Ich erinnere mich an eine Situation in meinem Leben, in der ich innerlich sehr aufgewühlt, traurig, verzweifelt war. Eine Freundin, mit der ich darüber sprach und die sehr bald spürte, wie es in mir aussah, bot mir an, meinen Kopf in ihre Arme zu legen und machte es mir auf diese Weise leichter, meine Tränen fließen zu lassen, mich auszuweinen, zu schluchzen und so im Weinen meine ganze Trauer zuzulassen und auszusprechen. Ich erinnere mich deshalb so gut an dieses Ereignis, weil ich erfahren durfte, wie befreiend und heilend es sein kann, wenn ich meinen Schmerz, meine Trauer, meine Tränen zulassen darf.
Ich erinnere mich, wie ein Seelsorger am Grabe eines tödlich verunglückten 20-jährigen Jungen sagte, dass der Christ angesichts dieser Situation nicht trauere, da er ja wüsste, dass es ein Leben nach dem Tode gibt. Ich konnte es nicht glauben, dass jener Seelsorger so leichthin über die menschliche Situation hinwegreden konnte und das im Angesicht der zutiefst erschütterten Eltern, Verwandten und Freunde. Dabei bedurften sie sehr wohl seines Trostes, auch der Zusage, dass der Junge bei Gott aufgehoben ist. Doch zugleich bedurften sie der Erkenntnis, ja der Aufforderung, ihre Trauer zuzulassen. Zuzulassen, dass der Verlust des geliebten Kindes, Bruders, Enkels, Neffen, Freundes wirklich zutiefst in ihr Herz hineinschneidet, sie schier umbringt, sie zutiefst aufwühlt. Denn erst wenn die Trauer zugelassen wird, besteht die Aussicht, dass der Junge mit der Zeit wirklich losgelassen wird, wirklich sterben darf, um schließlich seinen Platz in den Herzen derer, die ihn über alles lieben, zu erlangen. Erst aus dem menschlichen, schmerzvollen Durchleben der Trauer erwachsen die auch menschlich spürbare Gewissheit und der echte Trost, dass er bei Gott seinen Platz gefunden hat.
Durch die Psalmen der Seele eine Stimme geben
Nach meinen Erfahrungen bieten sich die Psalmen für Menschen, die trauern, als eine ausgezeichnete Möglichkeit an, den Trauerprozess zuzulassen und zu fördern. Die Psalmen können, herzhaft gesprochen und gebetet, zunehmend bei dem Trauernden das Gespür entwickeln, in all dem verstanden zu werden, was sie ganz tief verborgen und für sich selbst noch nicht ganz verständlich, empfinden. Sie können der Seele und dem, was die Seele empfindet, eine Stimme geben. Sie sind dann selbst wie ein einfühlsamer Begleiter, der mit den Menschen klagt, flucht, fleht, schreit, der beschwerten und erstarrten Seele zum Weinen und Schluchzen verhilft, damit sie sich schüttelt und dabei auch ihren Schmerz und ihre Verzweiflung ausschüttet, um mit der Zeit wieder den Anschluss ans Leben herbeizuführen.
Die Psalmen können aber auch so etwas wie ein Vorbild und Modell dafür sein, wie man trauernde Menschen begleitet. Wie die Psalmen, wenn ich mich auf sie einlasse, es mir erleichtern, mich einfach fallen zu lassen, so sollen diejenigen, die Trauernde begleiten, Menschen sein, die mit der Art ihrer Anwesenheit dazu beitragen, dass Menschen sich in der Begegnung mit ihnen fallen lassen können, sich so zeigen können in ihrer Trauer, wie sie es empfinden. Entscheidend ist, dass sie dem Trauernden signalisiert, du kannst mit allem kommen, was dich bedrängt, was dich traurig macht, und der Trauernde dabei die Erfahrung macht, verstanden zu werden. Ja, die Begegnung mit dem Begleiter soll ihm helfen, mit der Trauer in Berührung zu kommen, eventuell bisher noch nicht zugelassene Trauer endlich zuzulassen.
