Lectio divina
löse das Sternensiegel
und öffne das Buch
in dem die heiligen Worte
dunkel leuchten
wie glühende Fossilien
von erloschenen Feuern
in denen Propheten einst
die Worte geschmiedet
von deinem Atem behaucht
erwachen sie wieder
wie an aller
Wortschöpfung Anfang
schau in jede Seite
wie in einen Spiegel
so als läsest du
deine eigene Biographie
und je mehr dein Leben
in den Text verwoben
verwandelst du dich
in Gottes heiliges Buch
Andreas Knapp
Wer die Bibel liest, begibt sich auf eine abenteuerliche Reise – in ferne Lander, vergangene Zeiten und fremde Kulturen. Wer sie intensiver liest, geht aber auch noch ein anderes Abenteuer ein: die Worte können uns verändern, zur Auseinandersetzung mit eigenen Denk- und Lebensgewohnheiten fuhren. Wie das geschieht? Ein sehr alter und von vielen Menschen begangener Weg, der neuerdings in seiner Kraft wiederentdeckt wird, ist die Lectio divina.
Was bedeutet der Ausdruck „Lectio divina“?
Wer Latein kann, wird es sich schnell übersetzen: „Lectio divina“ bedeutet wörtlich übersetzt „göttliche Lesung“. Doch was meint das? Da fuhren freiere Übersetzungen weiter, z. B. „Gott lesen“, „die Schrift betend lesen“ oder auch „Lesung, die Gott gewidmet ist“. Doch auch dann bleiben noch Fragen offen. Schauen wir uns den Begriff also nochmals genauer an:
Zuerst steht das Wort „Lectio“, das „Lesen“ (der Hl. Schrift). Die Lectio ist in der Tradition der Kirche nicht das schnelle Durchlesen oder Vorlesen einer Bibelstelle. „Lectio“ oder „(col-)lectio“ steht für ein anderes Lesen: ein gesammeltes Lesen, das die Fülle der Schrift zu heben und einzusammeln versucht. Bibeltexte werden darum bei der Lectio divina in einer Haltung hoher Aufmerksamkeit sehr langsam und genau lesen, auch wiederholt gelesen. Man nimmt sich Zeit für den Text, im Moment der Lesung selbst, aber auch bei der Tages- und Lebensgestaltung – denn eigentlich steht Lectio divina in der Regel für eine tägliche oder wöchentliche Übung. Die Lesung ist dann eine Lectio continua – die Schrift wird Tag für Tag, Woche für Woche fortlaufend in ihrem kanonischen Zusammenhang gelesen – und das Gelesene im Alltag bewegt.
Der zweite Begriff „divina“ / „göttlich“ charakterisiert die Lectio aus der Sicht der Lesenden als ein „Gott gewidmetes Lesen der Schrift“ und von Gott her als ein „von Gott durchwirktes Lesen“. Gebet, Meditation und Kontemplation im Leseprozess geben der Wirksamkeit des gottlichen Wortes Raum, die das Leben verwandeln kann.
Pater Ambrosius, Benediktiner in Novy Dvur, fasst den Leseprozess der Lectio divina so zusammen: „Die lectio divina ist eine Art Lesung ohne Eile, welche die gesamte Person fordert und ihr hilft, mit Gott in Verbindung zu treten. Es ist eine Lesung ohne Eile in dem Sinne, dass man nicht eine bestimmte Anzahl Seiten lesen will, man will nicht einmal unbedingt die erste Seite abschließen. Wir suchen darin keine Informationen. (…) Der Wert der lectio divina besteht nicht in den neuen Ideen, die sie uns geben konnte, sondern in dem Wesen, das sie uns zu werden hilft. (…) Diese Lesung erfolgt in einer Atmosphäre voller Andacht, durchwoben von Gebeten. Es ist eine auf die Kommunion mit Gott ausgerichtete Lesung, ein „mit Ihm Sein“. Hierbei geht es nicht darum, nachzudenken, sondern zuzustimmen.“
Papst Franziskus beschreibt die Lectio divina ganz ähnlich: „Es gibt eine konkrete Weise, das zu hören, was der HERR uns in seinem Wort sagen will, und uns von seinem Heiligen Geist verwandeln zu lassen. Es ist das, was wir ‚lectio divina‘ nennen. Sie besteht im Lesen des Wortes Gottes innerhalb einer Zeit des Gebetes, um ihm zu erlauben, uns zu erleuchten und zu erneuern.“ (Evangelii gaudium 152)
