Dieses Zitat von Gregor dem Großen (540– 604) bringt ein Schriftverständis zum Ausdruck, in dem das Lesen als fortdauernder, offener, gemeinschaftlicher und vor allem wechselseitiger Prozess verstanden wird. Es ist sicher kein Zufall, dass Gregor mit seinem Zitat derzeit in Mode ist und an verschiedensten Stellen zitiert wird. In seiner Tradition kann man anknüpfen an den rabbinischen Grundsatz, dass die Tora zur Auslegungen gegeben ist. Gleichzeitig lasst sich mit Gregor wunderbar mit aktuellen literaturwissenschaftlichen und hermeneutischen Methoden ins Gespräch kommen, und man bewegt sich zudem ganz unkompliziert im kirchenamtlichen Kontext.
Blickt man konsequent auf die Lesenden birgt das eine große Verheißung: Mit dem Lesen der biblischen Texte ist sowohl ein persönliches als auch ein gemeinschaftliches Wachsen verbunden.
Die Kehrseite davon ist entsprechend einleuchtend: Werden die Texte nicht wieder und wieder gelesen, bleiben sie stumm, die wechselseitige Entwicklung stagniert und die förderliche Wirkung bleibt aus. Für eine zeitgemäße Bibelpastoral ist daher die Frage nach der Wirkung des Lesens entscheidend. Wozu sollte ich einen Text lesen, dessen Relevanz im Sinne eines persönlichen „Gewinns“ ich dabei nicht erfahre? Wenn mein Lesen zu moralischen Selbstvorwürfen, Erlebnissen von Inkompetenz und Unverständnis oder zu Fremdheitsgefühlen und Regressionserfahrungen fuhrt, wozu sollte ich das tun?
Wie können also Leseerfahrungen unterstutzt werden, die Frauen, Männer und Kinder wachsen lassen im Sinn von gedeihen, zunehmen und aufblühen?
Aspekte jüngerer kirchenamtlicher Dokumente
Im Folgenden werden einige wenige Kernaussagen jüngerer kirchenamtlicher Dokumente mit Blick auf die Bibelpastoral dargestellt. Diese Entwicklungen gründen alle in den Entscheidungen des II. Vatikanums. Im derzeitigen Reflexionsprozess 50 Jahre nach Dei Verbum wird mehr als deutlich: Einerseits hat die Kirche mit diesem Dokument die Bibel in gewisser Weise wieder gefunden. Die Konstitution über die göttliche Offenbarung vom 21. November 1964 „hat für das Verständnis der Bibel als Wort des lebendigen Gottes im Leben und Denken der Kirche tiefgehende Impulse gesetzt. Die seither gesetzten Initiativen belegen die Absicht, den von diesem Dokument skizzierten Weg fortzusetzen. Die Erfahrung der Jahrzehnte zeigt, was Papst Franziskus folgendermaßen zusammenfasst: „Die Dynamik der aktualisierenden Lektüre des Evangeliums von heute, die dem Konzil eigen ist, ist absolut unumkehrbar.“
Gleichzeitig sind manche Aussagen von Dei Verbum heute theologisch nicht mehr auf der „Hohe der Zeit“ und anderes ist noch lange nicht eingeholt. Ein drängendes Thema wird in Zukunft sicher der Umgang mit fundamentalistisch, biblizistischen Gemeinschaften und ihrer Art der Bibellektüre sein.
Was auf jeden Fall bis heute vom Konzil angeregt bleibt und das Verständnis von jeder Art von Bibelpastoral inspiriert, ist die Einsicht, dass die Lektüre nicht etwas „nur für Fachleute“ ist: Denn ausdrücklich heißt es in DV 8: Das Verständnis wachst durch Nachsinnen und Studium der Gläubigen und ist ein „Gespräch zwischen Gott und Mensch“ (DV 25).