Ob die trauernde Person sich wirklich ganz aussprechen kann, wird auch davon abhängen, wie viel Offenheit und Weite die Begleiterin ausstrahlt. Es wird auch davon abhängig sein, ob der trauernde Mensch spürt, dem darf ich mich in meiner ganzen Trauer, dem ganzen Ausmaß in meiner Trauer zumuten. Für die Begleiter heißt das auch, dass sie sich mit der eigenen Trauer zuvor auseinandergesetzt haben und sich durch die eventuelle Heftigkeit, in der der trauernde Mensch seine Trauer äußert, nicht überfordert fühlt. Wenn ich aus eigener Erfahrung weiß, dass es wichtig ist, die Trauer in ihrer ganzen Intensität zuzulassen und dies die Voraussetzung dafür ist, um auch wieder Freude am Leben finden zu können, werde ich in der Art und Weise, wie ich auf die Trauer der ratsuchenden Person reagiere, ermutigend wirken, die Trauer zuzulassen.
Trauernde fühlen sich oft, wie wenn sie eine große Wunde wären. Sie fühlen sich ungeschützt, besonders verletzbar, krank, angeschlagen und schwach. Ihre Wunde ist ein unübersehbares Zeichen, aber auch ein Signal dafür, dass der normale Rhythmus unterbrochen worden ist, dass irgendetwas einer besonderen Aufmerksamkeit und Berücksichtigung bedarf. Sie können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Genau das trifft auch auf die Trauer zu. Sie kann nicht einfach übergangen, gar unterdrückt oder verharmlost werden. Geschieht das, wird das mit der Trauer so sein, wie mit einer Wunde, die nicht heilt oder nicht schön heilt, die immer wieder aufbricht, eitert oder gar anhaltend schlimmer wird.
Einfach da sein
So wollen Trauerbegleiter, unter ihnen auch der Seelsorger und die Seelsorgerin, dass Menschen zu ihrer Trauer stehen. Sie möchten nicht billig über die Trauer hinwegtrösten. Sie möchten bei den Menschen sein und, wie das für die Seelsorge typisch ist, in einer befristeten Partnerschaft mit ihnen durch diese schwierige Zeit hindurchgehen. Die Menschen, die zu ihnen kommen, sollen wissen, dass sie, wenn sie ihre Trauer zulassen, nicht alleine gelassen werden, sondern dass sie im Seelsorger und in der Seelsorgerin jemanden haben, der bei ihnen ist, der sie begleitet. Er geht mit ihnen den Weg in die Tiefe, ermutigt, bestärkt sie, schenkt ihnen seine Annahme und Nähe und trägt manche Last mit ihnen. Er ist in all dem so etwas wie das zu Fleisch gewordene Wort Gottes. Durch ihn kommt die Zusage Gottes, dass er da ist, beisteht und seine Nähe schenkt, zum Ausdruck. Das gilt in besonderer Weise auch für die Begleitung von Sterbenden.
„Ich liebe dich“, sagt der junge Mann, HIV-positiv, der Ordensfrau, die ihn in einem Hospiz betreut. Sie antwortet darauf: „Ich liebe dich auch.“ Ich spüre, als mir die Ordensfrau das sagt, dass sie es so meint und diesen Menschen wirklich liebt. Sie ist da, um ihm zu sagen: Du darfst mit mir rechnen. Ich bin bei dir bis zu deiner letzten Stunde. Und ich bin gerne bei dir.
Ich bin mir bewusst, dass das sehr ideal klingt und es auch nicht immer einfach ist bei Sterbenden auszuharren, mit Sterbenden den letzten Weg zu gehen. Doch vor allem Sprechen, vor allen Ritualen, ist gerade in der Begleitung von sterbenden Menschen und dann auch in der Seelsorge für sterbende Menschen entscheidend, dass der Seelsorger und die Seelsorgerin sich Zeit nehmen, einfach da sind, bei dem Menschen, der stirbt, aushalten. Das ist allein schon Ausdruck von Seelsorge unabhängig von dem Wort, das der Seelsorger zu dem Sterbenden spricht, unabhängig von dem Ritual, das er vollziehen mag. Da gibt es einen Mann oder eine Frau, die Zeit haben für den sterbenden Menschen. Die einfach für ihn da sind. Das ist in sich ein Geschenk. Da wird Gottes Liebe für den sterbenden Menschen konkret.
Laura berichtet davon, wie sie einen 91-jährigen alten Mann die letzte Stunde seines Lebens begleitete. Keiner der Verwandten, die weit entfernt lebten, konnte in den letzten Stunden da sein. Sie war die Einzige, die diese Stunden mit ihm verbrachte. In diesen vier Stunden hielt sie dem alten Mann immer wieder seine Hände, streichelte ihn, berührte ihn, sang ihm Lieder vor, betete mit ihm. Es war eine dichte, erfüllte Zeit. Eine Zeit, in der sie ganz bewusst anwesend, präsent war, ganz da war für diesen alten Mann. Welch ein Segen für diesen alten Mann, welch ein schönes Ausklingen aus dem Erdendasein. Wenn das nicht eine sakramentale Erfahrung war! Eine Erfahrung, bei der die Nähe Gottes, seine Nähe, durch einen Menschen so dicht und unmittelbar spürbar war.
