Das 20. Jahrhundert hat das Problem des Gehorsams auf die Spitze getrieben. Zwischen Sophie Scholls Satz „Es fallen so viele Menschen für dieses Regime. Es wird Zeit, dass jemand dagegen fällt“ und der Bereitschaft der Mehrheit des deutschen Volkes und seiner Eliten, Hitler bis in den Untergang zu folgen, öffnet sich eine verstörende offene Wunde. Das Gewissen ist der Ort, an dem diese Wunde schmerzt.
Seither wurde es eher noch komplizierter. Denn moderne liberale Gesellschaften stellen auf neue Steuerungs-, also Gehorsamsmechanismen um, und spätmoderne Gesellschaften treiben das auf die Spitze. Schon die klassische Moderne setzte – zumindest grundsätzlich – frei gegenüber vielen Gehorsamsverpflichtungen, die in vormodernen Gesellschaften noch selbstverständlich waren und die Biographien unserer Vorfahren bestimmten: den ständischen und religiösen Bindungen, den Bindungen an Ort, Familie, Beruf und Geschlechterrolle. Alle diese Verpflichtungen wurden übrigens nicht zuletzt religiös begründet.
Die Moderne setzt demgegenüber immer mehr auf die Steuerungsmechanismen Recht, Geld und neuerdings elektronische Überwachung, mithin auf den demokratischen Verfassungsstaat, den flexiblen Kapitalismus und die digitale Globalisierung. Diese drei haben eines gemeinsam: Sie lösen die Gehorsamsproblematik, indem sie versuchen, sie gar nicht erst auftreten zu lassen.
Das Recht ist in demokratischen Staaten mehrheitlich beschlossen und grundsätzlich von allen anerkannt, also folgen wir uns selbst, wenn wir ihm folgen. Der Kapitalismus steuert nicht mehr über die Differenz von fremdem Willen und eigenem Willen, sondern über die Steuerung des Willens selbst: Er führt – oder verführt – den Willen der Individuen über konsumbasierte Glücks- und Statusversprechen. Und auch die globale digitale Überwachungsmaschinerie setzt an unseren eigenen Sehnsüchten nach globaler Dauerpräsenz und permanenter Kommunikation an, eine Maschinerie, die offenkundig darauf aus ist, die elektronischen Spuren alles Verhaltens aller Menschen permanent zu screenen und zu speichern, um die Abweichungen vom Erlaubten frühzeitig erkennen zu können und/oder wirtschaftlichen Profit daraus zu ziehen. Diese neueren Herrschaftsmechanismen arbeiten mit und an unserem Willen, nicht gegen ihn.
Gehorsamsmodell der katholischen Kirche
Demgegenüber wirkt das offiziell propagierte Gehorsamsmodell der katholischen Kirche ein wenig von gestern. Es ist auch von gestern, denn die neueren Steuerungsmechanismen stehen der Kirche schlicht nicht wirklich zur Verfügung. Das katholische Kirchenrecht ist ausdrücklich nicht-demokratisch und soll keinen Volkswillen repräsentieren, die Steuerung über Geld und Wunscherfüllung, wie sie etwa manche evangelikale Pfingstkirchen ziemlich direkt betreiben, hat in der katholischen Kirche der Neuzeit keine Tradition, wenn sie auch über manche Mechanismen des new public management und kirchlichen Marketings in anderen als den mittelalterlichen Formen zurückkehrt, und die digitale Überwachungshoheit lässt sich der postmoderne Staat nicht so einfach aus der Hand nehmen.
Kompensatorisch zur tendenziellen Entmachtung der katholischen Kirche im bürgerlich-liberalen Staat war der Gehorsam gegenüber der kirchlichen Obrigkeit geradezu zum Ausweis des Katholischen geworden. 1791 hatte Papst Pius VI. in Reaktion auf die Französische Revolution dekretiert, die ganze „absurde Freiheitslüge“ (Quot aliquantum) liefe darauf hinaus, die katholische Religion zu vernichten, widerspräche zutiefst Vernunft und Offenbarung.
