Fazit
Auch ganz abgesehen vom Respekt, den wir Menschen schulden, die solch umwandelnde Erfahrungen machen – das Gespräch mit ihnen könnte sich für unsere eigene Zukunftsperspektive lohnen. Wenn die Berichte von Nahtoderfahrungen auch keinen Beweis für eine Welt jenseits des Todes liefern, so könnten sie uns doch neu nachdenken lassen über das, was Sterben bedeutet. Und über den Zusammenhang von Liebe und Tod.
Menschen hörten, wie sie vom Arzt für tot erklärt wurden. Sie hatten das Gefühl, durch einen langen dunklen Tunnel gezogen zu werden. Sie erlebten sich selbst außerhalb ihres Körpers – und entdeckten, dass sie gleichzeitig doch auch einen Leib besaßen, wenn auch ihr jetziger Leib sich unterschied von dem auf dem Operationstisch zurückgelassenen Körper.
Sie schauten ihre verstorbenen Verwandten und Freunde, die auf sie zukamen und sie freundlich begrüßten. Ihnen erschien ein „Lichtwesen“, ein „Liebe und Wärme ausstrahlendes Wesen“, wie sie es noch nie gesehen hatten. Sie spürten von diesem Wesen, ohne dass es Worte dazu brauchte, eine Frage ausgehen, die sie das Ganze ihres Lebens überschauen und bewerten ließ. Wie in einer blitzschnellen Rückschau sahen sie die wichtigsten Stationen ihres Lebens noch einmal.
Sie waren dabei erfüllt von überwältigenden Gefühlen der Freude, der Liebe und des Friedens, so stark, dass viele von ihnen die schließliche Rückkehr ins Leben, die Wiedervereinigung mit ihrem physischen Kör per nur mit innerem Widerstand, mit Traurigkeit und Enttäuschung begleiten konnten.
Die einzelnen Berichte enthalten nicht jeweils alle hier genannten Erlebnisse, sie weichen auch in Einzelheiten voneinander ab; aber man scheint, wenn man die verschiedenen Berichte zusammenfügt, doch ein Grundmuster zu erkennen, das sich aus den genannten Elementen zusammensetzt.
Dem theologisch Interessierten fällt die erstaunliche Ähnlichkeit mit den Inhalten christlicher Eschatologie auf: Tod als Durchgang zum Leben, Wiedersehen mit den Verstorbenen, Begegnung mit dem zugleich richtenden und liebenden Gott, Glückseligkeit in dem neuen Leben.
Es gibt allerdings auch erschreckende Erfahrungsberichte. Das ZDF brachte letztes Jahr eine Dokumentation mit dem Titel „Ich habe die Hölle gesehen“. Gezeigt wurden Zeugnisse von „negativen Nahtoderfahrungen“. Und es hieß: „Laut wissenschaftlichen Studien tauchen bei ca. einem Drittel aller Nahtoderfahrungen negative Elemente auf “, und es sei zu vermuten, dass es außerdem eine hohe Dunkelziffer gebe: „Wem wollte man erzählen, dass man in der Hölle gewesen ist?“ Sind also Nahtoderfahrungen nicht unbedingt tröstend? Spiegelt sich etwa in ihrer Verschiedenheit die Symmetrie der mittelalterlichen Darstellungen des Jüngsten Gerichts – und die Szenerie der Gerichtsrede Jesu im Matthäusevangelium: links die Verdammten, rechts die Geretteten?
Fragen
Haben wir jetzt Augenzeugen für das Jenseits? Sind Gott, das Jenseits, das Leben nach dem Tod nunmehr bewiesen?
Als die Reanimationsberichte vor Jahrzehnten an die Öffentlichkeit kamen, dachten manche Verfasser wohl in diese Richtung. Der amerikanische Psychiater und Philosoph Raymund Moody, der das Thema 1977 in eine große Öffentlichkeit brachte, gab seinem Buch den Titel „Life after Life“ (deutsch: Leben nach dem Tod). Fast zur selben Zeit sprach der in Bethel tätige Psychiater und Neurologe Eckhart Wiesenhütter vom „Blick nach drüben“ und vom „Sog der anderen Seite“, der amerikanische Neurochirurg Eben Alexander, ursprünglich nicht gläubig, nannte seine im Koma gewonnene Erfahrung „Blick in die Ewigkeit“.
