Entwicklungen und Perspektiven biblischen LernensTexte ohne Leser/innen sind bedeutungslos

Biblisches Lernen hat unterschiedliche Facetten: Es ist ein Lernen über die Bibel, von und mit der Bibel, und führt letztlich über den jeweiligen biblischen Text hinaus.

Von dem Ziel, das die historisch-kritische Exegese besonders in ihrer Blütezeit nachdrücklich verfolgte, nämlich den „eigentlichen“ Sinn eines Textes zu erfassen, hat sich die neuere Bibeldidaktik insofern gelost, als sie ihre Aufmerksamkeit verstärkt den Leser/innen zukommen lasst. Damit befindet sich die Bibeldidaktik im Einklang mit der gesamten Religionsdidaktik, die die Bedeutung und die spezifische Rolle betont, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene beim Lesen und Verstehen haben, gleich ob es sich um biblische Texte, kirchengeschichtliche Dokumente, Aussagen der Glaubenstradition oder um Zeugnisse der bildenden Kunst und Musik handelt.

Von „Empfängern“ zu „Subjekten“, von der Vermittlung zur Aneignung

Die Religionsdidaktik im Allgemeinen und die Bibeldidaktik im Besonderen haben bereits vor geraumer Zeit eine Wende zu den „Subjekten“ vollzogen – die mit gutem Grund nicht langer „Adressat/ innen“ genannt werden, weil sie weitaus mehr sind als nur passive „Empfänger/innen“. Im Hintergrund stand die Erfahrung, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene als Lernende nicht einfach eine Tabula rasa sind, nicht ein unbeschriebenes Blatt, das beschrieben werden muss, oder ein leeres Gefäß, das mit einem vorgegebenen Textsinn gefüllt werden muss, sondern dass sie sich Texte, Satze und Inhalte auf ihre jeweils eigene Weise zu eigen machen und ihre Bedeutung konstituieren. Mit der Wende zum Subjekt vollzog sich zugleich ein Abschied von einer Didaktik der Vermittlung hin zu einer Didaktik der Aneignung. In der Folge erlebte die Bibeldidaktik in den letzten Jahren eine regelrechte Hochkonjunktur. Während biblisches Lernen in der Vergangenheit konsequent vom Text ausging und am Ende wieder auf den Text hinzielte, stehen im Mittelpunkt der gegenwärtigen Bibeldidaktik die Leser/innen und die Einsicht, dass sich ein Text nur durch die Interaktion mit den Leser/ innen erschließt. Dies wurde in verschiedenen Varianten ventiliert und führte zu unterschiedlichen Konzepten, die zum Teil einander abgelöst haben, zum Teil gleichzeitig parallel nebeneinander bestehen.

Biblisches Lernen – Bibel-Teilen

Die Wende hin zu den Subjekten und ihren Aneignungsprozessen war im Kontext des biblischen Lernens nicht völlig neu – machen doch eben damit die sieben Schritte des bekannten und in vielen Gemeinden und Gruppen praktizierten Bibel- Teilens Ernst. Allerdings versteht sich diese aus Afrika stammende Methode des Schriftgespräches – sofern der Begriff „Methode“ ihr überhaupt angemessen ist – nicht als didaktische Anleitung zum biblischen Lernen und schon gar nicht als theoriegeleitete Wissenschaft, sondern als spirituelle Begegnung mit den biblischen Texten. In seinem Kern ist Bibel-Teilen Liturgie, die mit der Gegenwart Jesu Christi im Wort der Schrift ebenso rechnet wie mit dem Wirken des Geistes in denen, die sich einander mitteilen, und die beides in der jeweiligen konkreten kleinen Gemeinschaft feiert. Biblisches Lernen im Sinne neuerer Bibeldidaktik und Bibel-Teilen lassen sich von daher weder gegeneinander ausspielen noch wechselseitig ersetzen, sondern verfolgen unterschiedliche Ziele.