Wie bereits das Dokument der Bibelkommission von 1993 „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ pointiert auch der Text der Bischofssynode von 2008 eine Absage an den Fundamentalismus. Die Synode sieht alle Gläubigen in der Pflicht einer methodisch reflektierten, an die Fragen der modernen Welt (hier v. a. die Armut) angeschlossenen und gleichzeitig spirituellen Lektüre. Sehr poetisch beschreibt Nr. 5, in welcher Weise die biblischen Texte selbst Zeugnis menschlicher Erfahrung sind: „… in ihrem Innern (= der Bibel) hallt das Lachen des Menschen wider und fliesen die Tränen, so wie sich das Gebet der Unglücklichen und der Jubel der Verliebten erhebt.“
Im nachsynodalen Schreiben „Verbum Domini“ von 2010 werden all diese grundsätzlichen Aspekte erneut betont und ausführlich entfaltet. „Ich ermuntere daher die Hirten und die Gläubigen, die Bedeutung der Bibel als Seele der Pastoral zu berücksichtigen: Das wird auch die beste Art sein, einigen pastoralen Problemen zu begegnen, die auf der Synodenversammlung zur Sprache kamen … Dort, wo die Gläubigen nicht zu einer Bibelkenntnis gemäß dem Glauben der Kirche und im Schoß ihrer lebendigen Überlieferung herangebildet werden, entsteht in der Tat ein pastorales Vakuum.“ (73)
Zuletzt erschien im Herbst 2014 das Dokument „Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift“, das zwar bisher wenig öffentliche Resonanz erfuhr, aber immerhin erneut deutlich auf die zeitbedingte Haltung bestimmter biblischer Texte verweist (132): „Einige biblische Abschnitte laden dazu ein, darüber nachzudenken, … was ewig gültig ist und was, weil es an eine Kultur, eine Zivilisation oder die Kategorien einer bestimmten Zeit gebunden ist, zu relativieren wäre.“ Ausgeführt wird dies u. a. an der sozialen Stellung der Frau, und das Dokument kommt zu dem Schluss, dass weder „das Schweigen in der Versammlung“ noch die „Unterordnung unter den Mann“ biblisch begründbar sind. Vor einigen Jahren hatten diese Aussagen sicher zu einem breiten Jubelschrei innerhalb der katholischen Gemeinden geführt. Im letzten Jahr blieb es auffallend stumm in dieser Frage. Ist diese Diskussion für die Gläubigen einfach nicht mehr relevant? Haben die meisten schon längst für sich entschieden, dass die biblischen Antworten auf manche ethischen und sozialen Fragen eben wie das Dokument schreibt nicht mehr zeitgemäß sind? Wer nutzt dieses Dokument aktiv in der Auseinandersetzung mit fundamentalistischen oder biblizistischen Argumenten?
„Das Wort ist dir nah …“ (Dtn 30,14) – Exemplarische bibelpastorale Projekte
Bei einer Tagung der deutschsprachigen Katholischen Bibelwerke am 24. April 2015 beschrieb Prof. Dr. Ilse Müllner das derzeitige Phänomen folgendermaßen: „Die Bibel wird vor allem als fremdes Buch wahrgenommen. Sie stammt aus einer fremden Kultur und Zeit, fremd ist die Sprache sogar im Deutschen, fremd und weit weg vom eigenen Leben erscheinen die Themen über die sie spricht, ...“ Es wäre eine spannende empirische Untersuchung, ob es eine Korrelation gibt, wie „fremd“ biblische Texte wahrgenommen werden und wie „nah“ ein Mensch Gottes Gegenwart erfahrt.
