Franz-Xaver Kaufmann hat kürzlich daran erinnert, dass Soziologen „das Risiko der Diagnose“ tragen, nicht jedoch „das Risiko des Handelns“. Die mit unserem Thema befassten sozialwissenschaftlichen Disziplinen haben sich ihrem Risiko längst gestellt und sind den sich schnell verändernden Realitäten ständig eng auf den Fersen geblieben. Ihre Diagnose lautet zusammengefasst: „Familie und Ehe im Wandel!“ und darf als vollständig – wenn auch natürlich noch nicht als abgeschlossen – gelten. Ist dann aber nicht alles schon kompetent gesagt, was zu diesem Thema gegenwärtig Wichtiges zu sagen ist?
Die entscheidenden Tatsachen sind jedenfalls offenkundig. Das über lange Zeit geltende klassische Bild der Familie zeigte die beiden in der Regel ehelich verbundenen Eltern und ihre leiblichen oder adoptierten Kinder. Die ‚Ein-Kind-Familie‘ war statistisch eher die Ausnahme, und ‚Alleinerziehende‘ waren oft frühzeitig verwitwet. Heute finden sich dagegen neben dem deutlich kleiner gewordenen Kreis der diesem Bild entsprechenden Familien auch viele andere, ganz unterschiedliche Konfigurationen, die ebenfalls als Familie bezeichnet werden, dies gesellschaftlich auch beanspruchen und vom Staat zunehmend in seine familienrechtlichen und familienpolitischen Aktivitäten einbezogen werden. Dass eine Ehe geschlossen worden ist, wird nicht mehr als eine sich von selbst verstehende Voraussetzung für das Vorhandensein von ‚Familie‘ angesehen.
Auch beim Blick auf die Ehe selbst sind Veränderungen einschneidender Art zu konstatieren. Die Mahnung des Thomas von Aquin, dass ‚klares Denken mit klaren Begriffen‘ beginnt, fällt gerade hier zunehmender Nichtachtung anheim. Die so herrschenden Begriffsverwirrungen als eine Tatsache festzustellen, ist aber notwendiger Teil der Diagnose und sollte weder in objektiver noch in subjektiver Hinsicht als Verletzung, Ausgrenzung oder Diskriminierung verdächtigt werden. Begriffliche Klarheit ist im Gegenteil eine unverzichtbare Voraussetzung, wenn es darum geht, Unterschiedenem nach gleichen Maßstäben dort Gerechtigkeit zu verschaffen, wo es offensichtlich bisher an ihr fehlt.
Die Minderung des Ansehens und der Hochschätzung, die das Institut der Ehe erlitten hat und weiter erleidet, ist aber als solche zu offensichtlich, als dass es noch weiterer Beschreibung bedürfte. Der Begriff der Ehe ist zu einem ‚Spielball der Beliebigkeit‘ geworden, und die Ehe selbst kann ohne erkennbaren öffentlichen Widerspruch in Medien als „auslaufendes Modell“ bezeichnet werden.
Am Rande vermerkt: Unser Grundgesetz stellt vielleicht nicht ganz zufällig „Ehe und Familie“ in einem Atemzug „unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“, auch wenn die gesetzesrechtlichen Folgerungen, die sich aus diesem besonderen Schutz ergeben müssen, naturgemäß unterschiedlich sind.
Vom ‚Risiko der Diagnose‘ zum Risiko des Handelns
Selbst wenn zu jener Diagnose „Familie und Ehe im Wandel!“ alles Notwendige schon gesagt sein sollte, haben es doch noch nicht alle auch mit der gleichen Intensität und mit der gleichen Intention gesagt. Das ist zuletzt auch bei der von Papst Franziskus einberufenen Außerordentlichen Bischofssynode der katholischen Kirche in Rom erkennbar geworden. Der Versammlung war aufgegeben, eine Bestandsaufnahme der immer dringlicher werdenden Anfragen an die Ehe- und Familienpastoral der katholischen Kirche zu erarbeiten und mögliche Antworten auf diese Fragen zu diskutieren. Auf dieser Grundlage soll dann – so sieht es das Gesamtkonzept des Papstes vor – ‚der Dialog‘ in der ganzen Weltkirche weitergeführt werden, bevor eine weitere Bischofssynode im Herbst des Jahres 2015 zu den besonders umstrittenen Fragen konkrete Antworten geben und nach Möglichkeit einvernehmlich Entscheidungen erarbeiten soll.
