipativen Strukturen Missbrauch nicht vorkomme. Sie wurden eines Besseren belehrt. Pädagogische Historiker wie Oelkers recherchierten eine Geschichte von Übergriffen seit Anbeginn der Reformpädagogik7. Vereinfacht gesagt: Hier wie dort gab es das exklusive Gefühl, etwas Besonderes zu sein, den Wunsch, die von der Gesellschaft bedrohte Einrichtung nicht zu gefährden, das reale Problem, qualifiziertes Personal zu bekommen, und ein daraus resultierendes Geflecht persönlicher Abhängigkeiten, welches hier wie dort die Matrix sexueller Ausbeutung in der Institution bildete.
Deutlich wurden Unterschiede in der Einstellung zu Körperstrafen und körperlicher Gewalt, aber die Gründe der Geheimhaltung erscheinen mir bis heute weitgehend identisch. Diese Gründe gleichen auch der Dynamik in Familien, wo der Ansehensverlust und die Auflösung der Familie befürchtet werden und wo deshalb allzu häufig betroffene Kinder keine Unterstützung finden. Die Tatsache, dass Betroffene erstmals in organisierten ombudschaftlichen Abläufen Gehör fanden, und zwar nach wissenschaftlicher Auswertung tausender Mitteilungen und nicht nur über bestimmte exponierte Betroffenenvertreter, war neu im Umgang mit dem Thema. Sie führte zur ersten Betroffenenanhörung am Runden Tisch und später zur Einrichtung eines Betroffenenrats und zur Etablierung einer Kommission, welche bis heute Möglichkeiten zur Anhörung bietet und diese Arbeit nach einem Kabinettsbeschluss (Ende 2018) wohl auch in den nächsten Jahren fortsetzen kann. In der Forschung zum Wohle Betroffener wurden verstärkt partizipative Ansätze diskutiert und die Frage gestellt, ob entsprechende, am Runden Tisch empfohlene Maßnahmen wie die Erstellung von Schutzkonzepten, tatsächlich bei den Betroffenen ankommen.
Wieder war es die katholische Kirche, die relativ schnell flächendeckend mit entsprechenden Vorgaben in Bezug auf Schutzkonzepte reagierte und mit gutem Beispiel voranging. Papiere und Ordnungen wurden in allen Diözesen erstellt. Allein das Vertrauen blieb erschüttert.
Die Päpstliche Universität Gregoriana und die Erzdiözese München-Freising
Am Runden Tisch sexueller Kindesmissbrauch in der Unterarbeitsgruppe III zu Bildung, Forschung und Weiterbildung lernte ich Hans Zollner SJ kennen, der dort unsere Idee eines E-Learning-Programms für Fachkräfte unterstütze, denn wir wollten eine gemeinsame Sprache und einen gemeinsamen Informationsstand von Fachkräften aus unterschiedlichen Professionen zu der bislang meist tabuisierten Thematik herstellen. In einer der bestehenden Förderlinien des BMBF zur beruflichen Bildung gelang es uns schließlich, für dieses Projekt Förderung zu bekommen, und es konnten mittlerweile tausende Fachkräfte einen zertifizierten Kurs, der einer mehrwöchigen Weiterbildung mit einer Abschlussprüfung gleichkommt, absolvieren. Nach der erfolgreichen Etablierung dieses Programms fragte mich Pater Zollner an, ob ich mir vorstellen könnte, ein ähnliches Programm, basierend auf den wissenschaftlichen Inhalten in unserem Programm, kombiniert mit theologischem Basiswissen, für die Päpstliche Universität Gregoriana zu erstellen. Die Erzdiözese München-Freising und einige Spender seien bereit, das Unternehmen großzügig zu unterstützen. Wir suchten nach einer Form der Realisierung, und so wurde schließlich am 20. Januar 2012 zunächst in München als Kooperationsprojekt der Gregoriana, der Erzdiözese München-Freising und der Universität Ulm das Center for Child Protection der Gregoriana gegründet. Ein Beirat mit weltlichen und kirchlichen Experten, u.a. aus der Glaubenskongregation Monsignore Scicluna, begleitete das Projekt. Das Programm hatte in Asien, Südamerika, Afrika und Europa Anwendungsstandorte. Jährlich fanden Treffen mit den Unterstützern und Nutzern aus zahlreichen Ländern statt.