Das Erste Vatikanum forderte dann in Dei filius, dass der Mensch sich „dem offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwirft“. Der Wille Gottes aber ist in diesem Konzept grundsätzlich und in allen Details (nur) der kirchlichen Obrigkeit bekannt. Ihr gebührt daher der Gehorsam des „Willens und des Verstandes“. Das Lehramt legt vor, was zu glauben, und legt fest, wie zu leben ist. Es entwickelte sich, im gewissen Sinn als letzter Rest von Freiheitsspielräumen, ein ganzes System der unterschiedlichen Verpflichtungsgrade kirchlicher Lehren und Gebote.
Pastoraltheologisch interessant daran ist, dass gerade die letzten Jahrzehnte wieder vom lehramtlichen Versuch geprägt waren, Gehorsam über formale Akte einzufordern, inklusive der Aufforderung, etwaige Abweichungen an die kirchlichen Obrigkeiten zu melden. Da sich die katholische Kirche in unseren Breiten aber nicht mehr normativ, sondern situativ vergemeinschaftet, also die konkreten religiösen Praktiken realiter unter den Zustimmungsvorbehalt der Gläubigen geraten sind, reicht die Sanktionskraft solcher kirchlicher Gehorsamseinforderungen kaum mehr über den Wirkungsbereich des Arbeitsrechts hinaus. Da war die klassische kirchliche „Pastoralmacht“, die auf eine Steuerung des inneren Wesens und Willens der Gläubigen durch dichte pastorale Begleitung und Einbindung in (auch ästhetisch) prägende Sozialformen aus war, lange Zeit viel effektiver gewesen. Denn sie wusste: Wer formal Gehorsam einfordern muss, hat die Zustimmung schon verloren. Ganz zu schweigen davon, dass zwei zentrale christliche Theologoumena hier den Weg kreuzen: die Freiheit und das Gewissen.
In Freiheit entlassen
In einem biographisch orientierten Gespräch hat Ottmar Fuchs auf die fundamentale Wahrheit verwiesen, „dass es Gott“ offenbar „sehr wichtig“ sei, „seine Schöpfung in die Freiheit zu entlassen“ (Rainer Bucher/Rainer Krockauer, Es geht nichts verloren, Würzburg 2010, 139). Die christliche Dogmatik halte „die erschreckende Einsicht fest, dass sich Gott sogar das Böse kosten lässt, um uns nicht in die Marionettenabhängigkeit zu entlassen, sondern in die Freiheit.“ Deshalb gelte: „Gott ist die Freiheit lieber als der Gehorsam“, dies zeige „die biblische Offenbarung“, in der Gott lerne, „dass er mit Zwang bei den Menschen nichts Nachhaltiges ausrichtet. Das geht alles schief, was über die Zwangsstruktur läuft. Die letzte Aussage vom Kreuz her ist, dass alle – auch die Sünder und Sünderinnen – bedingungslos von Gott geliebt sind.“ Das sei „die Quelle der christlichen Freiheit“ (141).
Es gebe zwar einen „wahre(n) Kern“ der „kirchlichen Warnungen“ vor der Freiheit: „die Sehnsucht, den Missbrauch der Freiheit zu verhindern, letztlich durch Gehorsamsforderung oder gar durch Zwang. Das Problem ist nur: Über den Zwang wird dann wieder in einer anderen Weise der Missbrauch der Freiheit eingeführt. Dem ist aber eben entgegenzusetzen, dass das Risiko des Missbrauchs offensichtlich wichtiger ist, als Menschen zum Guten zu zwingen.“ (141)
Der Freiheitsbegriff nimmt das Risiko des Bösen auf sich. Das Gewissen aber soll helfen, dieses Risiko zu minimieren: Freilich steht es selbst unter dem Risiko des Irrtums. Es kann Entscheidungen treffen, die sich im Nachhinein als unvertretbar herausstellen. Nicht alles, was vom Einzelnen nach bestem Wissen und Gewissen entschieden wird und deswegen sittlich gut ist, ist auch schon sittlich richtig.