Die Geschichte der Lectio divina
Die Anfange der Lectio divina liegen bereits in der Schrift selbst. Schon die ersten Christinnen und Christen lasen ihre Heiligen Schriften, das „Alte“ Testament, als Wort Gottes im Licht ihrer eigenen Erfahrungen mit Jesus Christus, dem Mensch gewordenen Gotteswort (vgl. Joh 1 oder Lk 24). Auch die Kirchenvater der ersten Jahrhunderte empfehlen das Lesen der Schrift, um Gott nahezukommen. Einer der ersten Texte, die das bezeugen, stammt von Origines aus dem Jahr 238 n. Chr. Er schreibt in einem Brief an seinen Schuler Gregor noch nicht von der „Lectio divina“, wohl aber von „lectio“ und „oratio“ – einem Lesen der Schrift, das vom Gebet begleitet sein soll:
„Widme dich der ,lectio‘ der göttlichen Schriften; bemühe dich mit Beharrlichkeit darum. (…) Suche redlich und mit unerschütterlichem Gottvertrauen den Sinn der göttlichen Schriften, der sich in ihnen in reicher Fülle verbirgt. Du darfst dich jedoch nicht damit zufrieden geben, anzuklopfen und zu suchen: Um die Dinge Gottes zu verstehen, bedarfst du unbedingt der ,oratio‘ (des Gebetes).“ (Origenes, Brief an seinen Schuler Gregor)
Origines empfiehlt, in einer betend- hörenden Haltung aus der reichen Fülle der Schrift zu schöpfen. Intellektuelles Verstehen/Lesen/ Forschen und Beten werden nicht voneinander getrennt, sondern brauchen einander. Auch braucht es offensichtlich auf Seiten der Lesenden Beharrlichkeit und Demut. Die Worte „anklopfen“ und „suchen“ zeigen: Der /die Lesende ist nicht „Herr“ über den Text, sondern geht in einen dialogischen Prozess hinein, den auch andere Kirchenvater beschreiben und schließlich als Verwandlungsgeschehen deuten:
„Deine stände Beschäftigung sei das Gebet wie auch die Lesung. Rede du bald mit Gott, dann lass Gott wieder mit dir reden.“ (Cyprian von Karthago an den Laien Donatus)
„Bemühe dich eifrig, ja beständig der lectio divina hinzugeben und bestehe darauf, bis diese ständige Meditation deine Seele durchtrankt und nach seinem Bild umgeformt hat.“ (Johannes Cassian, Collationes XIV,10)
Im Spätmittelalter (12. Jahrhundert) kommt es zur Blüte der Lectio divina und zur Ausfaltung ihrer „klassischen“ Form: Der Kartäuser- Abt Guigo entwickelt für die „Lectio Divina“ eine bestimmte Methodik. Er beschreibt sie als „Himmelsleiter“ mit vier Sprossen: Lectio (das Lesen) – Meditatio (das Nachdenken) – Oratio (das Gebet) – Contemplatio (das Schauen, Staunen und Verweilen). Diese Tradition der Lectio divina wurde vor allem in den Klöstern gepflegt: Neben der Arbeit und dem Stundengebet war auch für sie eine bestimmte Zeit des Tages reserviert.
Nachdem das Lesen und Meditieren der Bibel ab dem 16. Jahrhundert stark zurückgetreten war, greift erst das 2. Vatikanisches Konzil mit der Konstitution „Dei Verbum“ („Gottes Wort“) wieder das Anliegen auf, „dass Gebet die Lesung der Heiligen Schrift begleiten muss, damit sie zu einem Gespräch werde zwischen Gott und Mensch“ (DV 25). In der Folge des Konzils wird das „Bibel-Teilen“ der lateinamerikanischen und sudafrikanischen Basisgemeinden auch in Deutschland populär.
Neue Formen der Lectio divina in Deutschland
In den verschiedenen Zeiten und Kontexten nimmt die Lectio divina die unterschiedlichsten Formen an. Ich mochte im Folgenden zwei Modelle vorstellen, die für ganz unterschiedliche Zwecke geeignet sind und die innerhalb des Netzwerks des Katholischen Bibelwerks e.V. in Deutschland in den letzten zehn Jahren entstanden sind.
