Die vielfältigen Sozialformen der frühen Jesusbewegung haben sich nach der Konstantinischen Ära (in Anlehnung an gesellschaftliche Organisationsformen) in die Gestalt der „Priesterkirche“ gewandelt. Diese hat über Jahrhunderte das Bild und die Praxis der Kirche bestimmt. Vor allem nach dem „Sieg“ des Papstes über den Kaiser verdichtete sich die Gleichsetzung von Kirche und Priester. Diese sorgten sich um das Laien-Volk und „versorgten“ es mit den Heilsgütern (Sakramente) sowie mit moralischen Lebensweisungen. Zumal in der nachreformatorischen Ära war aus gemeinsamem Überlebensinteresse die Zusammenarbeit der Kirche mit den Herrscherhäusern eng. Das verschaffte der Kirche Unterstützung durch die Herrschenden, die ihrerseits – wie z. B. im österreichischen Josephinismus – die Kirche für ihre Interessen beanspruchte. Die Seelsorge konnte mit starker gesellschaftlicher Unterstüt zung rechnen und war, zumindest von außen besehen, als „Priesterkirche“ überaus „erfolgreich“. Europa war im konfessionellen Zeitalter beinahe lückenlos „durchmissioniert“. Wer nicht zu einer Konfession gehören wollte, wurde ins Jenseits und später ins Ausland ausgewiesen.
Definitives Ende der Konstantinischen Ära
Die Konstantinische Ära in ihrer nachreformatorischen Gestalt ist inzwischen definitiv zu Ende gegangen. Zu Ende geht damit jene Zeit, in welcher Christsein in konfessioneller Gestalt ererbtes „Schicksal“ war. Jetzt sind die Menschen frei, Religion ist Thema einer „Wahl“ geworden. Waren früher alle aus unentrinnbarem gesellschaftlichem „Zwang“ Mitglieder einer Konfession, so stehen sie heute unter dem „Zwang zur Häresie“ (Peter L. Berger). Entscheidend für einen positiven Ausgang der „Wahl“ ist der Zugang zu attraktiven Gratifikationen, also dem, was anzieht, Diese müssen das, was abstößt, also die Irritationen weit in den Schatten stellen. Da es den Kirchen mit ihrer herkömmlichen pastoralen Performance bei einer beträchtlichen Zahl selbst von getauften Mitgliedern nicht gelingt, das Evangelium mit hinreichenden Gratifikationen in deren Lebensalltag einzuweben, „wählen“ sich relativ besehen viele Menschen aus der Kirche aus und „wählen“ auch zunehmend viele ihren Nachwuchs nicht mehr ein. Die Zahl der Kirchenmitglieder mindert sich auf diese Weise unspektakulär aber stetig. In einer solchen Übergangszeit sollte die Benchmark nicht bei hundert Prozent liegen, von der heruntergejammert wird; vielmehr sollte mutig von null Prozent hinaufgezählt werden. Die Folge ist, dass sich die Gesellschaften weltanschaulich „verbunten“. Die Anzahl der formellen Kirchenmitglieder nimmt ab. Über die formale Kirchenmitgliedschaft hinaus entstehen neue Formen der Bezogenheit (Grace Davie: vicarious religion). Formell besehen verstehen sich immer mehr Katholiken auch als Christen. Persönliche Glaubensentscheidung und Einbindung in tragende Netzwerke werden für konsequente Christlichkeit wichtig. Belonging geht vor believing. Damit nähert sich die über Jahrhunderte durchmissionierte Kirche in Europa wieder dem biblischen Normalfall.
Tiefgreifender Kirchenumbau
Diese neue historische Situation nötigt die Kirche zu einem tiefgreifenden Umbau ihrer überkommenen Sozialgestalt. Die Strukturen müssen der neuen Lage der Kirche in der Gesellschaft ebenso angepasst werden wie die leitenden Visionen. Derzeit freilich haben wir eher neue Schläuche ohne neuen Wein. Es gilt wie einst: „In jenen Tagen waren Worte des Herrn selten, Visionen waren nicht häufig.“ (1 Sam 3,1)
Natürlich braucht es einerseits Strukturen für die geringere Zahl an Kirchenmitgliedern, für welche auch weniger herkömmliche, also ehelose und akademisch ausgebildete Männer-Priester zur Verfügung stehen. Auch die Finanzen reichen für die Finanzierung der tradierten Sozialgestalt nicht aus.
