Der Wechsel in die Fremdperspektive, also der Versuch, Kirche aus den Augen der anderen zu sehen, war spannend und eine große Herausforderung zugleich. So zu denken, löste bei Teilnehmer/innen aus dem kirchlichen Kontext zuweilen Ratlosigkeit, aber auch Depression aus. Das sagt sehr viel über die Realität aus, aber auch über Attraktivität von Kirche für Menschen, die nicht dazugehören! Fünf Impulse nehme ich persönlich vom Kongress mit:
Kirche muss (in ihrer jetzigen Form) selbst sterben
Unsere Idee von einer „bürgerlichen Gesellschaft“, die mit dem Entstehen der Nationalstaaten nach der französischen Revolution verknüpft ist, geht ihrem Ende entgegen. Wir leben in einer Zeit des Übergangs: „Gesellschaft, wie wir sie kennen vergeht, Welt bleit“ (Maren Lehmann). Die Globalisierung holt uns ein: Umweltzerstörung, Armut und Gewalt machen an unseren Grenzen nicht halt. Viele verschließen ihre Augen, verriegeln ihre Türen und vernageln ihre Fenster. Die christliche Kultur und Tradition wird vielfach instrumentalisiert, um diesen Prozess aufzuhalten. Aber wir können uns nicht (mehr) abschotten, um unser kleines Glück zu retten. Das wäre naiv (Angela Merkel).
Und die Kirchen: „Kann es sein, … daß die Kirchen mit der Gesellschaft alt geworden sind und jetzt von der Angst vor ihrem Ende gebannt sind?“ (Maren Lehmann) Jenseits des Klagens darüber dient kirchliches Handeln über weite Strecken dem Erhalt des alten, volkskirchlichen Status quo oder lebt von der Vorstellung, diesen wieder herstellen zu können. Was aber ist die Alternative? Koppeln an eine Gesellschaft, die im Vergehen begriffen ist? Das kann es nicht sein.
Relevant wird Kirche für eine sterbende Gesellschaft, wenn sie ihr nicht zeitverzögert folgt, sondern wenn sie ihr voraus ist, wenn sie ihr zeigen kann, wie Sterben geht. Und das geht nur so: Kirche muss (in ihrer jetzigen Form) selbst sterben, um Antworten zu finden für eine Gesellschaft, die genau dies vor sich hat und sich erkennbar schwer damit tut.
Das Beste daran: Kirche kommt auf dem Weg des Verlustes von Macht und Einfluss, Geld und Vermögen, Glanz und Glorie zu sich selbst, zu ihrem Kernauftrag zurück, die Botschaft der Liebe Gottes in Jesus Christus in Welt und Geschichte zu bezeugen. Eine ‚schwache‘ Kirche (Gianni Vattimo), eine ‚verbeulte‘ Kirche (Papst Franziskus), eine ‚ekklesía ohne Privilegien‘ (Ulrich Engel) verkörpert die Frohe Botschaft glaubwürdiger als eine mächtige, reiche und glorreiche Kirche, (vgl. Dessoy, An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen, in: futur2 2/2015).
Kommunikation und Beziehung
Wir denken meist linear, auch in der Kirche. Kirchliche Akteure fragen in der Regel, wie die Kirche mit ihrer Botschaft, ihrer Moral, ihren Anliegen und Interessen in die Welt kommen, sich dort platzieren kann. Menschen, die kommen, müssen sich – ganz im Sinn der gegenwärtigen politischen Diskussion – integrieren, das heißt anpassen. Das System Kirche verändert sich in dieser Perspektive nicht im Geringsten. Emanzipierende Kommunikation, das heißt eine Kommunikation, die auf das Kommunikationsmedium Macht verzichtet, funktioniert aber nicht so. Die Menschen haben topdown- Kommunikation satt. Das ist ein Grund, weshalb Kommunikation in einer emanzipierten Gesellschaft auch nicht (mehr) zustande kommt.
Kommunikation heißt, dass man sich wechselseitig aufeinander bezieht, indem man dem Gegenüber und seinem Handeln und Reden wechselseitig selektierend Sinn zuund nicht abschreibt. Kommunikation auf Augenhöhe funktioniert nur inklusiv: Durch Kommunikation entsteht ein System, etwas Neues, das die Beteiligten gleichermaßen verändert.