Im vergangenen Oktober fielen da freilich zwischen einem nach der ersten Sitzungswoche veröffentlichten ‚Zwischenbericht‘ und dem ‚Abschlussprotokoll‘ eine Woche später erhebliche Unterschiede ins Auge. Das ist weltweit aufmerksam vermerkt worden. Nahezu alle Kommentatoren erkannten im Zwischenbericht eine deutlich stärkere Bereitschaft zu möglichst realistischer Beurteilung der tatsächlichen Lage und zu neuen Überlegungen als in dem nur eine Woche später veröffentlichten Abschlussprotokoll. Vor allem hatten einige der in der vorausgegangenen weltweiten Befragung bereits als besonders brisant gekennzeichneten Teilthemen, die im Zwischenbericht ausdrücklich erwähnt worden waren, nun plötzlich keine Berücksichtigung mehr gefunden. Das eröffnete natürlich breiten Spielraum für inhaltliche und auch personenbezogene Spekulationen.
Die überprüfbaren Sachverhalte ermöglichen aber immerhin eine Zwischenbilanz. Eine deutliche Mehrheit der bischöflichen Synodalen anerkennt als Faktum, dass zwischen der Lehre der Kirche in Fragen von Ehe und Familie und dem Denken und den Überzeugungen großer Teile des katholischen Gottesvolkes eine tiefe Kluft entstanden ist, ohne deren Überbrückung weiterer Schaden für die Kirche droht. Diese Mehrheit will offenbar durchaus an der traditionellen Lehre der Kirche insbesondere in Bezug auf die Unauflöslichkeit der sakramental geschlossenen Ehe festhalten. Aber sie sucht erkennbar nach Möglichkeiten, diese Lehre „weiterzuentwickeln“ (Reinhard Kardinal Marx), und ist bereit, die bisher aus ihr abgeleiteten Folgerungen, insbesondere im Hinblick auf Geschiedene, die wieder geheiratet haben, kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls auch zu ändern.
Ihr steht bisher eine Minderheit gegenüber, die sich insbesondere in der zweiten Sitzungswoche vernehmlich zu Wort gemeldet hat. Sie scheint sich unter der Forderung „In der Wahrheit bleiben!“ zu versammeln, wie sie wenige Tage vor dem Beginn der Synode in einer Buchpublikation von fünf Kardinälen erhoben worden ist. Zu ihnen gehören auch die deutschen Kurienkardinäle Gerhard Ludwig Müller und Walter Brandmüller. Hier wird vor jeder Veränderung der traditionellen Lehre gewarnt. In den von Papst Franziskus angeordneten getrennten Abstimmungen über die 62 Abschnitte des Abschlussprotokolls blieb diese Gruppe zwar deutlich in der Minderheit, erreichte jedoch in einigen Fällen die ‚Sperrminorität‘ von einem Drittel der Stimmen.
Entscheidungshandeln – trotz unvollständiger Information?
Wer als im kirchlichen Diskurs nicht ganz unerfahrener Laie dies alles bedenkt, wird zunächst daran erinnern, dass die heute vermeintlich schon vollständig erkannten alten Probleme aller Erfahrung nach bereits morgen neue geboren haben, wenn man ihrer Lösung nicht heute noch wenigstens einen Schritt weit näherkommt. Mit anderen Worten: Jedes menschliche Entscheiden geschieht letztlich auf der Grundlage unvollständiger Informationen. Es ist immer ein Wahlhandeln, das mit einem Rest von Ungewissheit belastet ist. Von dem im engeren Sinne politischen Handeln ist einmal geradezu klassisch gesagt worden, es sei geprägt von ‚der Freiheit und der Not des Entscheidens auf der Basis unvollständiger Information in eine zum Teil verhüllte Zukunft hinein und mit Wirkung für ein soziales Ganzes‘. Auch wenn wir stets zu akzeptieren versuchen, dass ‚Gottes Mühlen langsam mahlen‘, existiert die Institution Kirche dennoch im Diesseits und kann sich folglich gewissen irdischen Gesetzmäßigkeiten nicht entziehen.
Auch die auffordernde Losung „In der Wahrheit bleiben!“ lässt den Laien nachdenklich werden. Muss, wer so zu anderen spricht, nicht eigentlich selbst fest und ohne jeden Rest von Zweifel überzeugt sein, selbst in der Wahrheit – und ihrer also auch schon vollständig habhaft geworden zu sein? Sind wir aber als Menschen auf dieser Welt nicht schon froh, wenn wir selbst ‚bei der Wahrheit‘ bleiben können, derer wir bereits teilhaftig geworden sind, weil sie uns mitgeteilt wurde? Ist es nicht gerade diese Teilhabe, die uns im Glauben wissen lässt, dass wir die ganze Wahrheit erst später noch erfahren werden?
