Dabei haben wir gleichzeitig die erste und entscheidende Botschaft verschüttet, nämlich zuerst zu sagen: Wie Christus mit der Ehebrecherin umgeht, so geht er jetzt als der erhöhte Herr mit uns um, die wir selber diese Versöhnung nötig haben, die wir in gebrochenen Verhältnissen und in Ruinen des Lebens leben. Fast alle biblischen Geschichten und Gleichnisse haben erst einmal diesen Gnadenaspekt, bevor der entsprechende Aufruf zum Handeln auszusprechen ist, damit dieses Handeln durch die Erfahrung der Gnade und Freundschaft Gottes eine vitale Ermöglichung bekommt.
Was für die biblischen Geschichten gilt, gilt genauso grundlegend für die Kirche und ihre synodalen Prozesse. Pastorale Erneuerung beginnt mit dem, was Gott im Pastor Christus für die Menschheit getan hat und tut. Die synodalen Prozesse sind also gut beraten, immer zuerst die in der Liebe Gottes geschenkte Ermöglichungsbedingung menschlichen Handelns ins Herz und Bewusstsein zu heben. Dabei geht es nicht um Unterforderung im Bereich des Handelns, sondern um jene Gnade, die selbst zur Herausforderung wird und darin Kraft verleiht.
Dabei ist in besonderer Weise die Frage interessant, wie eine Synode mit den Sakramenten umgeht und wie sie deren Pastoral begreift und entwirft. Denn immerhin gelten die Sakramente in der katholischen Kirche als symboldramatische Erfahrungsinstanzen der Gnade Gottes in unterschiedlichen Zusammenhängen und Situationen.
Sakramentale Basis der Kirchenbildung
Seit Beginn der Kirchengeschichte hat die soziale Gestaltung der Sakramente kirchenbildende Kraft, einschließlich der damit verbundenen „Regulierung“ (oder Deregulierung) der Innen-Außen- Beziehungen. Der ehemalige Bamberger Kirchenrechtler Othmar Heggelbacher hat in seinen historischen Arbeiten herausgestellt, dass die frühe Kirche ihre Ordnung aus der Ordnung der Sakramente heraus gewinnt. Die „Gnadenordnung“ bestimmt die Kirchenordnung. Doch ist das die alte Sprache, die etwas verdeckt, dass die Vorgegebenheit der Gnade unordentlich sein kann, mit dem ganzen „Chaos der Liebe“ Gottes, unkalkulierbar und unendlich entgrenzend.
Hinsichtlich der Taufe ist bereits, so Heggelbacher, nach frühchristlicher Überzeugung die „Voraussetzung für die Spendung der Taufe … nicht die Begründung des Glaubens, sondern die Übermittlung der Heilswirklichkeit an den Täufling.“ Und: „Der Glaube ist für die Taufe dispositiv-integrierend, aber nicht konstitutiv, wie die langen Auseinandersetzungen um die Ketzertaufe zeigen sollten. Die geringe Wirksamkeit des späteren Glaubens hat deswegen auch nie dazu geführt, die Realität des Geschehens des Taufaugenblicks‘ in Frage zu stellen.“ Die Heilswirksamkeit der Taufe wird also weder bedingungshaft an den Glauben vor noch an den Glauben nach der Taufe noch an die Eingliederung in bestehende Kirchenformen gebunden.
Mit der Taufe wird klar, dass der Akteur der Zugehörigkeitsbestimmung zur Kirche Gott selbst ist, nicht etwa die kirchlichen Akteure mit ihren Zulassungsbedingungen. Für manche Hauptamtliche in den Kirchen ist dies verständlicherweise ein Ärgernis, weil dadurch die institutionelle Gestalt der Kirche, die immer auf sichtbare Innen-Außengrenzen angewiesen ist, hintertrieben wird. Es handelt sich um so etwas wie schwer integrierbare und noch viel weniger kontrollierbare Menschen, die ein- oder auswandern, jedenfalls vagabundieren. Für sie benötigen wir eine hürdenabbauende Pastoral. Angesichts folgender Geschichte kann man sich vorstellen wie das „geht“:
In seiner Antwortrede anlässlich seines 25. Bischofsjubiläums hat Weihbischof Werner Radspieler (Bamberg) im Dezember 2011 erzählt, dass ihm vor allem solche Begegnungen wichtig und wertvoll waren, wie z. B. diese: Der Bischof kommt in ein kirchliches Heim, wo man einen obdachlosen Mann aufgenommen hat, der nicht mehr lange zu leben hat. Die Schwester warnt, dass er ein schwieriger Mensch sei. Als er den Bischof sieht und ihn als Pfarrer erkennt, ruft er ihm zu: dass die Pfarrer doch so ein „Zeug“ hätten, mit dem alles Schlimme, was man getan hat, vergeben sei. Auf das Ja des Bischofs, dass es tatsächlich so ein Zeug gebe, sagt er: „Dann mach dein Zeug!“ Der Bischof respektiert den Wunsch ohne Vorbehalte und spendet dem Mann die Krankensalbung. Es reicht offensichtlich, etwas vom Mysterium der Gnade zu erahnen. Genau solche Momente sind für den Bischof pastorale Erfahrungen, auf die es wirklich ankommt.
