Ein Qualitätsmerkmal sozialkaritativer Einrichtungen in christlicher TrägerschaftChristlich leiten

Ob eine Einrichtung in christlicher Trägerschaft (Caritas, Diakonie, Ordenseinrichtung etc.) ein nach innen und außen erkennbares christliches Profil aufweist, hängt entscheidend davon ab, ob es den Leitungskräften gelingt, sowohl christliche als auch nicht-christliche Mitarbeiter/innen aller Hierarchieebenen dafür zu begeistern, sich auf die typisch christliche Sichtweise von Gott und Mensch mitsamt den sich daraus abgeleiteten (ethischen) Handlungsmaximen – die zumeist in relativ unverständlicher Sprache in Hochglanz-Leitpapieren postuliert werden – einzulassen. Woran aber zeigt sich, ob dies der Fall ist?

Fazit

Eine sozialkaritative Einrichtung in christlicher Trägerschaft im 21. Jahrhundert leiten zu dürfen, ist eine enorm herausfordernde und persönlich bereichernde Aufgabe! Wenn es den Leiter/innen gelingt, ihre Mitarbeiter/innen zu inspirieren, dann wird ihr Leitungsstil zu einem Qualitätsmerkmal der gesamten Einrichtung.

 

Impliziert christlich leiten, Mitarbeiter/ innen dazu anzuhalten, sich mehr oder minder öffentlich zum christlichen Glauben zu bekennen? Sollen sie Buch darüber führen, wie viel sonntägliche Gottesdienstbesuche Mitarbeiter/ innen nachweisen können? Oder reicht es, wenn diese belegen können, dass sie in hausinternen liturgischen Feiern Präsenz zeigen bzw. aktiv daran mitgewirkt haben? Gilt es, Mitarbeiter/innen dazu zu motivieren, ihre Einrichtung mit möglichst vielen christlichen Symbolen auszurüsten? Oder ist ‚mehr christlich drin‘, wenn Leitungskräfte ihre Mitarbeiter/innen dazu anhalten, dafür zu sorgen, dass mehr Gottesdienste stattfinden? Oder sollten Leitungskräfte darauf hinwirken, dass mehr erkennbare Priester/Ordensleute durch die Gänge wandeln? Wann also ist wirklich ‚christlich drin, wenn christlich draufsteht‘? Die Frage ist relativ einfach zu beantworten: Das typisch Christliche wird spürbar, wenn in der Einrichtung Koinonia (solidarische Gemeinschaft), Martyria (spürbare Froh-Botschaft), Liturgia (gefeierte Gottesnähe) und Diakonia (kompetentes Hilfshandeln) alltagspraktisch erfahrbar werden. Auf den ersten Blick erscheinen die der altgriechischen Sprache entstammenden vier Wörter, die in kirchlichen Dokumenten zur Bezeichnung der sogenannten vier Grundvollzüge von Kirche-Sein regelmäßig Verwendung finden, extrem unverständlich, altmodisch und unzeitgemäß. Auf den zweiten Blick zeigt sich aber, dass sich hinter den umgangssprachlich ungewohnten Begriffen Hochaktuelles, ja sogar Explosives verbirgt. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, möglichst komprimiert herauszuarbeiten, wofür die Begriffe stehen und welche Konsequenzen sie für christlich motiviertes Leitungshandeln mit sich bringen.

Koinonia

Interessanterweise wird gerade dieser Grundvollzug von Kirche- Sein sowohl in theologischen als auch in kirchenamtlichen Dokumenten (auch in denen der Caritas und Diakonie) oftmals einfach weggelassen. Vielleicht eine unreflektierte Unachtsamkeit, vielleicht aber auch Absicht, denn gerade diese Dimension hat es nicht nur im Blick auf sozialkaritative Einrichtungen, sondern gerade auch im Blick auf christliche Gemeinden/ Seelsorgeräume, in denen Kleriker und Laien, Männer und Frauen alltagspraktisch eng zusammenarbeiten, weihebedingt jedoch weder die gleichen Befugnisse haben noch das Gleiche tun dürfen, ganz besonders in sich! ‚Christlich drin‘ ist, wenn Koinonia gelebt wird, d. h.,