Hermeneutische Bibelauslegung

Erstmals brachte in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts die hermeneutische Bibelauslegung die Leser/innen als Subjekte ins Spiel. Ingo Baldermann und Horst Klaus Berg als namhafte Vertreter machten auf die Verstehensbedingungen aufmerksam, die darüber entscheiden, wie und ob überhaupt ein Text erschlossen werden kann. Dazu zählen die individuellen und sozialen Verstehensvoraussetzungen, existentielle Erfahrungen und persönliche Interessen, das Vorwissen, aber auch Alter, Geschlecht, Bildungsgrad und anderes mehr. Konkretisiert am bekannten Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25– 37): Wer nicht weiß, dass die Samaritaner im damaligen Israel als synkretistisches Mischvolk angesehen wurden und von daher als unrein galten und als Personen, von denen man sich besser fernhielt, nähert sich diesem Text auf andere Weise als jemand, der ihn in die zeitgeschichtliche Situation einordnen kann. Wer die christliche Religion vorwiegend als Moralsystem erfahren und erlebt hat, liest ihn möglicherweise ausschließlich als moralischen Appell. Auch wenn die hermeneutische Auslegung erkannt hat, dass Texte vielschichtig zu lesen sind und der Sinn eines Textes nicht in einem Merksatz festzuhalten ist, verfolgt sie nach wie vor das Ziel, biblische Texte möglichst angemessen zu verstehen.

Entdeckungen der Rezeptionsästhetik

Den verschiedenen textimmanenten Methoden und dem Ziel, den Sinn biblischer Texte zu verstehen, erteilt die sogenannte Rezeptionsästhetik eine Absage, wenn sie darauf aufmerksam macht, dass die Leser/ -innen selbst Sinn generieren und konstruieren. Ihre Vertreter/innen – neben anderen Michael Fricke, Thomas Meurer (gest. 2010), Burkard Porzelt, Joachim Theis, in Weiterführung Mirjam Schambeck mit ihrer bibeltheologischen Didaktik – betonen, dass es keinen Sinn „an und für sich“ gibt, sondern dass der Sinn eines Textes durch den Vorgang der Rezeption und die Rezipient/ -innen jeweils neu in einem schöpferischen Akt konstituiert wird. Demnach existieren so viele Interpretationen eines Textes wie Leser/ -innen. So wird das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gelesen als Ausdruck der Barmherzigkeit Jesu Christi, der mit dem Samariter identifiziert wird, als ermutigendes Beispiel der Nächstenliebe, als Tempelschelte gegen Priester und Leviten, die ihre Reinheitsvorschriften über alles stellen, als Rehabilitierung der Samaritaner, als Ermutigung, die eigenen Vorhaben um eines anderen Menschen oder einer größeren Sache willen zu unterbrechen, als Leitlinie für politisches Handeln in der derzeitigen Flüchtlingskrise – die Varianten sind damit nicht erschöpft.

Dekonstruktive Bibeldidaktik

Während in der Rezeptionsästhetik der Eigenwert der Texte eher unterbelichtet bleibt, bringt die dekonstruktive Bibeldidaktik, die vor allem von Ulrich Kropac entfaltet wurde, starker den Text als Gegenuber der Lesenden ins Spiel. Sie plädiert für eine Weise des Umgangs mit der Bibel, die eine vorschnelle Beanspruchung von Texten oder ein scheinbar eindeutiges Verständnis aufbricht. Darum wehrt sie sich gegen die Einebnung der vielgestaltigen Sinnspitzen besonders von bekannten Texten, legt Wert darauf, dass nichts überlesen wird und lasst auch die untergründigen Bedeutungsschichten von Texten zur Geltung kommen. Dies erreicht sie dadurch, dass sie vor allem das Sperrige, Fremde und Unerwartete, die Widerspruche und Bruche eines Textes hervorhebt, nach blinden Flecken sucht, Textpassagen neu arrangiert, scheinbar selbstverständliche Bedeutungen in andere Kontexte hineinstellt, alternative Denk- und Handlungsmöglichkeiten vor Augen führt und gewonnene Perspektiven kritisch hinterfragt. Bezogen auf unser Beispiel: Der Text nennt keinen Grund, warum der Priester und der Levit vorbeigingen – während in vielen traditionellen Auslegungen ihr Versäumnis damit „entschuldigt“ wird, dass sie wegen des bevorstehenden Tempeldienstes und der strikten Reinheitsvorschriften sich nicht durch den Kontakt mit Blut verunreinigen wollten. Oder: Warum wird das wohltätige Handeln des Samariters so auffällig detailliert dargestellt (Verse 33–35), während den Leser/innen ansonsten viele Informationen vorenthalten bleiben (wer der Samariter war, warum er auf der Reise war, ob er es eilig hatte oder nicht, wer der Überfallene war und anderes mehr). Offensichtlich hat diese Passage besonderes Gewicht, kommt es hier auf jedes einzelne Wort an.