Wir tragen alle das Risiko des Nichthandelns
Zumindest ist wohl zu befürchten, dass von jener Ausgangsposition her der Weg zu einer konstruktiven und überzeugenden Weiterentwicklung der Lehre und der pastoralen Praxis nicht leicht gefunden werden kann. Angesichts der offensichtlich wieder heraufziehenden Auseinandersetzungen ist es deshalb auch uns Laien geradezu verwehrt, sich weiterhin nur in Geduld zu üben und immer wieder zu hören, dass die Probleme sehr ernst genommen werden und bei der nächsten Gelegenheit über sie mit Vorrang und intensiv beraten werden soll. Kann Geduld auch aufhören, eine Tugend zu sein?
Kein anderes Aufgabenfeld der Pastoral ist seit mehr als vier Jahrzehnten in unserem Lande und anderswo so oft bedacht und kritisch befragt worden wie das von Ehe und Familie. Und wir alle haben – wie sicher auch alle unsere Bischöfe – mit Besorgnis und Traurigkeit die Kluft ständig wachsen sehen, die sich seit „Humanae Vitae“ zwischen der Lehre unserer Kirche und der Lebenswirklichkeit so vieler ihrer Mitglieder aufgetan hat. Die jährlichen Austrittszahlen tragen dazu bei, die wachsenden Notstände wenigstens im Bewusstsein zu halten.
Als Laien haben wir zwar in unserer Kirche kaum je jenes Risiko des Handelns zu tragen, wie es sich mit der konkreten Freiheit und Not direkten Entscheidens mit Wirkung für die ganze Kirche zwangsläufig verbindet. Aber im Falle einer Fehlentscheidung, auf welcher Ebene sie auch gefallen sein mag, fühlen wir uns dennoch in Mithaftung genommen, weil wir an den Folgen mitzutragen haben. Das Risiko eines Nicht-Handelns bleibt uns aber in jedem Falle – zumal wenn unser Schweigen den Entscheidungsträgern eine ausdrücklich erbetene Antwort vorenthält.
Natürlich ist es notwendig, mutig neue Wege der Vorbereitung auf die Ehe zu suchen und die für ihr Gelingen bedeutsamen Themen und Fragen der Lebenswirklichkeit angemessen und frei zu erörtern. Natürlich ist es wichtig, die jungen Ehen zu begleiten, ihren Kinderwunsch zu ermutigen, sie insgesamt zu unterstützen und zu selbstverantwortetem Handeln zu ermuntern. In vergleichbarer Weise muss auch den Familien in allen ihren gegenwärtigen Erscheinungsformen jede mögliche pastorale Hin- und Zuwendung zuteilwerden.
Aber dies alles würde mit dem Risiko des Leerlaufens behaftet bleiben, wenn nicht unverzüglich auf wenigstens einige der konkreten mit dem Thema „Ehe und Familie“ verknüpften Probleme und Nöte, die seit langem in der Diskussion sind, klare und vom Geist der Achtung und der Liebe getragene Antworten gegeben werden – Antworten, die von allen Gutwilligen verstanden werden können und bei Nachfragen nicht unter Begründungsnotständen leiden.
Zu diesen nicht länger aufschiebbaren Aufgaben gehört die Entscheidung, Geschiedenen, die wieder geheiratet haben, die Zulassung zu den Sakramenten nicht mehr zu verwehren, wenn sie diese in ernsthafter Weise begehren. Die Plausibilität der für die Verweigerung dieser Heilsmittel angeführten Begründungen wird von theologisch kompetenter Seite seit langem nachhaltig in Frage gestellt, und manches aus diesem Kapitel der Lehre ist auch den glaubensbereiten Mitgliedern des Gottesvolkes kaum noch vermittelbar.
Ebenso wenig wird angesichts so vieler Bekenntnisse zur Ökumene verstanden, was immer noch gegen eine Einladung evangelischer Christen in konfessionsverbindenden Ehen zur Teilnahme am eucharistischen Mahl eingewendet wird, wenn diese sich das wünschen und in ihrem Gewissen dazu berechtigt erachten. Und schließlich bleibt ein deutliches Zeichen dieser Synode notwendig, dass sie bereit ist, das Verhältnis der katholischen Kirche zur Homosexualität und vor allem zu den Menschen, deren Geschlechtlichkeit in dieser Weise geprägt ist, von Grund auf fair, respektvoll, klar und im Geiste von Liebe und Gerechtigkeit neu zu klären.