Andererseits gilt es aber Leben und Dienst der Kirche den Lebensverhältnissen moderner Menschen anzunähern. Sowohl Verkündigung als auch Liturgie bedürfen einer neuen Sprache, die sich zur Lebenswirklichkeit der Menschen über-setzt. Auch die Armut trägt ein neues Gesicht. Die freiheitlichen Gesellschaften ermöglichen zudem vielfältige Lebensstile. Die Bereitschaft zum Commitment am Leben und an Projekten der Kirche variiert je nach Milieu stark, wobei dieser zumeist eine persönliche Entschiedenheit zugrunde liegt, sich der Jesusbewegung anzuschließen und diese in ihrem Leben und Wirken zu unterstützen. Eine solche Vielfalt ist in kleiner gewordenen Gemeinden allein nicht zu kultivieren. Kirchturmpastoral, also „Campanilismo“, ist überholt, obgleich die Kirche in Ruf-und Reichweite bleiben muss. Localizing und regionalizing ergänzen einander. Es braucht größere pastorale Räume zumindest für bestimmte Vorgänge, wie Bildungsveranstaltungen, diakonale Projekte wie z. B. die Aufnahme von Flüchtlingen, für die Begleitung und Förderung ehrenamtlich Engagierter, Jugendarbeit. Dominiert in der lokalen Gemeinde das gläubige Miteinander, stehen im regionalen Raum pastorale Projekte im Vordergrund. All das wird künftige Priester in der Leitung ziemlich fordern. Es wird zusätzliche Aus- und Weiterbildungsmodule brauchen.
Vertiefung von Kirche und Laie auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil
Diesen neuen Herausforderungen kommt die Redefinition der Kirche und damit von Laien und Priestern auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu Gute. Die Vision von der Kirche wurde theologisch vertieft und mit dem Blick auf die Zeichen der Zeit erweitert. Das Bild der Priesterkirche wurde vom biblischen Leitbild des wandernden Gottesvolks abgelöst. Das „pastorale Grundschisma“, das Jahrhunderte lang zwischen sorgenden Priestern und versorgten „Gläubigen“ bestand, sollte schrittweise abgebaut werden. Dabei wurden in einer ersten Phase einige Laien über die Trennlinie zwischen Klerikern und Laien auf die Seite der Priester geholt und an Aufgaben beteiligt, die traditionell bei den Priestern angesiedelt waren. In einer zweiten Entwicklungsphase wurde das Grundschisma selbst aufgelöst. Jetzt wird aus der Ordination der Priester nicht mehr eine Subordination der Laien. Vielmehr besteht nunmehr – aufgrund der Wiedergeburt in Jesus Christus – eine wahrhafte Gleichheit an Würde und Berufung (LG 32, CIC can 208). So gibt es in der Kirche nur mehr Berufene und Begabte; niemand ist unberufen, niemand unbegabt. Kirche sind jetzt alle, nicht nur die Kleriker. Deshalb sind auch Priester zunächst „Laien“: Mitglieder im laós, im Volk Gottes. Und alle von Gott „hinzugefügten“ (Apg 2,47) Getauften haben den Auftrag, Dienst und Leben der Kirche mitzutragen. Dazu ist allen die Offenbarung des Geistes gegeben (1 Kor 12,7) und mit dem Geist eine bunte Vielfalt von Charismen, die als unmittelbare Geistgabe nicht aus dem Charisma des Amtes entspringen. So bleibt jede und jeder Getaufte als Gottes Mitarbeiter und Mitarbeiterin verantwortlich dafür, seine Charismen zu erkennen, zu entfalten und in das Leben der Kirche einzubringen.
Diese vertiefte Sicht des Konzils von der Kirche und den Laien hat reiche Frucht getragen. Die Kirche hat heute wie noch nie zuvor engagierte Frauen und Männer, die als Gottes (haupt- wie ehrenamtliche) Mitarbeitende in dessen Kirche auch eine entsprechende Kirchenkultur erwarten. Dazu zählen Anerkennung, Gestaltungsmacht und Teamarbeit.