Andere sind zurückhaltender. Monika Sachs, Dortmunder Fachärztin für Psychiatrie, spricht von „Forschung im Grenzbereich“ und sieht einen Unterschied zwischen dem Urteil von Forschern und dem von Betroffenen: „Hirnforscher sehen keinen Hinweis darauf, dass Nahtoderfahrungen übersinnliche Erlebnisse sein könnten. Menschen, die es selbst erlebt haben, sind dagegen meist davon überzeugt, dass sie einen Blick ins Leben nach dem Tod werfen konnten.“
Heute bevorzugt man die Formulierung „Nah-Tod-Erfahrungen“. Das Wort nimmt einerseits ernst, dass es um wirkliche Erfahrungen geht, die Menschen nah am Tod gemacht haben; aber es beansprucht nicht, Zeugen für eine Wirklichkeit jenseits der Todeslinie anführen zu können. Damit lässt sich theologisch gut arbeiten, ohne dass wir unser Konto überziehen.
Ich habe als Theologe oft zu Themen der Eschatologie zu reden; aber ich meine nicht, die Welt hinter dem Tod detailliert beschreiben zu können. Ich spreche lieber von unserer „Hoffnung über den Tod hinaus“. Damit meine ich: Es geht um eine große Hoffnung, die eine Perspektive in mein Leben bringt. Diese Hoffnung geht über den Tod hinaus; aber sie gibt keine detaillierte Beschreibung der Zukunft „hinter“ dem Tod. Diese Hoffung macht mir wohl Mut, mich auf das Abenteuer der Liebe einzulassen; denn sie – die Liebe – wird letztlich zählen und wird bleiben – das nennen wir Himmel. Und ich werde gewarnt, mich in den Abgrund von Lieblosigkeit fallen zu lassen – das wäre die Hölle. Aber sie gibt mir keine Sachinformationen, vergleichbar einem Atlas, der präzise ferne Länder beschreibt.
Sprache der Bilder
Die Inhalte dieser Zukunftsperspektive können eigentlich nur in Bildern besprochen werden. So lesen wir es in der Bibel: Bilder vom paradiesischen Frieden, von der neuen Stadt, in der man die Tore nicht mehr voreinander schließt, von der Hochzeit und der Mahlgemeinschaft, von den abgewischten Tränen, vom Lachen der Kinder und vom Licht, das nicht mehr vom Dunkel verschlungen wird, usw. Lauter Bilder, die aus unserer Erfahrungswelt genommen sind, aber über sie hinausweisen. Das sagt mir: Die erhoffte Wirklichkeit ist großartiger als alle mir bekannten Welten, deshalb nicht präzise abbildbar, aber sie spiegelt sich – wenn auch schwach – in den bewegenden Erfahrungen meines begrenzten Lebens.
Ich kann mir vorstellen, dass etwas vom Inhalt dieser Hoffung in guten Erfahrungen unseres begrenzten irdischen Lebens zum Vorschein kommt. Aber es ist mir kaum vorstellbar, dass die erhoffte kommende Welt sich in diesen Erfahrungen sozusagen im Maßstab eins zu eins zeigt.
Deshalb denke ich auch nicht, dass Menschen, welche die Nähe des Todes erfahren haben, damit schon die Zukunft jenseits des Todes ohne Abstriche wahrgenommen hätten. Und deshalb vermeide ich solche Formulierungen wie die, wir hätten nunmehr Augenzeugen vom Jenseits. Und sage vorsichtiger: Es gibt offenbar einige Zeugen von einer äußersten Region an der Grenze des Lebens.
Und ich könnte mir vorstellen, dass auch von dieser Region an der Grenze kaum anders als in Bildern gesprochen werden kann. Dass also die öfters erwähnten Bilder – Tunnel, Licht, Begegnung mit lieben Menschen – etwas Wichtiges über die mögliche Erfahrung des Sterbens aussagen. Etwas für die Betroffenen sehr Wichtiges. Ich sage „mögliche Erfahrung“, um eine sichere Behauptung zu vermeiden, etwa „so ist das (für jedermann) mit dem Sterben“. Aber diese Erfahrungsaussagen könnten doch auch für uns, die noch Lebenden, von Belang sein. Insofern nämlich, als sie uns vielleicht bezeugen können, wie es uns mit dem Sterben ergehen könnte.
Was bedeutet „Sterben“?
