Wenn mich damals jemand gefragt hätte, was ich aus den Sonntagsgottesdiensten mitnehme, als Ministrant immerhin in privilegierter Stellung nah am Altar und in unmittelbarem Kontakt mit dem Zelebranten, hätte ich wahrscheinlich nur achselzuckend geantwortet: „alles böhmische Dörfer“. Die Bibel, ein „Buch mit sieben Siegeln“ (Offb 5,1), und auch die Predigten des Pfarrers waren nicht unbedingt erhellend. Als Fünfzehnjähriger war ich damals, und das dürfte heute kaum anders sein, eher an Sport interessiert, an Musik und am anderen Geschlecht; mein religiöses Interesse hielt sich dagegen ziemlich in Grenzen.
Dabei hatte ich den Eindruck, dass in den Evangelien, den Gleichnissen, den Briefen eines Paulus mehr steckte, als ich verstand – und das ärgerte mich. Ich fühlte mich vielmehr angespornt, irgendwie dahinterzukommen, notfalls eben allein, wenn es nun einmal keinen gab, der sich dafür interessierte und mit dem ich darüber reden konnte. So kaufte und las ich denn verschiedene Bibelübersetzungen, „in heutigem Deutsch“ oder mit wissenschaftlichem Kommentar, allerdings insgesamt mit mäßigem Erfolg. Mir wurde zunehmend klar: Allein ist Glauben ziemlich mühsam, und eigentlich müsste man mit anderen die Bibel lesen und darüber reden – wenn es die denn gäbe!
„Verstehst Du auch, was du da liest?“ (Apg 8,30b) Die Szene war für mich ein Déjà-vu-Erlebnis, als ich irgendwann auf diese Erzählung aus der Frühzeit des Christentums stieß, in der es zu jener legendären Begegnung zwischen Philippus, einem der ersten Christen, und dem äthiopischen Finanzminister kommt: „Wie könnte ich, wenn mich keiner anleitet …“ (Apg 8,31a): Da ist jemand religiös interessiert, hochmotiviert, der sich auf eine lange und gefahrvolle Reise begibt, um Gott näherzukommen, ja ihn anzubeten. Allein, es hat nicht funktioniert. Der Zugang zu der Religion bleibt ihm verschlossen, und auch dem hochgebildeten Gottsucher erschließen sich die heiligen Texte nicht von selbst. Wie auch – ohne Lese- und Verstehenshilfe!
„Verstehst Du auch, was du da liest?“– Die ersten Christen waren ganz schön forsch und frech, möchte man meinen, die sich offensichtlich – wie Philippus – einfach an den „Wagen“ des anderen hefteten, zurückhaltend zwar, aber in Rufbereitschaft. Es braucht, so lernen wir beides: das Signal des religiös Interessierten, über die Gottesfrage ins Gespräch kommen zu wollen, aber auch die Wachheit, Sensibilität und Bereitschaft der Christen, „jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die sie erfüllt“, und zwar „bescheiden und ehrfürchtig“ (1 Petr 3,15f.).
Der Glaube erschließt sich in der Gemeinschaft der Glaubenden. Da braucht es Mut, den Anderen und Fremden Platz nehmen zu lassen auf dem „Wagen“ des eigenen Lebens, ihn teilhaben zu lassen an den persönlichen Lebensfragen und sich darauf einzulassen, miteinander die Wirklichkeit des je eigenen Lebens im Licht des Evangeliums zu deuten. Denn da ist nicht der, der die Weisheit hat, und der, der sie demütig anzunehmen hat. Beide, die da miteinander im Buch des Lebens lesen und im Buch der Schrift, sind sie vielmehr „Schüler Gottes“ (Joh 6,45), die sich vom Geist Gottes inspirieren lassen. Das war es übrigens auch, was mich als Jugendlicher am Ende überzeugt hat: die Erfahrung gemeinsamen Gehens, auf Augenhöhe, mit anderen im Gespräch über die je eigenen Themen, wohl ohne zu ahnen (man denke an die Emmausjünger, vgl. Lk 24), dass der Auferstandene selbst mitgeht und uns/mir den Sinn der Schrift erschloss. Nichts anderes als das Prinzip Kirche, wie ich erst viel später verstand.