Priesterbild im Wandel
Das Konzil ist mit der Redefinition der Kirche sowie des Laien weit vorangekommen und hat auf der Basis der Pastoralkonstitution (Gaudium et spes) die Kirche angesichts der Herausforderungen der modernen Kulturen in eine gute Ver fassung gebracht. Hinsichtlich der Redefinition des kirchlichen Amtes gelang die Vertiefung mehr für das Bischofs- denn für das Priesteramt. Dass bereits wenige Jahre nach dem Konzil 1971 eine Bischofssynode zu den Priestern stattfand und in den Ortskirchen engagiert diskutiert wurde, zeigt dass das Konzil die Entwicklung des Priesterbildes angestoßen, aber nicht ausgeführt hat. Das hat den Vorteil, dass das Priesterbild formbar geblieben ist.
Kernaufgabe: Dienst an der umfassenden Einheit
Einige wenige Merkmale der Amtstheologie sind allerdings unbestritten. Aufgabe des Amtes ist es, die anvertraute „Portion der Kirche“ (can 369) in der Spur des Evangeliums zu halten. Deshalb wird dem Amtsträger bei der Ordination das Evangelium anvertraut, dem Bischof aufs Haupt gelegt. Zur katholischen Amtsauffassung gehört dann zur Verantwortung für die diachrone Einheit (Traditionstreue durch die Zeit hindurch) auch jene für die synchrone Einheit: Amt symbolisiert und sichert den Verbund einer kirchlichen Teileinheit mit der Ortskirche und auf diese Weise mit der Gesamtkirche. Die Treue zum Evangelium zu wahren obliegt natürlich jedem Kirchenmitglied, das kirchlich ist. Das Amt ist „im Namen der Kirche“ für die Evangeliumstreue haftbar gemacht und dazu ordiniert.
Dieser Dienst am Evangelium ist mit dem Vorsitz bei der Eucharistie und der geistlichen Leitung von anvertrauten gläubigen Gemeinden eng verbunden. Das ist faktisch so und entspricht einer historisch gewachsenen Tradition. Ob dies in allen Fällen zwingend ist, darüber wird zumindest diskutiert. Es gibt (hauptamtliche) Laien, die Gemeinden leiten.
Im Lauf der Geschichte der Kirche gab es auch Situationen, in denen – in Ermangelung von Ordinierten – ein „priesterliches“ Gemeindemitglied der Eucharistie vorstand. So beschreibt Tertullian indirekt, das um 209 das „offerre et tinquere“ (Eucharistie und Taufe) gegebenenfalls auch unter der Leitung von Laien geschehen konnten (Tertullian, „De exhortatione castitatis“ 7,3, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 29 [1987] 31–46).
Die Mehrzahl der pastoralen Tätigkeiten haben in der „Priesterkirche“ zwar faktisch über Jahrhunderte bei Priestern „ressortiert“ und gelten in diesem Sinn bis heute vielfach noch als „presbyteral“. Dazu gehören trösten, raten, lehren, erziehen und bilden, auf den Empfang der Sakramente vorbereiten. Manche meinen aus diesem Grund, sie wären daher von den Priestern an Laien nur „delegiert“ worden. Dies sei leider insbesondere in Zeiten des Priestermangels erforderlich. Konsequent weitergedacht führt das zu der Behauptung, dass – würde es wieder genug Priester geben – es keine Laien in der Seelsorge mehr brauche.
Sekundärer Neoklerikalismus
Die geschichtliche Entwicklung hat die Priester hinsichtlich des ererbten Reichtums an pastoralen Aufgaben „entblößt“. Das priesterliche Portfolio ist geschrumpft, damit sind aber auch Bedeutung und Macht kleiner geworden. Ein Teil der Priester reagiert darauf mit einem „sekundären Neuklerikalismus“. Er entspringt der Sorge um einen Bedeutungsverlust des Priesters in der Kirche. Manche meinen, das Ausbluten der Priesterrolle dadurch zu stoppen, dass sie die Laien aus den vermeintlich ihnen zustehenden Aufgaben und Verantwortlichkeiten wieder hinausdrängen. Das betrifft die hauptamtlichen Laien ebenso wie die pastoralen Gremien, welche die Verantwortung der Laien sicherstellen sollen: „Neoklerikale“ Priester ziehen sich meist auf die Liturgie zurück, fühlen sich durch die pastoralen Gremien in ihrer priesterlichen Verantwortung unzulässig begrenzt und nehmen diese deshalb oftmals nicht ernst.