So viele Interpretationen wie Leser/innen? Text und Auslegungsgemeinschaft als Rahmen

Die bibeldidaktischen Konzepte der Gegenwart wissen sich den subjektorientierten Theorien des Lehrens und Lernens verpflichtet – doch keineswegs nur diesen allein. Verpflichtet wissen sie sich sowohl der exegetischen Wissenschaft als auch der Kirche als Traditions- und Auslegungsgemeinschaft. Damit ist für den Umgang mit biblischen Texten ein Rahmen gesetzt, der zum einen gewährleistet, dass ein Text nicht womöglich in sein Gegenteil ausgelegt wird, und zum anderen, dass das Deutungsreservoir der Tradition der Kirche nicht einfach ignoriert wird. Zwar existieren so viele Interpretationen eines Textes wie Leser/ -innen – doch sie müssen, wenn sie nicht nur als „persönliche Meinung“ Geltung beanspruchen wollen, sich am Text und seiner Traditionsgeschichte ausweisen. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter wird verfehlt, wenn es als Legitimation gelesen wird, erst beim dritten Mal helfend eingreifen zu müssen und vorher zweimal achtlos an einem Menschen in Not vorbeigehen zu dürfen. Denn eine solche Lektüre steht sowohl im Widerspruch zur jahrhundertelangen eindrucksvollen Wirkungsgeschichte dieses Textes, die eine Tradition des Helfens in Gang gesetzt hat, die gerade die unverzügliche Hilfe für Notleidende betont, als auch im Widerspruch zu der dem Gleichnis zugehörigen und vielfach übersehenen Rahmenhandlung: einem Gespräch mit einem Pharisäer, der Jesus auf die Probe stellen mochte mit der Frage, was denn die Thora in Lev 19,18 mit dem Begriff „Nächster“ meint.
Nicht zu vergessen ist, dass Leser/ -innen selbst textorientierte Zugange immer einfordern: wenn sie Interesse haben an der Entstehung eines Textes und den damaligen sozialen und religiösen Verhältnissen, wenn sie Fragen stellen nach der ursprünglichen Absicht der Autoren, wenn sie den historischen Kontext als Interpretationshintergrund mit berücksichtigen möchten, wenn sie Wert legen auf eine historisch-kritische Textanalyse.

Ausblick

Wer in der Pastoral Bibelarbeit betreibt, ist in beiderlei Hinsicht gefordert: Er bzw. sie muss hinreichend offen sein, um den persönlichen Auslegungsprozessen über leseorientierte Zugange Raum zu geben; zugleich muss er bzw. sie im Bereich der historisch-kritischen wie der intertextuellen oder kanonischen Exegese hinreichend fachlich kompetent sein, um textorientiert zu arbeiten. Biblische Lernprozesse zu initiieren und zu begleiten, erweist sich damit als anspruchsvolles und zugleich lohnendes Geschäft.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Der Anzeiger für die Seelsorge im Abo

Finden Sie monatlich neue Impulse für Seelsorge und Gemeindearbeit. Jedes Heft widmet sich einem Schwerpunktthema und bietet zusätzlich praktische Anregungen sowie eine Fülle von Service-Rubriken.

Zum Kennenlernen: 3 Ausgaben gratis

Jetzt testen