  • wenn ein zutiefst solidarisches Mit-Einander anstelle eines uninteressierten Neben-Einander oder gar eines aggressiven Gegen-Einander den Berufsalltag prägt;
  • wenn eine Kultur des respektvollen und vertrauensvollen Füreinander spürbar wird, weshalb einander der Rücken freigehalten, schlechtes Übereinander-Reden vermieden und Mobbing-Versuche sowie teamschädigender Workaholismus achtsam wahrgenommen und im Keim erstickt werden;
  • wenn Charismen/Fähigkeiten gefördert, individuelle Begrenzungen offen ausgesprochen und gegenseitig akzeptiert werden;
  • wenn eine barmherzige Fehler- Eingeständnis-Kultur vorherrscht und konstruktive Kritik gefördert wird;
  • wenn es gelingt, dass nicht nur der eigene Arbeitsbereich, sondern das Wohl der gesamten Einrichtung bzw. des gesamten Unternehmens im Blick bleibt;
  • wenn das jesuanische Dreifachgebot (Gottesliebe + Nächstenliebe + Selbstliebe) radikal ernst genommen wird, weshalb weder Selbstausbeutung noch Fremdausbeutung toleriert werden, sondern einander Aus-Zeiten und Frei-Zeit gegönnt und ermöglicht werden.
    Leitungspersonen stehen vorbildhaft dafür ein, eine Koinonia- Kultur zu ermöglichen, die nicht nur Mitarbeiter/innen, sondern auch Patient/innen, Bewohner/innen, Klient/innen, deren Angehörigen und Besucher/innen sowie ehrenamtlich Engagierten das Gefühl vermittelt, dass es ‚hier spürbar anders zugeht‘ als in säkular geprägten Einrichtungen.

 

Martyria

Häufig wird mit dem Begriff Martyria ein verbales, öffentlichkeitswirksames, zeugnis- und predigthaftes Bekennen zum christlichen Glauben assoziiert. Im Kern geht es jedoch um die simple Fragestellung, ob in der Einrichtung zumindest etwas von der typisch christlichen Froh-Botschaft (Evangelium) spürbar wird. Wird also in Leitbildern nur folgenlos behauptet, dass der Mensch Jesus, der seinen Mit-Menschen vor über 2000 Jahren zum Anfassen nahe kam, tatsächlich der von den Juden erwartete Messias, d. h. der Erlöser wirklich aller Menschen ist, weshalb alle Menschen ohne zu erbringende Vor- und Gegenleistung nicht nur so wie sie sind von Gott akzeptiert und geliebt sind, sondern durch die Auferweckung Jesu von den Toten mit-erlöst, d. h. in eine unaufhaltsame universale Heilsgeschichte eingebunden sind, oder hat dies auch alltagspraktische Folgewirkungen? Wenn Letzteres gilt, dann ist ‚christlich immer dann drin‘,

