Fazit
Gemeinden als Kirche vor Ort haben den Auftrag und die Möglichkeit, gemeinsam mit anderen ähnlich Gesinnten zur Vermenschlichung ihres jeweiligen Sozialraums, in dem sie angesiedelt sind, beizutragen. An notwendigen Herausforderungen dazu mangelt es nicht. Es kommt nur darauf an, das Potential, das in den Kirchengemeinden schlummert, zur Entfaltung kommen zu lassen.
Kirche – gesandt zur Bezeugung der Liebe Gottes zu den Menschen
Aus frühkirchlicher Zeit (Anfang des 1. Jh.) ist ein Brief des Ignatius von Antiochien an die Gemeinde von Tralles überliefert. Er beginnt mit einer bemerkenswerten Grußformel: „Es grüßt euch die agápe von Smyrna und Ephesus.“ (Ign- Trall 13,1). Das griechische Wort „agápe“ (dt. Liebe) wird von Ignatius hier statt „ekklesía“ (dt. Bürgerversammlung; von Paulus als Bezeichnung für die Gemeinde bzw. Kirche übernommen) verwendet; beide Begriffe sind für ihn offensichtlich austauschbar. Das drückt etwas vom Selbstverständnis der frühen Kirche aus: Sie ist eine Gemeinschaft, die auf der in Jesus Christus erschienenen Liebe Gottes zu den Menschen basiert und die ihrerseits Liebe untereinander und mit anderen (Letzteres soweit damals möglich) praktiziert. Um die so zustande kommende soziale Wirklichkeit zu charakterisieren, hat der Theologe José Comblin als zutreffendere Übersetzung für das, was in der Antike mit „agápe“ gemeint war, den Begriff „Solidarität“ vorgeschlagen (vgl. Comblin 1987, 21). Auf die christliche Gemeinde übertragen heißt das, dass es sich um eine Gemeinschaft handelt, deren Angehörige in einem Beziehungsnetz gegenseitiger Verpflichtung ideeller und materieller Art miteinander verbunden sind und die dies nach außen hin ausstrahlt. Ein solches Bild der Gemeinde als eines in Jesus Christus solidarischen Miteinanders hatte bereits Lukas in der Apostelgeschichte vorgezeichnet; als ihre Kennzeichen führte er an: das Festhalten an der Lehre der Apostel, der Lobpreis Gottes, das Brechen des Brotes und das Gebet in Gemeinschaft, der Zusammenhalt untereinander und das Miteinander- Teilen dessen, was die Einzelnen haben (vgl. Apg 2,42–47). Mit ihrer Aufhebung der sozialen Schranken (vgl. Gal 3,28), wie sie in der damaligen Gesellschaft vorherrschend waren, gewannen die frühchristlichen Gemeinden eine evangelisatorische Überzeugungskraft, aus der ihre rasche Ausbreitung resultierte.
„Gemeinde ohne diakonische Verantwortlichkeit wäre nicht christliche Gemeinde.“ (Karl Barth)
Aus der genannten Perikope der Apostelgeschichte wurde die später vorgenommene Systematisierung der Grundfunktionen der Kirche bzw. Gemeinde entlehnt: Verkündigung des in unbedingter Liebe den Menschen zugetanen Gottes (Martyria), Lob und Dank für das von Gott zuteil gewordene Heil (Leiturgia), Weitergabe der von Gott empfangenen Liebe an die anderen Menschen (Diakonia) – und als integrierende Klammer die daraus erwachsende Gemeinschaft (Koinonia). Papst Benedikt XVI. hat in seiner Enzyklika „Deus caritas est“ ausdrücklich die Zusammengehörigkeit und gegenseitige Verknüpfung dieser Grundfunktionen betont: „Das Wesen der Kirche drückt sich in einem dreifachen Auftrag aus: Verkündigung von Gottes Wort (kerygma-martyria), Feier der Sakramente (leiturgia), Dienst der Liebe (diakonia). Es sind Aufgaben, die sich gegenseitig bedingen und sich nicht voneinander trennen lassen. Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst.“ (25.a) Damit widerspricht er einer nicht selten in der Kirche, gerade auch in den Gemeinden antreffbaren Mentalität, gemäß der das Proprium – oder ökonomisch ausgedrückt: das Kerngeschäft – kirchlichen Tuns in Verkündigung und Liturgie, also den ersten beiden Grundfunktionen, besteht und die dritte, die Diakonie bzw. Caritas, sich daraus ergibt, aber einen nachrangigen Stellenwert hat. Demgegenüber insistiert Papst Benedikt XVI. theologisch auf der Gleichrangigkeit und gegenseitigen Verflochtenheit aller drei Grundfunktionen.