Was bedeutet denn das Sterben? Was sagt dazu die Theologie? Um nicht aneinander vorbeizureden, sollten wir zwei Frage-Ebenen unterscheiden: Die Ebene der Empirie und die Ebene der existentiellen Bedeutung. Auf der ersten wird gefragt: Was lässt sich naturwissenschaftlich bzw. medizinisch beobachten? Wie läuft das Sterben ab? Hierher gehört zum Beispiel die inzwischen klassische Unterscheidung zwischen Herztod, Hirntod und Zelltod.
Auf der zweiten Ebene wird gefragt: Was bedeutet es für unser Menschsein, dass wir sterblich sind? Auch diese Frage hat große praktische Bedeutung: Wie werde ich mein Leben einrichten, damit ich der Tatsache gerecht werde, dass ich einmal sterben muss? Davon handelt – neben der Dichtung und der Philosophie – die Theologie: Was sagen die Quellen unseres Glaubens über das Sterben – und über seine Relevanz für das gegenwärtige Leben?
Die beiden Ebenen müssen nicht zu denselben Aussagen kommen; aber ihre Aussagen sollten miteinander vereinbar sein. In unserem Fall: Die Theologie kann sich nicht mit Behauptungen begnügen, die den Erfahrungen der Medizin widersprechen.
Nun nehmen Sterben und Tod zwar in der kirchlichen Praxis einen großen Raum ein; merkwürdigerweise schien aber die Systematische Theologie in dieser Frage lange Zeit recht dürftig zu sein. Sie sagte eigentlich nur, dass der Tod eine Folge der Sünde sei. Und sie überließ die Lebensbedeutung den Moralpredigern, die dann gern mit dem Gericht drohten.
„Folge der Sünde“ – wie sollte man das verstehen? Sollte man etwa denken, wenn Adam nicht gesündigt hätte, lebten er und seine Nachkommen heute noch? Wo läge die existentielle Bedeutung einer solchen theologischen Aussage? Setzt sie nicht von vornherein ein negatives Vorzeichen vor das ganze todgeweihte Leben des Menschen?
In den letzten zwei Generationen hat sich das Bild aber gewandelt. Einen entscheidenden Neuansatz brachte Karl Rahner. Er differenzierte die Aussage vom Tod als Sündenstrafe – nicht alles an unserem Tod könne Folge der Schuld sein – und eröffnete eine Theologie des Sterbens dadurch, dass er den paulinischen Gedanken vom „Mitsterben mit Christus“ bedachte.
Mitsterben mit Christus – was heißt das? Sicher nicht: Christen sollten den Tod suchen oder auch sich dauernd ganz auf das Lebensende konzentrieren. Wenn Paulus vom „täglichen“ Sterben spricht, dann meint er das tägliche Engagement, in dem er sein Leben einsetzt und verbraucht. Solches Aufgehen im Dienst, solche Hingabe muss aber keineswegs als etwas erfahren werden, das dem Menschen wesenswidrig ist. Im Gegenteil: Es kann durchaus als Erfüllung des Menschseins verstanden und mit der Erfahrung von Freude und Sinn verbunden sein.
Lieben und Sterben
Ich versuche es so zu sagen: Wir sind, so wie wir von Gott entworfen sind, geschaffen für die Liebe. Liebe aber bedeutet Hingabe: Wenn wir lieben, lassen wir uns selbst los und öffnen uns für ein Du. Das tut uns selbst gut – dafür sind wir gebaut – so kommen wir zu uns selbst. Am Ende unseres Lebens sollten wir diese Hingabe vollenden, indem wir uns ganz in die Hände Gottes übergeben, dem wir uns in einem liebend engagierten Leben schon Stück für Stück ausgeliefert haben.
Das ist das Ideal. Nun sagt aber unsere Erfahrung, dass diese Bewegung längst nicht immer harmonisch und bruchlos gelingt. Das – so lautet die theologische Deutung – liegt an einer Verkehrtheit, einer inneren Widersprüchlichkeit des Menschen: Diese Verkehrtheit nennen wir „Sünde“. (Die neuscholastische Theologie, die auf präzise Unterscheidungen bedacht war, nannte es „Sündenfolge“). Paulus spricht von der „in mir sitzenden Sünde“. Sie bewirkt eine innere Verhärtung und Ich-Verkrampfung. Deshalb kann in dem Zustand, in dem wir uns de facto befinden, die Bewegung der Hingabe schmerzen, so kann Liebe als sinnwidrig empfunden werden, obwohl sie das eigentlich Beglückende, Sinnerfüllende ist. Von daher die Angst vor der Liebe und vor dem Tod. Es ist die eine Angst: die Angst, uns selbst zu verlieren.