  • wenn es in Einrichtungen gelingt, dass trotz aller Not, Krankheit und des individuellen Sterbenmüssens, trotz aller momentan unlösbaren strukturellen Probleme, Ungerechtigkeiten und Arbeitsüberlastung zumindest etwas von der Frohen Botschaft, d. h. ein wenig ‚Leben in Fülle‘ und Hoffnung (selbst über den Tod hinaus) spürbar ist;
  • wenn aufgrund dessen, dass alle Menschen mit-erlöst sind, niemand (d. h. auch keine Mitarbeiter/innen) in der Einrichtung wegen seines (Nicht-)Glaubens, seiner kulturellen Herkunft oder Hautfarbe benachteiligt wird;
  • wenn ausstrahlende Lebensfreude, Humor und Lachen nicht nur mehr oder minder geduldet, sondern aktiv gefördert werden, weshalb das Arbeitsklima nicht von einer depressiv eingefärbten (kollektiven) Klage- und Jammer- Kultur, die dem Burn-out-Syndrom Vorschub leistet, geprägt ist;
  • wenn die Froh-Botschaft, dass Jesus der Christus/Erlöser aller Menschen ist, dazu führt, dass der Arbeitsalltag trotz aller Ressourcenknappheit entgegen dem vorherrschenden Zeit-Geist von einer wahrnehmbaren Gelassenheit, Ent- Schleunigung, Ent-Hektigung und Ent-Stressung geprägt ist;
  • wenn in der Einrichtung darauf geachtet wird, dass christliche Symbole (Kreuze, Heiligenfiguren, Bilder etc.) sowohl den Insidern als auch den Outsidern etwas von der typisch christlichen Froh-Botschaft und keine Droh-Botschaft oder düstere Leidensverherrlichung vermitteln;
  • wenn sich die Froh-Botschaft in den favorisierten Werten der Einrichtung niederschlägt, so dass christliche Werte/Grundhaltungen nicht nur in Leitbildern beschworen werden, sondern sich sowohl im alltäglichen zwischenmenschlichen Umgang widerspiegeln, als auch die Auswahl von Managementmodellen und die Erstellung von Qualitätskriterien mitbestimmen.
    Leitungspersonen stehen vorbildhaft dafür ein, eine Martyria- Kultur zu ermöglichen, die nicht nur Mitarbeiter/innen, sondern auch Patient/innen, Bewohner/innen, Klient/innen, deren Angehörigen und Besucher/innen sowie ehrenamtlich Engagierten das Gefühl vermittelt, dass die gesamte Einrichtung die ansteckende typisch christliche Froh-Botschaft ausstrahlt.

Liturgia

Dass Liturgia häufig mit ‚Gottesdienst‘ gleichgesetzt wird, ist keine Seltenheit. Faktisch wird damit jedoch eine unzulässige Verkürzung vorgenommen. Liturgia umfasst nämlich weitaus mehr als nur die Feier des Gottesdienstes, der kirchenrechtlich ein Priester vorzustehen hat. Liturgia geschieht immer dann, wenn ein Frei-, Zwischen-, Spiel- und Feierraum für Gotteserfahrungen eröffnet wird, so dass sich die Gegenwart Gottes heilsam auf alle Menschen, die sich in der Einrichtung aufhalten, auswirken kann. ‚Christlich drin‘ ist somit immer dann,

  • wenn tatsächlich damit gerechnet wird, dass Gott als Heiliger Geist in der Einrichtung längst präsent ist, weshalb er in vielfältigen liturgischen Feier-Möglichkeiten als Kraftquelle für den Arbeitsalltag, für das eigene Über- und Weiterleben sowie für das Loslassen des eigenen Lebens erspürt werden kann;
  • wenn die Innovationskraft des Heiligen Geists ernst genommen wird, weshalb nicht nur im Blick auf das gesamte Einrichtungsmanagement, sondern gerade auch im Blick auf die Gestaltung liturgischer Feiern folgender Grundsatz beherzigt wird: „Bewährtes bewahren und Neues wagen“;
  • wenn geschützte Räume eröffnet werden, wo Mitarbeiter/innen und Leitungskräfte zwanglos und ohne Angst vor möglichen Sanktionen, aber auch ohne Aussicht auf Belohnung es wagen, sich sowohl über eigene spirituelle Fragen und Zweifel, über ihren Glauben und Unglauben auszutauschen, als auch kritische Anfragen an christliche Kirchen zuzulassen;
  • wenn das christliche Gottesund Menschenbild nicht nur in Leitbildern abgeheftet wird, sondern miteinander in verständlichen Worten darüber gesprochen und alltagspraktische Konsequenzen (z. B. Stellenwert von Gesundheit; Akzeptanz von Sterben-Müssen) gemeinsam überdacht werden;
  • wenn es gelingt, auch in anderen Konfessionen/Religionen Gottes Spuren zu entdecken, so dass Christ/innen und Nicht-Christ/innen auf der Basis gegenseitigen religiösen Respektes Hand in Hand glauben und arbeiten können.
    Leitungspersonen stehen vorbildhaft dafür ein, eine Liturgia- Kultur zu ermöglichen, die nicht nur Mitarbeiter/innen, sondern auch Patient/innen, Bewohner/innen, Klient/innen, deren Angehörigen und Besucher/innen sowie ehrenamtlich Engagierten das Gefühl vermittelt, dass religiöse Themen nicht tabuisiert oder an den Rand gedrängt sind, sondern den Einrichtungsalltag bis in eine gemeinsame Feier-Kultur hinein mitbestimmen.