Wider die Doppelstruktur von Pastoral und Caritas
Nun könnte man mit Blick auf die hiesige Situation der Kirche sagen, dass es mit ihrem caritativen Wirken ja bestens bestellt ist. Liegt dieses doch in der Hand eines dafür professionell zugerüsteten Wohlfahrtsverbandes. Für die Pfarrgemeinden brächte das den Vorteil mit sich, dass sie sich, entlastet von der Verantwortung für die Caritas, umso stärker auf die beiden anderen Grundaufgaben – Verkündigung und Gottesdienst – konzentrieren könnten.
In diesem Sinne arbeitsteilig zu denken und zu verfahren, zeitigt allerdings erhebliche Folgen sowohl für die Caritas als auch für die Gemeinden. Eine verbandliche Caritas verlöre schlicht und einfach – praktisch gesehen – ihr „Hinterland“, aus dem sie hervorgegangen ist, und liefe – theologisch gesehen – Gefahr, damit ihre Identität zu verlieren. Mindestens ebenso groß ist der Nachteil, den sich die Gemeinden einhandeln. Sie würden sich sektenartig gegenüber ihrer Umwelt verschließen und zu einem Verein religiös Gleichgesinnter, die ihrem eigenen Seelenheil frönen, verkommen. Eine solche Tendenz hatte Karl Lehmann bereits vor einiger Zeit (1973) – damals war er noch Dogmatik-Professor in Freiburg – schärfstens angeprangert: „Christlichkeit wird vornehmlich am häufigen Sakramentenempfang und an einer bürgerlichen Wohlanständigkeit gemessen. Wenn man den radikalen Ernst und den Stellenwert der christlichen Bruderliebe im Evangelium zum Maßstab nimmt, dann wird man angesichts des bittenden und sich erbarmenden Herrn eine tiefsitzende Unchristlichkeit in unserer Kirche bekennen müssen.“ Was es heißt, wenn die Caritas nicht ernst genommen wird, bedeutet nach Lehmann: „Eine tote Caritas wird zu einem furchtbaren Gericht für jede Gemeinde. Es ist unerträglich, daß in einer Gemeinde täglich Eucharistie gefeiert wird, wenn gleichzeitig über Monate hinweg Kranke und alte Glieder dieser Gemeinde hungern.“ (Lehmann 1974) Eine ähnliche Besorgnis treibt, wie man vielen seiner Äußerungen entnehmen kann, den jetzigen Papst um.
Anders formuliert: Nicht zuletzt durch ihr caritatives Wirken und in ihm lernt die Kirche und lernt eine Gemeinde, was es mit dem christlichen Glauben auf sich hat: In den Hungernden und Dürstenden, in den Fremden und Nackten, in den Kranken und Gefangengehaltenen begegnet uns heute Jesus Christus (vgl. Mt 25,31–46; vgl. ähnlich Jesu Geschichte vom barmherzigen Samariter Lk 10,25–37). In diesem Sinne hat Dietrich Bonhoeffer den Kirchen in einer Zeit, in der sie unter der Diktatur der Nationalsozialisten in Bedrängnis waren, ins Stammbuch geschrieben: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ (Bonhoeffer 1985, 415) Das macht gerade das Paradoxe des Kirche- und Gemeinde-Seins aus, nämlich dass ihr Rand ihr Zentrum ist. Von der Peripherie her, von dem Blick „nach außen“, von der Hinwendung zu den Anderen erfährt Kirche bzw. Gemeinde – immer neu – ihre eigene Identität und nimmt sie ihre eigene elementare Bedürftigkeit vor Gott wahr.
Nahe bei den Menschen
Nähe zu allen Menschen, besonders zu den Armen und Bedrängten, Solidarität mit ihnen – das ist es, was der Kirche als ihr Dienst aufgetragen ist. Programmatisch findet sich das im ersten Satz der Pastoralkonstitution des letzten Konzils formuliert. Unter diesem Vorzeichen ist auch zu bewerten, wie die Kirche sich intern strukturiert: Ist sie auf die Präsenz bei den Menschen, zu denen sie gesandt ist, hin orientiert? Mit ihrer Territorialstruktur ist diese Nähe zu den Menschen zu gewährleisten versucht worden. So sehr diese Struktur allerdings vormals stark auf die Erfassung (und damit die Kontrolle) der Gläubigen ausgerichtet war, so sehr bringt sie – gerade heute – im Sinne einer Sozialraumorientierung verstanden die Chance mit sich, dass die Kirche vor Ort, also unmittelbar von der Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der dort lebenden Menschen betroffen wird und sich selbst als mitten darin verflochten erfährt.