Pflicht und Kür
Priester hingegen, die sich auf die neue Lage einlassen, werden einerseits ihre „Ordinationsaufgaben“ bewusst wahrnehmen. Sie tauchen tief in das ihnen anvertraute Evangelium ein und nehmen es sich zu Herzen. Von hier her gestalten sie den Vorsitz in der Eucharistiefeier und den dieser angebundenen Sakramenten. Das macht Priester zu authentischen „christlichen Gurus“ (Karl Rahner). In der ostkirchlichen Tradition sind dies die „Starzen“, die Alten. Das Evangelium inspiriert auch ihre Leitungsaufgabe, bei der sie sich an den zum Dienst anstiftenden Leitbildern der Bibel orientieren: am Hirten (Ez 34, Joh 10), am Galeerensklaven (Phil 2,6–8), am Tischdiener (Luk 22,24–27) an der Fußwaschung (Joh 13,12–17). Sie sehen ihre Aufgabe darin, die Charismen der Kirchenmitglieder zu fördern, ihnen im Leben und Wirken der gläubigen Gemeinschaft Platz zu schaffen und zu sichern, dass die Offenbarung des Geistes „allen nützt“ (1 Kor 12,7), also sich gemeinwohlorientiert auswirkt.
Über die „Ordinationsaufgaben“ hinaus wird ein Priester „Charismenaufgaben“ wahrnehmen. Wie jedes andere Kirchenmitglied wird auch er seine sonstigen Charismen erkunden, entfalten und im Leben und Wirken jener gläubigen Gemeinschaft einbringen, in der auch er ein „Hinzugefügter“ ist. Hier ist mit einer ebenso großen Vielfalt von Priestern zu rechnen als diesen von Gottes Geist Charismen gegeben sind.
Ob Priester sich künftig in ihren Ordinations- und Charismenaufgaben gut entfalten können, hängt nicht nur von einer gediegenen Ausund Fortbildung ab. Entscheidend wird sein, ob es auch ausreichend viele Priester gibt.
Priestermangel verzerrt Priesterbild
Der Priestermangel stört die Entfaltung der Bilder von Kirche, Laien und Priestern, die durch das Zweite Vatikanische Konzil angeregt wurden, und verzerrt sie langfristig. Die Regel sollte sein, dass dann, wenn es gilt, in der Kraft des Evangeliums „Gemeinden zu gründen und zu leiten“ (so formulierten 1977 die Deutschen Bischöfe in der Ordnung der pastoralen Dienste: „Er soll ‚in Person und Auftrag Jesu Christi [vgl. 2 Kor 5,20] … die Gemeinde und ihre Glieder zu ihrem eigenen Dienst bereit und fähig machen, Gemeinden gründen und leiten, der Gemeinde neue Glieder zuführen und für deren Einheit in Christus Sorge tragen [vgl. Eph 4,12].“), eine Ordination erfolgen soll. Das müsste das entscheidende „Zulassungskriterium“ sein. Dabei ist durchaus denkbar, dass die gläubigen Gemeinden und Gemeinschaften selbst (wie in der syromalabarischen Kirche) aus dem Kreis „gemeindeerfahrener Personen“ (personae probatae) ihren Kandidaten (aus)wählen und dann dem Bischof zur Ausbildung sowie zur Ordination präsentieren. Je nach Aufgabe könnte die Ausbildung variieren. Lebensstand und Geschlecht werden dabei künftig eine nachrangige Rolle spielen, wobei gemeindeleitende Priester eher verheiratet wären als mobile gemeindegründende. Die Einrichtung lokaler Presbyterien (oder, wie Fritz Lobinger schreibt, eines „Team of elders“) bietet sich an. Künftig wird es auch nebenamtlich tätige Priester geben können.
Die Priesterbilder werden jedenfalls künftig eine hohe Vielfalt aufweisen. Und solange die Kirche im Umbau begriffen sein wird, werden jene, welche die Kirche ins Amt bittet, ständig lernen müssen. Das mag Ängstliche verunsichern, reife Persönlichkeiten hingegen beflügeln.