Beeindruckend waren die unterschiedlichen Lernkulturen und der Umgang mit der kirchlichen Herkunft des Programms. Während etwa in Indien eher rigide Vorgaben zur Durchführung des Programms gefordert wurden und man uns dringend bat, ein universitäres Zertifikat auszustellen, da ein kirchliches Zertifikat in manchen Kontexten wenig Wert habe oder sogar gefährlich sei, wurde in Afrika betont, dass schon das Wappen der Universität Gregoriana eine unglaubliche politische Bedeutung habe. Damit könnten Ordensschwestern, die selbst ausgebeutet und missbraucht werden, den Tätern zeigen, dass dies Unrecht ist. In Südamerika, wo wir in Argentinien mit einer Jesuitenuniversität den aktivsten und erfolgreichsten Partner hatten, wurde wiederum die Rigidität des Programmes kritisiert und mehr Offenheit gefordert. Hier gab es zahlreiche Anregungen für lokale kulturelle Adaptationen, die zwingend erforderlich seien, denn Prävention müsse kultursensibel sein. Nach erfolgreichem Abschluss des Projekts wurde tatsächlich an der Gregoriana ein Center for Child Protection etabliert und damit ein Verstetigungsprozess eingeleitet. Dies ist bemerkenswert, weil Modellprojekte allzu häufig nach der Modellphase schweigend auslaufen.
„Towards Healing and Renewal”
Unter diesem Titel fand vom 6. bis zum 9. Februar 2012 an der Gregoriana eine Tagung mit Vertretern von Bischofskonferenzen statt, erstmals mit Betroffenenbeteiligung – ein großer Schritt, der viele der Anwesenden anrührte. Weil wieder die völlig ungeordnete, unprofessionelle Organisation der Verfahren und Informationsflüsse zwischen den Diözesen der Welt und der Gerichtsbarkeit in der Glaubenskongregation auffiel, wurden transparente Verfahren gefordert. Auch fand im Rahmen dieser viel beachteten Tagung ein Gottesdienst statt – für mich ein einschneidendes Erlebnis, zeigte er aus meiner Sicht doch die Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit der Kleriker und die Instrumentalisierung der Betroffenen. Die Sprachlosigkeit war mir schon vorher als Organisator des E-Learning-Programms aufgefallen, denn wir fanden nur sehr schwer profilierte Autoren, insbesondere für die moraltheologischen Texte. Als Projektleiter musste ich konstatieren, dass die Evaluationsergebnisse zu den Texten und Lerneinheiten im E-Learning-Programm während der Erprobungszeit für diese theologischen Teile immer deutlich schlechter ausfielen als für die weltlichen Lerninhalte.
Beim Ringen um die Autoren für das Programm war mir vieles vorbewusst, was mich im Moment des Gottesdienstes mit Betroffenen emotional erreichte. Aus meiner Sicht inadäquate Bildmetaphern, mit einer Diaprojektion von Atombombenbildern und anderen Katastrophen, sollten das Elend der Menschheit nach dem Sündenfall beschreiben und sexuellen Missbrauch als eine von vielen Katastrophen erscheinen lassen. Den Betroffenen wurde in diesem Gottesdienst eine Rolle zugewiesen, die für mein Empfinden viel zu früh auf Aussöhnung hinzielte. Sie hatten keinen Freiraum für freie Texte. Die Kirchenmusik war für mein Empfinden banal und der Situation nicht angemessen. So wurde die Liturgie mit pseudomodernen Einsprengseln wie Fotoprojektion und naiver, zeitgenössischer Chormusik für mich zum Ausdruck der Verkrustung und Sprachlosigkeit. Immer wieder ging mir danach Bachs Mottete „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“ durch den Kopf und dabei vor allem die Zeile „denn wir wissen nicht, was wir beten sollen“.
Genau das war es: Es gab keine theologische Haltung zum sexuellen Missbrauch, sie wussten nicht, was sie beten sollen. Aber statt sich auf „unaussprechliches Seufzen“ zu verlegen, wurden hier inadäquate Metaphern der Vernichtung visuell projiziert. Ist es ethisch vertretbar, Betroffene als Zerstörte darzustellen? Die Metapher vom „Seelenmord“ mag von Betroffenen selbst gebraucht werden – wer jedoch seelischen Beistand für Betroffene anbieten will, muss Hoffnung auf Teilhabe, auf ein Dazugehören vermitteln. Das gilt meines Erachtens für weltliche Psychotherapeuten ebenso wie für Seelsorger. Welche Metaphern und Bilder müssen wir in diesem Kontext wählen? Wir haben zu ringen um einen adäquaten Ausdruck der Anerkennung des Leids und des Bemühens, Teilhabe zu ermöglichen. An diesem Abend in Rom bekam ich den Eindruck, Missbrauch ist etwas, mit dem die Kirche eigentlich nichts zu tun hat, es hat nichts mit ihren ureigenen Glaubensgründen zu tun. Ein innerer Kompass fehlte, der nicht von außen eingekauft werden kann, sondern aus geistlichem Diskurs entstehen muss.