Die Nöte und das Leid vor Ort als Tagesordnung für die Gemeinde
Wo kirchliche Gemeinden diese ihre lokale bzw. regionale Verortung ernst nehmen und sich, am besten gemeinsam mit anderen Akteuren, den Herausforderungen in dem jeweiligen sozialen Feld, mit dem sie es zu tun haben, stellen, können sie einen nachhaltigen Beitrag dazu leisten, dass etwas mehr menschliche Wärme in den Kältestrom, der weite Teile der Gesellschaft erfasst hat, einfließt. Erst jüngst hat sich konkret gezeigt, welches soziale und spirituelle Potential in den Kirchengemeinden schlummert und sich aktivieren lässt, wenn es darum geht, Menschen, die bei uns Schutz suchen, willkommen zu heißen und ihnen bei dem Bemühen, sich an die ihnen völlig fremde Umgebung zu gewöhnen, unter die Arme zu greifen.
In diesem Sinne tun sich für die Gemeinden viele Möglichkeiten auf, in dem Sozialraum, in dem sie angesiedelt sind, solidaritätsstiftend zu wirken. Als spezifische Aufgaben, zu denen sie einen Beitrag leisten können, seien ohne Anspruch auf Vollständigkeit angeführt:
- Früherkennung von individueller Not, von individuellem Leid etc. und spontane Hilfeleistung,
- Beratung „im Vorfeld“ zur Weitervermittlung von hilfesuchenden Menschen an für ihre jeweilige Lage kompetente Instanzen und gegebenenfalls Angebot, sie dabei zu begleiten,
- Hilfe zur Organisierung von Selbsthilfegruppen (z. B. anonyme Alkoholiker/innen) durch Zur-Verfügung- Stellen von Informationen, Räumen, Vermittlung von Fachkräften etc.,
- Befähigung und Unterstützung von ehrenamtlich Sich-Engagierenden,
- Ermöglichung von Begegnungen mit Menschen, die von der Bevölkerungsmehrheit gemieden werden, und Bemühungen um deren stärkere Integration. Über solche und andere individuelle Hilfeleistungen hinaus verfügen die Kirchengemeinden auch über Möglichkeiten zur strukturellen Einflussnahme, indem sie beispielsweise sich aktiv an den infrastrukturellen Planungen ihres Wohnviertels beteiligen und sich dabei zum Anwalt besonders jener Gruppen machen, die bei der Durchführung bestimmter Maßnahmen das Nachsehen hätten (z. B. Kinder, alte Menschen oder Menschen mit Behinderung),
- ihre Möglichkeiten zur Schaffung von Sozialeinrichtungen nutzen, die vor Ort dringend gebraucht werden, für die jedoch kein anderer Träger gefunden wird,
- ihren Grund und Boden für soziale Wohnprojekte zur Verfügung stellen,
- für Flüchtlinge, die bei Abschiebung in Lebensgefahr geraten würden, bis zur rechtlichen Klärung ein vorübergehendes Asyl einrichten,
- Beschäftigungsprojekte für Arbeitslose initiieren,
- klare Partei ergreifen für die, die vor Ort marginalisiert werden (z. B. Obdachlose) und etwa mithilfe von Öffentlichkeitsarbeit Tendenzen zur Spaltung und Zersplitterung des Gemeinwesens entgegenwirkt.
Eine innere Bereicherung für das individuelle und gemeinsame Glaubensleben
Dem Prinzip der Solidarität wird bei all dem in dem Maße entsprochen, wie nicht für die Betroffenen gesprochen und etwas getan wird, sondern mit ihnen, wie sie also befähigt werden, Subjekte ihres eigenen Lebens zu werden und sich gemeinsam mit anderen für eine Verbesserung der Lebensbedingungen einsetzen zu können. Es ist damit zu rechnen, dass eine solche parteiliche Option für die Armen und Bedürftigen innerhalb der Gemeinde Irritationen und Konflikte auslöst. Dem kann nur entgegengesetzt werden, dass und wie sehr die, die sich engagieren, dieses als Bereicherung für ihr eigenes Leben erfahren und dass und wie sehr sich dies auf das Glaubensleben vor Ort auswirkt. Bekommt dadurch doch der Glaube gewissermaßen Hände und Füße, was sich auch positiv auf die beiden anderen Grundfunktionen, Verkündigung und Gottesdienst, auswirkt, weil diese einen konkreteren Lebensbezug gewinnen.