Die eine Möglichkeit ist eine Kleinform der Lectio divina, die zu Beginn einer Sitzung als geistlicher Impuls genutzt werden kann. Sie dauert ca. zehn Minuten und kann in Gruppen wie Kirchengemeinderat, Liturgieausschuss, Kinderkirchteam o. a. eingesetzt werden. Die andere Form sind die Lectiodivina- Leseprojekte des Bibelwerks, bei denen eine Gruppe von Menschen sich im wöchentlichen Rhythmus versammelt, um auf diese Weise die Schrift miteinander zu lesen. Diese Form dauert pro Treffen etwa 60–90 Minuten.
1) hören – bedenken – antworten
Als Bibeltext bietet sich das Evangelium des jeweiligen Tages oder des kommenden Sonntags an – oder nur ein Ausschnitt daraus. Der folgende Ablauf, den Egbert Ballhorn aus Dortmund entwickelt hat, hat sich bewährt:
Einführendes Gebet zu Beginn
- hören: Wenn alle sich gesammelt haben, wird der Bibeltext in Ruhe vorgelesen.
- bedenken: Gemeinsames Schweigen über den Text (1–2 Minuten).
An das Schweigen schließt sich ein „Echo“ des Textes an: Die Anwesenden sprechen in das Schweigen jene Worte, die in ihnen nachklingen. Hier gibt es keine Regeln. Man kann mehrmals etwas sagen; es macht auch nichts, wenn manche Dinge mehrfach kommen. Diese Phase dauert 3–4 Minuten.
- antworten: Den Abschluss bildet ein Gebet. Das kann das gemeinsame Vaterunser sein, das kann auch ein kurzes, frei formuliertes Gebet sein, das einen Aspekt des meditierten Bibeltextes aufgreift.
2) Dem Wort auf der Spur: die Lectio-divina- Leseprojekte des Bibelwerks
Für die „geprägten Zeiten“ des liturgischen Jahres im Advent und in der Fastenzeit werden vom Katholischen Bibelwerk e.V. jährlich neue Materialhefte zu den Lesungen, Evangelien oder Psalmen der Advents- und Fastensonntage entwickelt. Enthalten sind Wissenswertes zur Lectio divina, zu den biblischen Texten und Leseunterlagen / Materialblätter zu den einzelnen Texten samt Anleitung, wie das Projekt genau durchzufuhren ist – in der Gruppe oder auch für Menschen, die die geprägten Zeiten so für sich selbst gestalten wollen. Von der Methodik her gehen Lectio- divina-Leseprojekte stark zur klassischen Form der Lectio divina mit den Elementen (mehrfaches) Lesen, Meditation, Gebet und Kontemplation zurück.
Zusätzlich zu den Leseprojekten zu den geprägten Zeiten sind inzwischen im Bibelwerk auch schon einige Ganzschriftlektüren entwickelt worden: zum Markusevangelium und zum Buch Exodus.
Auch haben einige Diözesen diese Form verwendetet, um ihre Zukunftsprozesse spirituell zu begleiten.
Verwandlungen
Seit vielen Jahren übe ich inzwischen in einer Gruppe meiner Kirchengemeide diese Form des Bibellesens. Viele spannende Entdeckungen durfte ich dabei machen. Die allererste ist, dass die Lectio divina mich verändert: Ich komme nach den Treffen nicht nur erholt und erfrischt nach Hause. Sondern die Texte begleiten mich wirklich durch meinen Lebensalltag und geben mir ganz neue Perspektiven auf den Advent Gottes in meinem Leben und unserer Welt. Auch wir als Gruppe verändern uns – wir probieren immer wieder Neues aus, bspw. Korperübungen, um auch in längere Schweige- und Hörzeiten zu kommen. Und so ist es auch ein gutes Zeichen, dass immer wieder neue und jüngere (Frauen) hinzukommen, dass wir die Orte in unserer Gemeinde wechseln, dass wir auch die Alten mit ihrer Lebenserfahrung und ihrem Lebenswissen als unentbehrliche Gesprächspartner zum Verstehen vieler biblischer Texte entdecken, die z. B. ihre Erfahrungen mit Krieg, Flucht, Angst und Alter mit uns teilen.
Dass die Lectio divina das Potential hat, viel zu verändern, lasst sich schließlich auch daran ablesen, dass einige Diözesen die Lectio divina nutzen, um eigene Prozesse geistlich zu unterlegen (Essen, Osnabrück, Freiburg, Paderborn, Munster). Hier entstehen in Zusammenarbeit mit dem Katholischen Bibelwerk e.V. teils eigene Lectiodivina- Projekte oder es werden intensive Schulungen der Hauptamtlichen angeboten, um die geistliche Schriftlesung weiter unter den Gläubigen zu verbreiten.