Fehlender innerer Kompass und Selbstkontrolle
Dieser fehlende innere Kompass und ein mangelndes Gespür zeigten sich in manchem, u.a. im vorschnellen Engagement von Prof. Pfeiffer nach seiner spontanen Selbstbewerbung für das Aktenaufarbeitungsprojekt der Deutschen Bischofskonferenz. Nachdem dieses Projekt mit großem Mediendebakel beendet wurde, schien wieder einmal klar, wer in der öffentlichen Wahrnehmung den Schwarzen Peter hatte. Die zweite Projektvergabe wurde dann gründlicher geplant: Eine Expertenkommission entschied nach einer öffentlichen Ausschreibung auf der Basis von regulären Forschungsanträgen. Die interdisziplinäre MHG-Studie kam auf den Weg. Da ich sowohl Mitglied im Vergabegremium wie im wissenschaftlichen Beirat der Studie war, schreibe ich hierüber nicht viel. Im Rahmen der Studie konnten mittelbar 38.156 Personalakten aus 27 deutschen Bistümern ausgewertet werden; es ergab sich eine Zahl von 3677 aktenkundigen Fällen. Doch immer wieder scheint das schon lange Erkannte im Alltag wegzurutschen; so setzten einzelne Diözesen Jahre nach den ersten Entscheidungen der Bischofskonferenz und auch nach der Erschütterung 2010 eine unvertretbare Praxis im Umgang mit den Tätern fort – das musste die Studie mit aller Deutlichkeit feststellen.8 Sie führte zu einer erneuten Debatte über die Haltung in der katholischen Kirche zum sexuellen Missbrauch. Als die Studie aufgrund einer Indiskretion vorveröffentlicht wurde, entschloss ich mich, über ein Gespräch mit der FAZ auch Studienergebnisse aus einer Repräsentativbefragung vorab zu veröffentlichen,9 um vorzubeugen, dass später gesagt werden kann, man habe nun mit den 3677 Fällen die wahre Dimension der Problematik erkannt. Hier sind auch die Autoren der höchstverdienstvollen MHG-Studie sehr klar, indem sie eindeutig auf das Dunkelfeld und die bleibenden Herausforderungen hinweisen.
Deshalb ist es nach wie vor wichtig, endlich in allen Diözesen transparente Verfahren im Umgang mit Fällen von sexuellem Missbrauch einzurichten. In den USA wollte unter dem Eindruck jüngster öffentlicher Untersuchungen die Bischofskonferenz mehr Laien in Gremien zur Abklärung solcher Fälle miteinbeziehen; dies wurde vorerst über den päpstlichen Nuntius gestoppt.10 Lapidar formulierte die FAZ: „Für sexuellen Missbrauch gilt: Bischöfe befinden über Bischöfe. Das wollte die katholische Kirche in Amerika ändern. Doch sie scheiterte am Papst“.
Einheitliche und transparente Verfahren
Verfahren sind immer belastend, für Opfer wie für Täter. Im weltlichen Recht gab es in den letzten 30 Jahren Debatten um den Opferschutz in solchen Verfahren und um spezifische Opferrechte, etwa um das Recht der Nebenklage. Da hiervon Menschenschicksale abhängen, ist der Zeitfaktor wichtig, der endlich Berücksichtigung finden muss. Statt wiederholter Entschuldigungen wären einheitliche und transparente Verfahren mit Erledigungsstatistik und regelmäßigen Informationen über die Ergebnisse erforderlich, um der Öffentlichkeit und den Gläubigen zu ermöglichen, den gebetsmühlenartig wiederholten Beteuerungen der Kirchenoberen Glauben zu schenken. Das lässt sich mit einigem Nachdenken, mit finanziellem Aufwand und mit richtiger Prioritätensetzung bewältigen, wenn nur der Wille zur Reform der Verfahren und zur Implementierung des an höchster Stelle Gesagten besteht.