Das erinnert mich an meine Mutter, die einige Jahre in einem Altersheim arbeitete. Sie erzählte mir immer wieder, wie sie Menschen, die im Sterben lagen, in den letzten Stunden begleitete, an ihrem Bett ausharrte. Mit ihnen betete, ihnen alt vertraute Lieder vorsang, in ihrer Anwesenheit den Rosenkranz betete. Dabei war es für sie auch immer wieder wichtig, den Sterbenden zu berühren, über die Backen zu streicheln, liebevolle, zärtliche Worte zuzusprechen. In der Begleitung des sterbenden Menschen wird der Seelsorger jemand sein, der die Grausamkeiten und die Tragik, die mit dem Sterben und dem Tod einhergehen, nicht übersieht. Er übersieht aber auch nicht die schöne Seite des Sterbens und des Todes. Der Tiefenpsychologe C. G. Jung schreibt: „Von außen gesehen und solange wir außerhalb des Todes stehen, ist er von größter Grausamkeit. Aber sobald man darin steht, erlebt man ein so starkes Gefühl von Ganzheit und Frieden und Erfüllung, dass man nicht mehr zurückkehren möchte.“ Der Seelsorger kann helfen, dass der Sterbende den Übergang vom Leben in den Tod gut hinbekommt, Er kann dazu beitragen, dass der sterbende Mensch die letzte Aufgabe der Bewährung, die ihm gestellt ist, würdevoll vollzieht, nämlich sich rechtzeitig, so C. G. Jung, der Enge der Umarmung des Köpers zu entziehen und die Seele in die Vision der ungeheueren Größe der Welt der Ewigkeit zu entlassen. Hier kann die Seelen-Arbeit noch einmal eine ganz eigene Qualität bekommen. Der Seelsorger, die Seelsorgerin können helfen, sich von dem, was war, zu verabschieden. Sie können den Sterbenden vorbereiten auf das, was kommt.
Die Seelsorge bleibt nicht beim Sterbenden stehen. Sie zeigt sich auch in der Art und Weise, wie Seelsorger und Seelsorgerinnen tote Menschen begraben. Mir bricht es fast das Herz, wenn ich an der Beerdigung eines mir nahestehenden Menschen teilnehmen und miterleben muss, wie herz- und seelenlos „die ganze Sache“ abläuft. Es ist für mich ein Gebot der Achtsamkeit, dass man sich würdevoll von einem Menschen verabschiedet. Die Form, der Ritus, müssen in der Weise ihres Vollzuges diese Würde widerspiegeln. Unsere Seele verlangt danach, sich in diesen Formen und Ritualen mit ausschwingen zu können: im Beten, Singen, Gedenken; dem Augenblick, in dem der Sarg langsam dem Schoß der Erde überlassen wird – das Hineinwerfen von einigen Klumpen Erde in das offene Grab – die letzte Verneigung vor dem Toten, ein letztes Farewell.
Die kleine dreijährige Franziska geht bei der Beerdigung ihrer Oma in dem Moment nach vorne hin zum Grab, als der Sarg in die Grube gesenkt wird. Die Gemeindreferentin, die die Tote in ihrem Sterben begleitet hat und die kleine Franziska kennt, neigt sich herab zu ihr und sagt ihr, es ist so, wie wenn die Oma sich zu Bett begibt. Franziska sagt der Oma ein „Tschüss“. Später, als die Trauergäste Erde in den Sarg werfen, kommt Franziska wieder nach vorne. Die Gemeindreferentin flüstert ihr zu, dass das heute der Geburtstag der Oma sei und fragt sie, ob sie zusammen der Oma ein Lied zum Geburtstag singen sollen. Die kleine Franziska schlägt vor, das Lied „Zum Geburtstag viel Glück“ zu singen. Die Gemeindereferentin beginnt zunächst leise mit ihr das Lied zu singen. Immer mehr der Anwesenden stimmen mit ein, bis schließlich alle immer lauter werdend miteinander singen: „Zum Geburtstag viel Glück“.