Zur Rolle der Gemeindecaritas in einer Kirche der ZukunftDie Einheit von Wort und Tat

Zentrale kirchliche Dokumente haben immer wieder auf die Bedeutung der Caritas für ein christliches Leben hingewiesen. Im folgenden Beitrag zeigt Rainer Kardinal Woelki auf, welchen Ort die Caritas in derzeit neu aufbrechenden ekklesiologischen Reflexionen und in partizipativen Formen des Kircheseins besitzt.

In der sehr bekannten Erzählung vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) liegt ein Mann nach einem Raubüberfall halbtot auf der Straße – für ihn geht es um Leben und Tod. Die beschriebene Situation fordert Nächstenliebe als unmittelbare Tat, die das Leben rettet. Dabei werden drei unterschiedliche Personen mit der durch die Räuber geschaffenen Situation konfrontiert. Die ersten beiden, ein Priester und ein Levit, also hochrangige religiöse Vertreter, reagieren aber genau nicht opferbezogen bzw. ignorieren die Situation sogar aus religiösen Motiven. Der Samariter, also einer, der nicht zur religiösen Gemeinschaft gehört, kommt vorbei und „erbarmt sich“. Er behandelt die Wunden, er kümmert sich um den Weitertransport und veranlasst die weitere Versorgung des Opfers. Die religiösen Repräsentanten tragen in der Erzählung nichts zur Behebung der Verhältnisse bei. Am Ende erweist sich, dass der Samariter die Situation, die durch Raub und Körperverletzung entstanden ist, pragmatisch löst und damit angemessen und ethisch richtig. „Dann geh und handle genauso!“ (Lk 10,37), so der Auftrag Jesu. Zum Vorbild wird der Mann aus Samaria allein durch sein Handeln – nicht durch fromme Worte.

Zur theologischen Bedeutung des Tatzeugnisses

Die Bedeutung des Tatzeugnisses gehört zu den zentralen Inhalten des apostolischen Schreibens Evangelii nuntiandi (EN) von Papst Paul VI. aus dem Jahr 1975. Es betont den Vorrang des gelebten Zeugnisses und spricht vom „Zeugnis ohne Worte“ (EN 21). Denn die fehlende oder gar gegenläufige Tat zerstört das Wort des Evangeliums, das fehlende Wort aber nicht die Tat der Liebe, auch wenn ihr dann einiges fehlt. Denn Gott ist, wie uns die erste Enzyklika des emeritierten Papstes Benedikt XVI. Deus Caritas est (DCE) in Erinnerung ruft: Liebe. „Die karitativen Organisationen der Kirche stellen dagegen ihr opus proprium dar, eine ihr ureigenste Aufgabe, in der sie nicht mitwirkend zur Seite steht, sondern als unmittelbar verantwortliches Subjekt selbst handelt und das tut, was ihrem Wesen entspricht“ (DCE 29). In den karitativen Einrichtungen und Diensten kommt ein unmittelbares Handeln der Kirche zum Ausdruck. Damit gibt die Enzyklika mit lehramtlicher Autorität der institutionalisierten Caritas einen theologischen Ort. „Die Kirche kann den Liebesdienst so wenig ausfallen lassen wie Sakrament und Wort“ (DCE 22). Die Botschaft ist klar. Eucharistie und Nächstenliebe gehören untrennbar zusammen. Eine Trennung vom Glauben, den man glaubt und vom Leben, das man lebt, gibt es nicht. Und das gilt für die gemeindliche und verbandliche Caritas in gleicher Weise.
Ganz in der Linie der ersten Enzyklika Benedikts, schreibt auch Papst Franziskus in seinem apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (EG), dass aus der Natur der Kirche selbst zwangsläufig wirkliche Nächstenliebe entspringe, „das Mitgefühl, das versteht, beisteht und fördert“ (EG 179).