Und dennoch: Der Anspruch des Gewissens bindet. Eine andere Instanz steht nicht zur Verfügung. Was sittlich richtig ist, welche Entscheidung ethisch verantwortbar ist, wird zugänglich nur durch die Vermittlung des personalen Gewissensurteils. Wir sind aber natürlich auch verantwortlich dafür, wer und was unser Gewissen bildet. Und spätestens jetzt ist für Christen der Glaube unserer Väter und Mütter im Glauben, also die Tradition, eine wirkliche Lernschule. Aber auch sie nimmt uns die letzte Entscheidung nicht ab, zuletzt, weil sie selbst in sich höchst plural ist.
Gewissensentscheidungen sind Entscheidungen, die uns als Person definieren. Sie betreffen nicht dieses oder jenes, sondern uns selbst. Das macht Gewissensentscheidungen so bedeutsam, aber auch heikel. In ihnen spüren wir etwas von der Möglichkeit, gegen uns selbst zu verstoßen, mit uns uneins zu werden, in ihnen wird aber auch klar, worauf und auf wen wir hören. Die katholische Tradition hat im Übrigen seit Thomas von Aquin und noch einmal mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil herausgestellt, dass auch das irrende Gewissen bindet. Wir sind an unser Gewissen gebunden. Gewissensentscheidungen nimmt uns niemand ab, auch nicht in kirchlichen und religiösen Angelegenheiten.
Gehorsam dem Gott Jesu gegenüber
Christen sind Menschen, die auf den Gott Jesu hören wollen. Auf den Gehorsam dem Gott Jesu gegenüber sind alle in der Kirche verpflichtet. Gott aber hat sich in die Abhängigkeit von der Freiheit der Menschen gegeben und sich selbst in Liebe zu allen Menschen erniedrigt. Die Kirche als Institution ist nicht dazu da, diese Freiheit zurückzunehmen, sondern im Sinne des Gottes Jesu zu gestalten, und sie ist dazu da, gehorsam zu sein wie er in der Hingabe an andere. Wo die Kirche diese Hingabe und Solidarität (vgl. Gaudium et spes 1) verlässt, verlässt sie Gott.
Was dieses Hören auf Gott hier und heute konkret aber bedeutet, das ist immer umstritten, kann gar nicht anders als umstritten sein. Es geht darum, wie dieser Streit geführt wird, ein Streit, der sich in den epochalen kirchlichen Transformationszeiten wie den aktuellen natürlich verschärft. Einige Vorschläge:
Priorität von Kommunikation vor Instruktion
Die jahrhundertealte autoritäre Vermachtung der internen kirchlichen Kommunikation fällt gegenwärtig auf die Kirche zurück: Die Koppelung von (Recht-)Gläubigkeit und Macht, von Kontrolle religiöser Praktiken und Sanktion belastet die katholische Kirche bis heute. Es gälte, Orte der Überwindung dieser problematischen Erbschaft zu gestalten: Orte reversibler, wertschätzender, nicht-direktiver, problem- und ergebnisorientierter innerkirchlicher Kommunikation, in denen gelernt wird, was es heißen könnte, hier und heute auf Gott zu hören.
Priorität von Kreativität vor Kontinuität
In radikalen Umbruchphasen von Gesellschaft und Kirche ist Kreativität grundsätzlich wichtiger als Kontinuität. Denn gerade Kontinuitäten können in solchen Zeiten die Tradition verraten. Karl Rahner hat dies den „Tutiorismus des Wagnisses“ genannt: Das Sicherere ist heute das Gewagtere. Es gibt Christentum ohnehin nur als Wagnis, das galt schon immer. Aber die unüberschaubare und unberechenbare Gegenwart zwingt die Kirche dazu, diese alte geistliche Erkenntnis als Prinzip ihres eigenen Selbstentwurfs neu zu entdecken.