Systeme, die auf machtbasierte Kommunikation verzichten, können dann offen sein für neue Mitspieler, wenn die Innenbeziehung der Akteure stimmt. Wenn – um es am Beispiel zu sagen, die Beziehung zwischen den beiden Kindern im Sandkasten nicht stimmt, wenn ihre Beziehung nicht belastbar ist, wenn sie sich wechselseitig mistrauen, werden sie kein weiteres Kind mitspielen lassen. Dann kommt Macht ins Spiel: Sie müssen sich (ängstlich) abgrenzen, um die eigenen Claims zu sichern (Maren Lehmann). Stimmen die Binnenbeziehungen in der Kirche nicht (mehr)? Macht es genau das den Kirchen wie der Gesellschaft gleichermaßen schwer, sich zu öffnen, inklusiv zu denken und damit in ihren alten Formen zu sterben?
Wenn das zutrifft, lässt sich die Relevanzfrage (letztlich) nur von innen beantworten. Sie steht und fällt mit dem Beziehungsangebot, das Kirche nach innen lebt und Menschen macht, denen sie begegnet. Ein Beziehungsangebot, das auf das Leben und die Zukunft vertraut, kann Kirche nur machen, wenn sie es im Innern selbst lebt. „Seht, wie sie einander lieben!“ (Römer über die Christen, nach Tertullian).
Spiritualität neu erfahren
Wenn ein solches Beziehungsangebot aktuell ganz offensichtlich schwerfällt, wenn Klage über Verlust und Depression, Abgrenzungs- und Restaurierungstendenzen die Binnenbeziehungen dominieren, hat das womöglich einen noch tieferen Grund? Was ist der tragende Grund für das (neue) Beziehungsangebot, das Christen sich und anderen machen?
„Spiritualität, … ist ein Grundbedürfnis des Menschen, so ähnlich wie Sexualität auch“ (Harald Walach). Menschen suchen unermüdlich danach. Sie haben ein Gespür für die vertikale Dimension des Lebens, für das, was existentiell trägt und das, was über die eigene Existenz hinausweist, also für Transzendenz. „Kirchliche Praxis hat dieses Bedürfnis nach Erfahrung, das sich historisch in mystischen Bewegungen geäußert hat, in der Regel eher mit Skepsis beäugt, als gefördert. Spirituelle Erfahrung wird vermutlich zur Basis kirchlicher Verkündigung und Praxis werden müssen, wenn Religion in der postmodernen Gesellschaft eine Zukunft haben soll, die für mehr als nur kleine Gruppen Relevanz haben soll.“ (Harald Walach)
Die Christen haben eine wunderbare Ur-Kunde: Die Erfahrung und das Zeugnis von der grenzendlosen Liebe Gottes, die sich in Leben, Sterben und Auferstehung Jesu Christi gezeigt hat. Aber kann es sein, dass die Vertrauens- und Beziehungskrise in postmodernen Kirchenwelten auch damit zu tun hat, dass es zwar eine tradierte Glaubenslehre, aber kaum noch Glaubenserfahrung gibt, dass viele Kirchenmenschen selbst nicht mehr glauben, was sie verkünden, weil ihnen die existentielle und religiöse Erfahrung dahinter fehlt?
Vieles spricht dafür, nicht zuletzt der inflationär ertönende Ruf nach mehr Spiritualität, der – wäre er denn erfolgreich – wie in einem Dominoeffekt die bestehende Gestalt, Lehre und Moral von Kirche hinwegspülen würde. Spiritualität passt nicht zu fixierten Machtstrukturen, ist immer emanzipatorisch. Beides geht nicht nebeneinander. Der Ruf nach Spiritualität ohne die Bereitschaft, auf Macht zu verzichten und Bestehendes loszulassen, spaltet psychologisch den inneren Widerspruch ab, macht die Kommunikation unglaubwürdig, raubt das Vertrauen in die Beziehungen „innerhalb“ von Kirche, demontiert die Glaubwürdigkeit. Wird Spiritualität instrumentalisiert, um Machtverhältnisse zu stabilisieren, was nicht selten passiert, gilt das erst recht. Die Menschen spüren das und lassen die Finger davon.
Hier geht es ans Eingemachte: Die Vorstellung einer für immer abgeschlossenen Offenbarung in der Vergangenheit lässt sich nicht mehr halten: Offenbarung ist Erfahrung und geschieht jetzt. Die tradierte Glaubenserfahrung des Volkes Israel und ganz besonders die Erfahrung mit der Person Jesu von Nazareth ist die Folie, das, was sich heute zeigt („offenbart“) zu verstehen.