Glaubenstradierung in der Krise

Nun treffen diese lehramtlichen Aussagen auf eine verunsicherte Ortskirche. Wie gelingt Glaubenskommunikation, wie Glaubensweitergabe, wie Kirchesein, wie christlich verantwortete Nächstenliebe in unseren Zeiten? Aktuell nehme ich vielerorts eine Unklarheit wahr, wie es mit der Kirche hierzulande weitergehen soll. Dazu können wir uns nur im Vertrauen auf Gott aufmachen – wie Abraham. Wie Abraham müssen wir auch als Ortskirche Abschied nehmen und Vertrautes zurücklassen. Dieser Aufbruch wird auch die Rolle der Caritas in den Gemeinden verändern. Aufbrechen dürfen wir in dem Bewusstsein, dass die Kirche zu allen Zeiten neue Formen gefunden hat, die Antwort gaben auf die Herausforderungen der jeweiligen Gegenwart. Auch heute spüren wir, dass die augenblickliche Form unseres Kirche-Seins vielerorts nicht mehr passt. Wir sehen das unter anderem daran, dass von ihr eher selten eine wirklich prophetische Kraft ausgeht, dass sie unseren eigenen Glauben nicht mehr ausreichend nährt und uns darum kaum noch missionarisch und evangelisierend sein lässt.
Schon vor fünfzig Jahren wurden auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil Beschlüsse gefasst, den damals bereits absehbaren (welt-)gesellschaftlichen Wandel nicht einfach so hereinbrechen zu lassen, sondern ihn aus dem Glauben heraus aktiv mitzugestalten. Wir müssen die Veränderungen in der Welt, in Wirtschaft und Politik, in Gesellschaft und Kirche in all ihren Aspekten als Zeichen der Zeit lesen und als unsere heutigen Herausforderungen annehmen. Allerdings müssen wir auch zugeben, dass wir in unserer eigenen kirchlichen Entwicklung diese Herausforderungen lange nicht oder nur halbherzig angenommen haben. Wir haben uns an Überkommenem orientiert, statt im Vertrauen auf die mitgehende Nähe Gottes die anbrechende Zukunft gemeinsam mit allen Getauften und Gefirmten zu ergründen, zu gestalten und zu verantworten.

Wege aus der Krise

Gemeindliches Leben ist nicht nur dort, wo der Priester ist. Gemeindliches Leben findet überall dort statt, wo Menschen liturgia, martyria, diakonia und koinonia leben, d. h. wo Menschen in Einheit mit der Orts- und Weltkirche gemeinsam die heilige Eucharistie und in weiteren Formen Gottesdienst feiern (z. B. Laudes, Vesper, Taizégebet, Bibel-Teilen, Kreuzweg, Rosenkranz), in Wort und Tat den Glauben bezeugen und ihren Nächsten dienen. Gerade der Dienst am Nächsten hat entscheidenden Anteil an der Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses. Wenn es gelingt, dass sich getaufte Christen als mitverantwortlicher Teil von Kirche erfahren, sich im sozialen Nahraum als Kirche zusammenfinden und als örtliche Substruktur der großen Pfarrei miteinander beten, das Wort Gottes miteinander teilen und darin ihre Sendung in ihrem sozialen Nahraum erkennen und diesen mitgestalten, dann werden wir Kirche und Gemeinde – und auch Caritas – vor Ort sein können, wo die Menschen leben oder arbeiten: in der Mitte unseres alltäglichen Lebens.