Diakonia

Seit dem 19. Jahrhundert ist Diakonia v. a. im Ordenskontext häufig als selbstaufopfernder ‚Liebes-Dienst‘ ideologisch überhöht worden. Eine Rück-Besinnung auf das Leben und die Lehre Jesu macht jedoch schnell deutlich, dass Jesus Menschen zugemutet und auch zugetraut hat, sich durch zupackende ‚diaconia‘, d. h. durch aktiven selbstbewussten Einsatz für das Wachsen von ‚Reich Gottes‘ (mehr Gerechtigkeit, Notbeseitigung, Solidarität, Barmherzigkeit, Frieden, Lebensfreude, Heilung, Schmerzlinderung etc.) sich hier und jetzt auf Erden auf relativ unspektakuläre Art und Weise in seine Nachfolge zu stellen. ‚Christlich drin‘ ist somit immer dann,

  • wenn alle Leitungskräfte sowie alle professionellen und ehrenamtlich engagierten Mitarbeiter/innen dazu beitragen, dass Menschen in der Einrichtung kompetent und effizient geholfen wird, wobei die Wörter Gott, Glaube oder Kirche überhaupt nicht fallen müssen;
  • wenn zugleich akzeptiert wird, dass ‚Reich Gottes‘ auf Erden immer nur anbrechen, aber nie mit menschlichen Mitteln vollendet werden kann, weshalb trotz aller Anstrengungen handlungsbegrenzend einzugestehen ist, dass nicht alles, was z. B. medizintechnisch möglich wäre, auch gemacht werden muss;
  • wenn interdisziplinär eine ganzheitliche Versorgung angezielt wird, die auch die Einbeziehung professioneller und ehrenamtlicher Seelsorger/ innen als Mehr-Wert für die Einrichtung insgesamt voraussetzt;
  • wenn Ethik-Kommissionen nicht nur formal eingesetzt werden, sondern auch regelmäßig tagen und effiziente Arbeit leisten;
  • wenn Wirtschaftlichkeit und damit die Zukunftsfähigkeit der Einrichtung bzw. des gesamten Unternehmens sichergestellt wird.
    Leitungspersonen stehen vorbildhaft dafür ein, eine Diaconia-Kultur zu ermöglichen, in der professionell, kompetent und effizient unter Beteiligung diverser Berufsgruppen geholfen und zugleich die Zukunftsfähigkeit der Einrichtung sichergestellt wird.

Christlich leiten

Einrichtungen in christlicher Trägerschaft werden dann christlich geleitet, wenn Koinonia, Martyria, Liturgia und Diakonia nicht ignoriert oder gegeneinander ausgespielt werden, sondern gleichwertig zum Zuge kommen. Christlich leiten erfordert Leiter/innen, die trotz aller kritischen Anfragen und Zweifel dennoch im christlichen Glauben verwurzelt sind und ihre Mitarbeiter/ innen für die christliche Weltsicht begeistern wollen. Christlich leiten erfordert keine Einzelkämpfer/ innen, sondern Team-Player/innen, die damit leben können, dass die christlichen Kirchen gegenwärtig unter einem enormen Glaubwürdigkeits- und Ressourcenverlust leiden, und die dennoch daran festhalten, dass der christliche Glaube noch immer Bedeutung für heutige Menschen und ganze Einrichtungen haben kann. Christlich leiten erfordert Traditionsverwurzelung, Mut und Innovationswillen. Christlich leiten macht Spaß. Christliche Leiter/innen stehen im Sinne von Papst Franziskus vor der Herausforderung, sowohl Christ/innen auch Nicht-Christ/innen dazu zu ermutigen, kreativ und wagemutig neue Wege zu gehen.

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