Grenzgänger gesucht
Wenn es stimmt, was Stefan Heße, der Erzbischof von Hamburg, sagt, dass wir in der Kirche einen „Systemwechsel“ brauchen (Quelle: http://www.erzbistum-koeln. de/kirche_vor_ort/neue-wege/aktu elles/Kirche_sucht_neue_Wege/), ist die entscheidende Frage, wie angesichts des weithin geltenden Arrangements, die Verhältnisse so zu belassen, wie sie sind, überhaupt Bewegung entstehen kann. Oder umgekehrt: Was hält das Ganze so nachhaltig stabil? Obwohl seit vielen Jahren alle relevanten Informationen auf dem Tisch liegen. Obwohl es an scharfsinnigen Analysen nicht mangelt. Obwohl es an Versuchen, Kirche neu zu denken, nicht mangelt und der gute Wille ganz vieler sich nicht leugnen lässt.
Meine Idee: Es ist systemisch gesehen normal! Jedes System versucht innerhalb bestimmter Toleranzgrenzen stabil (also funktional) zu bleiben. Ganz offensichtlich ist der kritische Punkt, an dem das System kippt und einen neuen Status quo anstrebt (den Systemwechsel vollzieht), einfach noch nicht erreicht. Die kritische Masse derer (im Innern), die Ernst machen und „losgehen“, im biblischen Sinn „umkehren“ wollen und es auch tun, ist noch nicht erreicht. Was braucht es dazu?
Fluide wird die Kirche an den Rändern und von unten. Gebraucht werden mutige Grenzgänger, Kundschafter, Experimentalisten, die operativ relevante Unterschiede herstellen im doppelten Sinn: Sie stehen für eine veränderte, innovative, visionäre, emanzipative Praxis, die Menschen heute existentiell-religiöse Erfahrung ermöglicht, die relevant für ihr Leben ist, und zugleich für neue, bunte, frische Formen von Kirche-Sein, die Zukunft eröffnen und damit Abschied ermöglichen können. Diejenigen, die losgehen, müssen (ja dürfen) nicht in eine Richtung laufen, im Gegenteil. Wichtig ist, dass viele gehen. Zu zweit und in möglichst viele unterschiedliche Richtungen!
Um fluide zu werden, braucht es aber auch Signale und Impulse von innen und von oben. Kirchenleitung wird gebraucht, um das „Gehen“ (Experimentieren) und „Kommen“ (Inklusion) zu ermöglichen, indem Raum gegeben und Mut zugesprochen wird. Kirchenleitung ermächtigt zum Gehen, ermöglicht den Exodus. Das geht nur mit Glaube und Vertrauen (s. o.).
Neues geschieht an den Peripherien
Systeme werden fluide, wenn sie an den Grenzen durchlässiger werden. Das geschieht, wenn netzwerkartige Strukturen entstehen (vgl. A. Karafillidis, Entkopplung und Kopplung. Wie die Netzwerktheorie zur Bestimmung sozialer Grenzen beitragen kann). Bewegung kommt nicht in die Sache, wenn Themen wie „Zölibat“, „Priestertum der Frau“, Zulassung zur Eucharistie … in den Mittelpunkt gestellt werden, die seit Jahren festgefahren sind und die vermutlich die Menschen draußen kaum interessieren. Es muss dort passieren, wo nicht sofort die altbewährten Reflexe greifen, also in der Peripherie und an Punkten, die für die Menschen eine Relevanz haben.
Gerechtigkeit und Spiritualität, „Megatrends“ unserer Gesellschaft (Zulehner), sind entscheidende Ansatzpunkte. Die vielen Flüchtlingsprojekte etwa zeigen, wie Kirche an Glaubwürdigkeit und Relevanz gewinnt, wie plötzlich Menschen Kontakt suchen, die sich längst verabschiedet oder nie etwas mit ihr zu tun hatten. Und wie dann auch Anknüpfungspunkte entstehen, über die eigene Motivation über innere Haltungen und Orientierungen, über Erfahrungen und (Glaubens-) Überzeugungen zu sprechen.
Und die Flüchtlingsprojekte geben auch den zentralen Hinweis auf den Schlüssel, wie die Grenze durchlässig gemacht werden kann. „Offen zu sein“ reicht nicht, weil dahinter die Erwartung steht (zumindest vermutet wird), dass sich die Kommenden drinnen (system-)konform zu verhalten haben. (Junge) Menschen suchen nach Möglichkeiten, sich und ihre Ideen einer besseren Welt, einer friedvolleren Zukunft, eines gelungenen Lebens und spiritueller Erfahrung zu entfalten, mit anderen auszuprobieren und umzusetzen. Hierfür könnte Kirche vor Ort die Plattform sein (so Milad Morat in seinem Statement beim Kongress). Junge Menschen suchen nach solchen Räumen und finden sie auch, allerdings nicht (mehr) in der Kirche oder besser gesagt – noch nicht.
Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserm Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserm Leibe offenbar werde (2 Kor 4,10). Kirche muss leben (neu lernen), um sterben zu können.