Von der versorgten zur mitsorgenden Kirche

Das Zweite Vatikanische Konzil sieht die Kirche nicht als etwas Statisches, sondern u. a. als pilgerndes Volk Gottes, in dem jede und jeder Getaufte Charismen – d. h. besondere Talente und Gaben – geschenkt bekommen hat, durch die jede und jeder etwas Kostbares und Unverwechselbares beizutragen hat zum Leben der Kirche und ihrer Sendung in dieser Welt. So denke ich, dass die Kirche der Zukunft keine von Hauptberuflichen mehr versorgte Kirche sein wird, sondern eine miteinander gestaltete, getragene und verantwortete Kirche, in der es verschiedene Dienste und Rollen, doch keine unterschiedliche Würde der Getauften gibt.
Diese Sicht der Kirche ist nicht neu. Sie greift schon Gedanken aus den neutestamentlichen Paulusbriefen und der frühchristlichen Praxis auf. Und im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil hat die gemeinsame Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland Mitte der 1970er Jahre bereits formuliert: „Aus einer Gemeinde, die sich pastoral versorgen lässt, muss eine Gemeinde werden, die ihr Leben im gemeinsamen Dienst aller und in Eigenverantwortung jedes einzelnen gestaltet“. Die Wirkung dieser Einsicht blieb jedoch begrenzt. Zwar entstanden Gremien der Mitverantwortung wie etwa die Pfarrgemeinderäte, und zahlreiche Frauen und Männer begannen, sich vermehrt in Katechese, Liturgie und karitativer Arbeit zu engagieren. Da es aber in den damaligen Jahrzehnten noch recht gut mit Priestern, Diakonen und hauptberuflichem pastoralem Personal bestellt war, blieb die Verantwortung weitgehend bei den Hauptberuflichen.
Inzwischen ist unsere Situation eine andere geworden. Es gilt nun endlich zu erwägen, die seit Jahrzehnten abnehmende Zahl an Priestern, Diakonen, an Hauptberuflichen im pastoralen Dienst sowie an Menschen, die sich ehrenamtlich in unseren Gemeinden engagieren oder die Gottesdienste besuchen als einen konkreten Hinweis anzunehmen, sich von der Vorstellung einer versorgenden Kirche zu verabschieden und uns als Ortskirche anders auszurichten.

Lernen aus der Weltkirche

Aus den Erfahrungen der Weltkirche durften wir in den vergangenen Jahren vieles lernen. In den meisten Diözesen der Welt sind flächenmäßig große pastorale Einheiten und eine sehr geringe Zahl an hauptberuflichen pastoralen Diensten seit jeher Realität. Und doch findet sich bis in die Stadtränder und Dörfer hinein eine lebendige Kirche, getragen durch Getaufte, die ihre Verantwortung als Volk Gottes leben. Es können weltweit alle voneinander lernen. Das heißt nicht, dass die Dinge nur einfach eins zu eins zu übertragen sind, sondern dass wir vielmehr verstehen lernen, welche Visionen und praktischen Lösungen den verschiedenen Ortskirchen den Weg weisen, um auch weiter Kirche für und mit den Menschen zu sein und um so u. a. auch die Caritas Jesu Christi lebendig zu halten.
Den Verheißungen Gottes und seiner mitgehenden Nähe vertrauend, hat sich sein Volk durch alle Zeiten hindurch auf den Weg in eine Zukunft gemacht, von der es nicht wusste, wie sie konkret aussehen würde. Glaubendes Vertrauen ging mit – und die Träume, Sehnsüchte und Visionen der Menschen, die an Gott glaubten. Jesu Verheißung vom Anbruch des Reiches Gottes mitten unter uns ist in der christlichen Glaubenstradition eine tragende Zusage. Und dies ist auch unsere zentrale Sendung als Kirche: Sich dafür in den Dienst nehmen zu lassen, dass sein Reich unter den Menschen und mit ihnen Wirklichkeit wird – das ist gelebte Gemeindecaritas. Doch ohne eine gemeinsame Vision sind weder Aufbruch noch Weitergehen möglich. Neue Wege entwickeln nur dann eine Überzeugungskraft, wenn sie von einer Vision geleitet sind, die möglichst viele Menschen teilen. Innerhalb unserer großen Pfarreien und Seelsorgebereiche sollten sich Gemeinden und Gemeinschaften bilden, die umeinander wissen, gut vernetzt sind, sich zur Feier der sonntäglichen Eucharistie sammeln und sich von dort aus wieder senden lassen in die Welt von heute. Dies ist ein Idealbild, das auch beschwerliche und unsichere Wegstrecken angehen lässt. Auch wenn wir natürlich wissen: Wo zwei oder drei in Jesu Namen versammelt sind, da gibt es Konflikte, da treffen unterschiedliche Vorstellungen und Wünsche aufeinander. Solche Konflikte gehören zu unserem Leben genauso wie zu unserem gemeinschaftlichen Glauben. Sie sind da und sie dürfen sein – auch in der Kirche. In der Weise aber wie wir mit diesen Konflikten umgehen, zeigt sich Gottes Geist, ebenso wie in den Lösungen, die wir mit Gottes Hilfe gemeinsam finden – wenn wir auf ihn hören. Es gilt neu zu lernen, was Einheit in Vielfalt bedeutet.