Priorität von partizipativen Entscheidungsabläufen vor monopolistischer Autokratie
Von den spätmodernen Nachfolgemechanismen des alten Gehorsamsprinzips sollte die Kirche weder das Geld noch gar die Überwachung übernehmen, sondern das Recht in seiner menschenrechtlichen, demokratischen Variante. Es wandern offenkundig gegenwärtig sowieso zivilgesellschaftliche Partizipations- und Aktionsformen in die Kirche ein. Demokratie ist eine Herrschaftsform, die Entscheidungen ermöglicht und in der Partizipation kein Zugeständnis der Herrschenden darstellt, sondern die Struktur der Herrschaft ausmacht. Es müsste daher eigentlich im Interesse der Kirchenleitungen liegen, demokratische Entscheidungsmechanismen in der Kirche einzuführen.
Priorität der Pluralität vor Homogenität
Vom christlichen Gottesbegriff her, der das Andere Gottes, seine Schöpfung, denken kann und muss, ist Pluralität Reichtum, totalisierte Partialität Sünde. Nur Gott ist das und der Eine. Er aber ist selbst plural. Es macht den christlichen Glauben aus, dieses göttliche Eine als das – trinitarisch – zugleich Viele und als das konstitutiv Nicht-Totalitäre zu denken.
Die versuchte Homogenisierung der katholischen Kirche war eine reaktive Strategie der „Pianischen Epoche“. Das Zweite Vatikanische Konzil hat demgegenüber einen pluralismusfähigen Entwurf von Kirche vorgelegt. Es entwirft seine Lehre von der Kirche nicht im Horizont der Hierarchie, sondern auf der Basis des gemeinsamen Auftrages aller in der Kirche, die Berufung des Menschen durch Gott in Christus zu verkünden. Diese Menschen und die Orte, an denen sie sind, aber sind vielfältig, reich, bunt, unüberschaubar wie nie.
Sich von Gott führen lassen
Zuletzt aber heißt christlicher Gehorsam, sich vom Gott Jesu und seiner Liebe zu allen Menschen führen zu lassen.
„Wenn wir wirklich Freude an dir hätten, o Herr,
Könnten wir dem Bedürfnis zu tanzen nicht widerstehen,
Das sich über die Welt hin ausbreitet,
Und wir könnten sogar erraten,
Welchen Tanz du getanzt haben willst,
Indem wir uns den Schritten deiner Vorsehung überließen.
Denn ich glaube, du hast von den Leuten genug,
Die ständig davon reden, dir zu dienen –
mit der Miene von Feldwebeln,
Dich zu kennen – mit dem Gehabe von Professoren,
Zu dir zu gelangen nach den Regeln des Sports,
Und Dich zu lieben, wie man sich nach langen Ehejahren liebt.
Eines Tages, als du ein wenig Lust auf etwas anderes hattest,
Hast du den Heiligen Franz erfunden,
Und aus ihm einen Gaukler gemacht.
An uns ist es, uns von dir erfinden zu lassen,
Um fröhliche Leute zu sein, die ihr Leben mit dir tanzen.
Um gut tanzen zu können – mit dir oder auch sonst,
Braucht man nicht zu wissen, wohin der Tanz führt.
Man muss ihm nur folgen,
Darauf gestimmt sein,
Schwerelos sein,
Und vor allem: man darf sich nicht versteifen.“
(Madeleine Delbrêl, Gott einen Ort sichern. Texte – Gedichte – Gebete, hg. von Annette Schleinzer, Kevelaer, 2. Aufl. 2010, 75f.)
„Ball des Gehorsams“ heißt dieses Gedicht von Madeleine Delbrêl. Viel schöner kann man nicht sagen, was christlicher Gehorsam ist.