Verändert haben sich wohl in den letzten Jahren auch die Ursachen der Fremdheit. Wenn die fragliche historische Zuverlässigkeit die Nahe irritiert, kann bei entsprechender Ausbildung „leicht geholfen werden“ die innere Nahe wieder zu gewinnen. (Als Beispiel: Die Unterschiede in den letzten Worten Jesu – aus Ps 22 bei Markus und Matthäus, aus Ps 31 bei Lukas, oder „Es ist vollbracht“ bei Johannes – sind eben keine historischen Zitate, sondern literarische Gestaltung des wie und wozu des Sterbens Jesu.) So kann „exegetisches, bibeltheologisches und historisches Wissen“ die Distanz vermindern.
Schwieriger wird die Nahe- Distanz-Problematik, wenn scheinbar einfach keine gemeinsamen Berührungspunkte vorhanden sind. Behandelt man die Begegnung von Text und Lesenden wie die Beziehung zwischen Personen, so hilft ein Blick in die Erkenntnisse der Beziehungsforschung. Hier wird konstatiert, und das ist leicht durch eigene Erfahrung nachvollziehbar, dass in Phasen eher distanzierter Beziehung folgende Mechanismen wenig hilfreich sind:
a) sich beklagen, jammern, Forderungen aufstellen,
b) sich noch weiter zurückziehen und verstecken oder c) beeindrucken wollen und eine große Show auffuhren.
Hilfreich, um wieder mehr Nahe zu gewinnen, scheinen dagegen folgende Strategien zu sein:
a) Über eigene Träume sprechen.
b) Darüber reden, was mir am anderen gefallt.
c) Themen finden, die eine gemeinsame, fiktive Zukunft aufzeigen.
d) Längeren Augenkontakt pflegen, sich ansehen, ohne sich über oder unterzuordnen.
e) Uber Verbindendes miteinander reden.
Für die Bibelpastoral als Förderin einer lebendigen Beziehung zwischen Menschen und ihrem Gott, mit dem „Kommunikationshilfsmittel“ des biblischen Textes, hat das verschiedene Konsequenzen. Bibelpastoral ist ungleichzeitig, plural, sehr individuell und kontextabhängig. Biblische Pastoral ist damit so verschieden, wie die Menschen und ihre Art der Beziehungsgestaltung verschieden sind. Die verschiedenen Räume (der Raum der Wissenschaft, der persönlichen Bibellektüre und des Alltagslebens, der Raum der Liturgie und lehramtlichen Verkündigung), in denen diese Beziehung gelebt wird, können einander nicht dominieren, sondern nur ergänzen im gemeinsamen Lesen und Einschwingen in eine größere Beziehung. Drei exemplarische Felder, in denen die Beziehung von Nähe und Distanz in je eigener Weise ausgestaltet wird, werden in diesem Heft vorgestellt: Das Lectio-Divina-Projekt des Katholischen Bibelwerks e.V., Evangelium in Leichter Sprache sowie die Methode des Bibliologs. In allen drei Projekten zeigt sich ein deutliches Wachsen im Lesen der Schrift, sie blühen und gedeihen.
Bei aller Verschiedenheit teilen diese drei sehr unterschiedlichen Projekte und methodischen Zugange in der aktuellen Bibelpastoral einige Gemeinsamkeiten, die eben Nahe und Beziehung hilfreich unterstutzen:
- Je nach Gruppe oder Einzelperson wird ein Text gezielt aufbereitet für das Lesen.
- Alle drei Beispiele enthalten Elemente von identifikatorischem Lesen, die Nähe zum Text bewirken und der Fremdheit entgegenwirken.
- „Freude am Entdecken“ – so beschreiben Aktive und Genießer das gemeinsame Erleben.
- Ein starker ökumenischer Geist tragt die Projekte implizit oder explizit.
- Die organisatorischen und finanziellen Ressourcen der verfassten Kirchen werden in Form von professionellen Mitarbeiter/innen und als Strukturgerüst genutzt.
- Die Erfahrungen zeigen, dass jeweils Selbst- und Gottesbeziehung wachsen – das Lesen der Schrift also sehr konkrete und als förderlich wahrgenommene Wirkungen hat.