Nicht wir sind die Macher – Christus ist es

Eine Kirche, die auf Partizipation, Mitverantwortung und den Reichtum des Glaubens aller Getauften setzt, braucht eine Veränderung mancher Haltungen und Rollenmuster. Mich ermutigt, dass sich das Rollenverständnis unserer pastoralen Dienste so dynamisch entwickelt. Grundlegend ist dabei die Rückbesinnung auf die je eigene Berufung. Denn es erfordert tiefes Gottvertrauen, gewohnte Pfade zu verlassen und Ungewohntes zu tun. Viele unserer Priester, Diakone und Mitarbeitenden in der Pastoral sind schon keine „Versorgenden“ mehr, die vieles alleine tun wollen oder sollen. Die Herausforderung ist, unsere Arbeit als Geweihte oder als Hauptberufliche im kirchlichen Dienst in dem Sinne zu verändern, dass wir noch klarer zu geistlichen Begleitern der engagierten Getauften werden. Und natürlich gilt auch für die Geweihten und die Hauptberuflichen, sich selbst immer wieder bewegen und bekehren zu lassen vom Anderen, vom Gegenüber. Nicht wir sind die Macherinnen und Macher; Christus ist es und er begegnet uns in vielerlei Gestalt.
Doch Rollenveränderungen stehen nicht nur für die Priester, Diakone und hauptberuflichen pastoralen Dienste an, sondern auch für die Gemeindemitglieder, die Getauften. Sie sind eingeladen, selbst mehr Verantwortung und Gestaltung in der Kirche zu übernehmen und dies nicht anderen „Profis“ zu überlassen. Dabei geht es nicht darum, dass die heute schon sehr ausgelasteten Engagierten in unseren Gemeinden einfach noch mal mehr tun sollen. Es geht darum, miteinander zu entdecken und schätzen zu lernen, wer wir als Kirche sind: Volk Gottes, in dem jede und jeder Getaufte besondere Gaben geschenkt bekommen hat. Und wir alle können unseren Beitrag in das kirchliche Leben einbringen, jeweils so wie niemand anderes es könnte.
Ich bin voller Zuversicht für unsere Kirche, wenn es einfach und zentral darum gehen wird, uns und anderen den lebendigen Christus erfahrbar zu machen: in der Feier der heiligen Eucharistie, im Hören auf das Wort Gottes, in Gemeinde und Gemeinschaft, in der Begegnung mit und im Dienst am Nächsten. Wo das gelingt, wird uns das in eine Mystik führen, aus der eine neue Weise der „Volksfrömmigkeit“ entsteht, die einladend ist für die Menschen und die Welt, in der wir heute leben. Vielleicht wird die eine oder andere bestehende Gemeindeaktivität wegfallen, doch ich vertraue ganz darauf, dass gute Veränderungen entstehen werden, wenn wir nur einfach und aufrichtig nach neuen Glaubensformen suchen. Die Caritas der Gemeinden wird dann ein Ausdruck dieser Volksfrömmigkeit sein. Ausdruck eines Verständnisses unseres Glaubens, in dem sich Wort und Tat nicht trennen lassen. 

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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