Eine größere Herausforderung scheint mir zu sein, Missbrauch nicht als Frage für externe Experten – etwa im forensischen Bereich – und Beauftragte zu betrachten, sondern als alltägliche Form des in der Gesellschaft weitverbreiteten Machtmissbrauchs zu erkennen und eine theologische Antwort darauf zu finden. Die Weltgemeinschaft hat sich nach den Milleniumszielen, welche zwar alle nicht erreicht wurden, aber zum Beispiel im Feld Säuglingssterblichkeit zu einer beeindruckenden Verbesserung geführt haben, nun dazu entschieden, nachhaltige Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals) voranzutreiben. SDG 16 ist der Gerechtigkeit und Teilhabe gewidmet, das Nachhaltigkeitsziel 16.2 will gewaltfreies Aufwachsen von Kindern sicherstellen. Einer der von der Weltgemeinschaft definierten Indikatoren ist die Häufigkeit von erlebten sexuellen Übergriffen, die Menschen zwischen 18 und 28 Jahren berichten. Bei einer breiten Definition des sexuellen Missbrauchs liegt hier in Deutschland, nach unseren Repräsentativbefragungen, die Häufigkeit für diese Altersgruppe deutlich über 10 Prozent.11
Auch wenn in der Kirche, nicht zuletzt aufgrund ihrer schwindenden Bedeutung in der Jugendarbeit und institutionellen Betreuung, im Vergleich zu anderen Institutionen wie Schule oder Sport ein relativer Rückgang von Fällen zu beobachten ist, gibt es keinen Grund für Entwarnung oder für die Hoffnung, dass Präventionsmaßnahmen schon ausreichend greifen. Die Angaben aus der MHG-Studie über Dunkelfeldzahlen machen deutlich, dass weit über 100.000 Personen sexuellen Missbrauch durch Priester in Deutschland erlebt haben. Die Kirche muss sich dieser Dimension stellen und mit transparenten Strukturen sowie der Behebung von Verfahrensmängeln eine glaubhafte Antwort entwickeln. Die Antwort kann nicht allein in Bedauern, Reue und Prävention bestehen. Was sagt man Betroffenen? Wie öffnet man Ihnen, soweit sie dies wollen, Türen? Welche spirituellen Antworten hat die Kirche?
Knapp ein Drittel der Bevölkerung Deutschlands berichtet aus der Kindheit über Vernachlässigung und/oder Misshandlung. Gewaltfreies Aufwachsen von Kindern ist wegen der Gewaltfolgen und wegen transgenerationaler Teufelskreise, die glücklicherweise von vielen Betroffenen durch eigenes Bemühen durchbrochen werden, eine enorme gesellschaftliche Herausforderung. Kirche als Teil dieser Gesellschaft sollte hier mit einer spezifischen, im Glauben fundierten Sichtweise einen Beitrag leisten. Das Bibelwort „Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn, wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn bald“ (Spr. 13,24; Luther-Übers.) hat in der simplen Sentenz „wer sein Kind liebt, der züchtigt es“ Generationen von rigid frömmelnden Eltern und Erziehern zur Legitimation von Gewalt gedient.
Originär kirchlich wäre zuerst ein theologischer Beitrag, vor allem mit dem Leid der Betroffenen. Sensibilisierung für die Missbrauchsthematik endet nicht damit, dass man in Präventionstätigkeiten, Schutzkonzepte, Kommissionen und Beauftragte investiert, sondern alle Ebenen müssen verantwortlich angegangen werden. Es ist ein Glaubensthema und ein Leitungsthema. Bischöfe und Generalvikare müssen transparent entscheiden und in solche Entscheidungen Personen wie die genannten einbeziehen. Etwa stehen dem Finanzplan einer Einrichtung, die sich nicht um ein Schutzkonzept für die ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen kümmert, erhebliche Bedenken entgegen, und man darf ihn nicht einfach durchwinken. Die MHG-Studie benennt Entstehungsbedingungen wie zum Beispiel den Klerikalismus. Hier sind glaubhafte Antworten zu fordern: Transparenz, Laienbeteiligung in Verfahren und einiges mehr. Im Umgang der Kirche mit den Schwächsten, also mit den Betroffenen, lässt sich am besten ersehen, ob die Kirche eine Antwort gefunden hat.
In einem Projekt unserer Klinikschule formulierten die bei uns behandelten und betreuten Kinder und Jugendlichen einen ihrer zentralen Wünsche für ihr Leben: „dazugehören“. Seelisches Leid ist häufig mit sozialer Isolation, mit beeinträchtigten und belasteten Partnerbeziehungen verbunden. Betroffene als dazugehörig zu betrachten, sie im Dazugehören zu unterstützen, ist aus meiner Sicht die zentrale Aufgabe. Effektive Ebenen der Partizipation sind wichtig. Die Kirche als mächtige Trägerin sozialer Institutionen sollte dazu beitragen, dass Menschen, welche an teils massiven seelischen, körperlichen und sozialen Folgen früher Kindheitsbelastungen leiden, besonders gut behandelt werden. Hierzu gehört fachliches Engagement, nicht nur das korrekte Mitzeichnen von Leitlinienvorschlägen. Kirchliche Hochschulen könnten hier noch mehr in spezifische Expertise und Praxisentwicklung investieren.
Der Kirche ist zu wünschen, dass sie in Zukunft diesen Herausforderungen besser gerecht werde. Blicke ich auf mehr als 15 Jahre fachliche externe Begleitung und Beratung zurück, muss ich feststellen, dass meine generelle Ambivalenz in den letzten Jahren – trotz vieler hoffnungsschaffender persönlicher Kontakte – eher gestiegen ist. Der Kirche ist auf Dauer auch von außen durch die Wissenschaft nur zu helfen, wenn sie selbst Antworten auf diese Fragen sucht.