Deshalb ist aber auch die Überwindung der Sünde eine Entmachtung des Todes. Nicht seine Abschaffung, aber seine Entmachtung. Paulus sagt, dem Tod werde sein „Stachel“ genommen: die Ich-Verkrampfung, die vor der Hingabe zurückschrecken lässt. In dem Maße, in dem der Glaube die Fähigkeit zur liebenden Selbsthingabe schenkt und in dem diese im Leben eingeübt und vollzogen wird, in dem Maße wächst die Möglichkeit, sich im Tode ganz aus der Hand zu geben. Wer liebt, hat schon ein Gutteil des Sterbens hinter sich gebracht. Im Lieben und im Sterben geht es nämlich um die Transzendenz des Ich, um das Sich- Loslassen in der Hingabe an ein Du.
Was also könnte Sterben bedeuten? Sich-Abgeben, Sich-fallen- Lassen. Im Grunde etwas Beglückendes – wie das Lieben. Nur gebremst durch die Angst um uns selbst. Dieselbe Angst, die uns vor dem Lieben zurückschrecken lässt. Im Spätmittelalter hat man sich viele Gedanken über die „Kunst des Sterbens“ (ars moriendi) gemacht, wir könnten heute sagen: Die Kunst, gut zu sterben, wächst in der Einübung in das Lieben.
Was hat das mit den Nah-Tod-Erfahrungen zu tun?
Es gibt mehrere Gründe, sich auf das Gespräch über die Nah- Tod-Erfahrungen einzulassen. Zunächst gebietet das der Respekt gegenüber jenen Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben, die das Gespräch darüber suchen, aber manchmal wie abergläubische Spukgeschichtenerzähler belächelt werden. Wie immer man auch ihre Berichte interpretieren mag, sie sollten ein Heimatrecht in der Erzählgemeinschaft der Glaubenden haben.
Ich sehe aber noch einen anderen Grund: Wenn ich so positiv wie eben über die Bedeutung des Sterbens spreche, stoße ich bei manchen Ärzten, die täglich mit Sterbenden zu tun haben, auf den Einwand, meine Gedanken seien schön, aber unrealistisch. Sterben sei in der Regel nicht schön; es sei durchweg mit Kampf und Angst verbunden und ende oft in ohnmächtiger Kapitulation, bestenfalls werde es von den Sterbenden selbst gar nicht erlebt. Es könne deshalb kaum als Chance gesehen werden, sich in den beglückenden Abgrund der Liebe fallen zu lassen.
Dem kann ich keinen unschlagbaren Einwand gegenüberstellen, dafür fehlt mir die Erfahrung. Ich will ja nicht schöne Perspektiven behaupten, wo es nur duster ist. Wenn es aber – neben den schrecklichen – auch die freundlicheren Erfahrungen gibt, von denen die Nahtod-Berichte erzählen, dann scheint sich mir wenigstens ein Fenster zu öffnen.
Der große Bibelwissenschaftler Fridolin Stier hat seiner bewegenden Autobiographie den Titel eines Gedichtes gegeben: „Vielleicht ist irgendwo Tag“. Er meinte damit wohl nicht die spezielle Frage, mit der wir uns hier beschäftigen, sondern die fundamentale Frage nach Gott. Ich beziehe es jetzt aber auf die Deutung der Nah-Tod-Erfahrungsberichte: Vielleicht könnte sich uns hier ein Fenster öffnen. Die Berichte von Nah-Tod-Erfahrungen könnten uns vielleicht die Ahnung vermitteln, dass unser Sterben viel mit unserem Leben zu tun hat – mit unserem Lieben und mit unserer Verweigerung. Und sie könnten uns zu bedenken geben, was in unserer Existenz eigentlich zählt.
Ich möchte aber dennoch vor schnellen Schlussfolgerungen warnen, insbesondere was die schrecklichen Erfahrungen betrifft, von denen ja auch berichtet wird. Denn niemand weiß, ob das, was wir aus den Berichten heraushören, die endgültige Bilanz eines Lebens ist. Nüchtern formuliert und auf den Begriff gebracht: Ich nehme die Berichte von Nahtoderfahrungen nicht als Beweise für ein „Jenseits“; aber vielleicht könnten sie Hinweise sein, die eine Perspektive über den Tod hinaus eröffnen – und damit auch eine Perspektive für das gegenwärtige Leben.