Niederschwelliger geht es nicht
Die Sakramente sind darauf angelegt, in je unterschiedlichen Konstellationen die Bedingungslosigkeit der Gnade Gottes zu erfahren und derart bestehende Grenzen zu überschreiten. Letzteres gilt nicht nur für die klassischen kirchlichen Sozialformen (z. B. Pfarrgemeinde), sondern auch für die neuen Gemeinschaftsformen der Netzund Knotenwerke. Mit den Sakramenten reicht die Kirche auch in das (aus ihrer Perspektive gesehen) Unvernetzte und Unverknotete hinein, oder genauer: in neue Vernetzungen, die ihr (noch) nicht bekannt sind. Die Taufe des Äthiopiers in Apg 8,26–40 ist dafür ein grundlegendes Beispiel.
Auch Menschen, die nicht viel von den sakramentalen Symbolen verstehen, die sich aber hingezogen fühlen, spüren, dass hier etwas von der Unveräußerlichkeit des Lebens zum Vorschein kommt. Dass man hier feiern kann, sich einer Wirklichkeit zu verdanken, die niemand selbst herstellen kann und muss. So wird sozial eingeholt, dass die Sakramente über das Bestehende hinausweisen, dass sie aus Gottes Allheit heraus in alle Menschen hinein wirken. Die Selbstentäußerung Gottes ist erst „komplett“, wenn dies über alle Komplettheit kirchlicher Formen hinaus zu geschehen vermag: nämlich die Sakramente als hemmungslose Gabe auszugeben, ohne bedingungsvoll ihren Gebrauch beherrschen zu müssen, aber durchaus grundgelegt in der performativen Kraft ihrer erlösenden Worte.
So wünschen Eltern den Segen Gottes für ihre Kinder und für sich selbst: auch wenn der Begriff des Segens die theologische Tiefe des Taufsakraments nicht ausschöpft, ist er doch nicht als Alternative zur Taufe zu denken, sondern als biblisch verbriefter Ausdruck für den Glauben an das Ja einer unverfügbaren guten Macht zum eigenen Leben.
So ist es richtig, wenn ein muslimisches Mädchen, das bei der Schulendfeier mit den christlichen Mitschüler/innen in der Kirche so beeindruckt ist, dass es von dieser Atmosphäre her, die bis in das Leibliche hineinreicht, fast gar nicht anders kann, als mit vorzugehen und wie die anderen an der Eucharistie teilzunehmen, nicht zurückgewiesen wird.
Es wird seine eigene Wirkung haben, wenn kirchliche Akteure es schaffen, in der Spannung zu handeln: dass man selbst die größten Bedenken hat, ein Kind zu taufen, oder Eheleute kirchlich zu trauen oder Kinder zu den Sakramenten von Kommunion und Firmung zuzulassen. Muss man nicht mit Vorbedingungen die „Würde“ sichern, mit der die Menschen die Sakramente empfangen? Doch gerade diese Würde ist es, die kein Mensch sichern kann und muss, weil sie von Gott selbst gesichert ist. Von daher wird es möglich, die eigenen Bedenken zu überwinden und Vertrauen zu setzen in die Unendlichkeit der Gnade Gottes; die Hoffnung aufzubauen, dass man selbst nicht die Wirkung der Sakramente in der Hand hat, dass man nicht weiß, welche Bedeutung Gott den Menschen darin schenkt oder was Gott durch die Sakramente bewirkt. Es bleibt die Herausforderung, dem unverständlichen und anarchischen Geheimnis der Liebe Gottes zu vertrauen und jedes kirchliche Amt als Vertretung eben dieses Geheimnisses zu verstehen. Dies wäre die pastorale Verwirklichung der Lehre von der „Selbstwirksamkeit“ der Sakramente (unökumenisch ist das nicht, denn mit dem großen evangelischen Theologen Karl Barth könnte man Ähnliches mit der Selbstbewegung des Wortes entfalten).
Synodale Prozesse im Horizont der Gnade
Wenn die Trierer Synode programmatisch das Augenmerk darauf richtet, Charismen vor Aufgaben in den Blick nehmen, geht sie in die richtige Richtung: nämlich die Gnade, die in den Menschen gegeben ist, mag sie zuweilen noch so überrraschend anders sein, nicht den institutionell festgelegten Tätigkeiten unterzuordnen. Man wird auch damit zu rechnen haben, dass die Getauften die kirchlichen Instanzen zu Orten führen, wohin sie zunächst nicht wollen. Die kirchlichen Gemeinschaftsformen sind dann auch interessiert an solchen Kontakten, die „nichts“ für den eigenen „Laden“ bringen. Immer mehr Menschen werden dann Kontakte aufnehmen, statt immer weniger, weil ihnen nicht unterstellt wird, dass ihnen etwas fehlt, und weil sie nicht defensiv auf Druckverhältnisse reagieren müssen.
Die Gnade der Zusage, dass nicht einmal die schlimmsten „Pforten“ die Kirche überwinden können (vgl. Mt 16,19), könnte eine Spiritualität bewegen, die das Zweitmotiv, die Kirchenbildung, nicht zum Erstmotiv werden lässt, das ja in der Wahrnehmung und Erweiterung des Reiches Gottes in der Welt läge. Auch synodalen Prozessen ist die gnadenhafte Erfahrung zu wünschen, nicht auf Kirchenerhalt, auch nicht mit neuen aktuelleren und wirkungsvolleren Mitteln, fixiert zu sein, sondern sich in Freiheit und Hoffung dem Leben aus der Gnade heraus zu öffnen und sich auf dieser Basis der Bezeugung des Evangeliums zu widmen. Mit Papst Franziskus formuliert: Der Mensch kann nur dann authentisch etwas von der Gnade Gottes sagen, wenn er in sich selbst die Erfahrung sucht, „dass Gott ihn liebt, dass Jesus Christus ihn gerettet hat und dass seine Liebe immer das letzte Wort hat.“ (Evangelii gaudium 151).
Dies gilt auch für alle, die sich an synodalen Prozessen beteiligen: dass darin im Sinne einer „Spiritualität der Gnade“ die unerschöpfliche Barmherzigkeit Gottes genügend Raum und Anregung erhalten kann. Ohne diese „Seele“ kippt alles, so gut es gemeint sein mag, in die Falle eines Machen-Müssens, das von seinen Ressourcen abgeschnitten ist. Man kann auch, in der Analyse der gegenwärtigen Herausforderungen für die Kirchenbildung durchaus kenntnisreich, dann doch, die theologische Mitte dessen, wofür die Kirche da ist, verspielen.
Das „pelagianische“ Dauerproblem der Kirche, nämlich Menschen immer erst einmal unter Druck zu setzen oder sie sich unter Druck setzen zu lassen, kommt dann zwar gefälliger daher, wird aber gleichzeitig in seiner Wirkung verschärft. Nicht synodale Prozesse retten Kirche und Welt, wenn sie ihrerseits alles mit menschlicher Leistung besetzen und nicht Gottes unerschöpflicher Barmherzigkeit Raum geben. Mit der Mentalität der Machbarkeit sind sie genauso gnadenlos wie manche Texte der Würzburger Synode, die vom Tun-Müssen nur so strotzen.
Ich erlebe diese Problematik fast bei jedem Einkehrtag für neu gewählte Pfarrgemeinderäte, diesen schwierigen und dann befreienden Übergang von der Kirchenräson und Vereins-Sicherung (wie schaffen wir es, dass wieder mehr Leute kommen?) zum Gottvertrauen und zu der Kraft, die daraus im Einsatz für die Menschen und für die Frohe Botschaft erwächst. Und dann kann auch viel als Erfolg angesehen werden, was der Kirche (angeblich!) nicht zugutekommt, aber die Menschen nicht im Stich lässt, sowohl im Bereich caritativer wie auch religiöser Lebenshilfe.
Religionskritische Brisanz
Es gibt aus meiner Perspektive eine akute gesellschaftliche Problemlage, nämlich die für alle Religionen bitter nötige Klärung des Verhältnisses von Freiheit und Gottesliebe, von Leistung und Heil: zugunsten eines neuen Umgangs mit dem Nicht-Glauben-Können in verschiedenen Formen, mit dem religiösen Fundamentalismus, mit Blick auf die Zukunft eines Gottesglaubens, der universale Solidarität nicht behindert, sondern befördert.
Der Glaube ist nicht Leistung, sondern Gott allein gewährt die Gnade des Glaubens. Diese Erwählung kann keine Ausgrenzung der Anderen aus der Liebe sein, sondern behauptet in der Erwählung zum Glauben den Einbezug aller Menschen in diese unbedingt unendliche Liebe. Man kann den Glauben nicht „machen“. Und man muss es auch nicht. Darin zeigt sich das unergründliche Geheimnis der göttlichen Freiheit, nämlich zu diesem Glauben zu erwählen, wen Gott will, aber nicht als Liebesentzug gegen die anderen, sondern in Proexistenz und Stellvertretung für sie und als permanent zu verkündende nie aussetzende Liebeserklärung Gottes an sie. Denn es verändert sich das Leben erheblich, wenn man davon weiß, und wenn sie im Glauben zum vertrauenden Bewusstsein kommt, zur Feiergestalt, von der her das Leben eine andere Gestalt gewinnt.
Es ist von epochaler religionskritischer Bedeutung, den Glauben ohne inneren und äußeren Zwang weiterzugeben, sondern nur durch den universal-solidarischen Kontext, den die Glaubenden nach innen und nach außen gestalten, in Verbindung mit einer Glaubensgestalt, die alles Begriffene und Strukturierte nicht zugriffig werden lässt, sondern an die unerschöpfliche Liebe abzugeben vermag und von daher eine Kraft bekommt, die durch nichts erleistet werden muss und deshalb vieles ermöglicht. Denn derart Geliebte können Leben und Güter teilen und sich bis zur Hingabe einsetzen.