Frische Ideen, nicht nur für den pastoralen StrukturwandelSpuren in die Pastoraltheologie von morgen

Eine zukunftsfähige Pastoraltheologie ist konzilstheologisch, jesusbewegt und spätmodern – und sie kann mit Papst Franziskus auch innerkirchlich neue Wege der Nachfolge Jesu auf den Straßen der Gegenwart erschließen.

Man hat so seine Rituale. Ich zum Beispiel nehme auf dem Weg zur Vorlesung immer gerne die Variante über die Innsbrucker Jesuitenkirche. Mein Blick fallt dann stets auf das IHS über dem Hochaltar: Jesum habemus socium. Wir haben Jesus als Gefährten – das heißt: Wir sind socii und sociae Iesu, Weggenossinnen und Weggenossen seiner Nachfolge. Daran muss sich alles messen lassen, was in Theologie und Pastoral geschieht. Wenn ich dann im Hörsaal angekommen bin, öffne ich stets zunächst die Fenster. Das hat zum einen mit einem physischen Bedürfnis nach Frischluft zu tun, zum anderen aber auch mit einem theologischen Bedarf an entsprechender Weltzufuhr – alltägliche Lebenswelt dringt in den Hörsaal. Um beides geht es einer zukunftsfähigen Pastoraltheologie: um religiöse Erfahrungen genauso wie um säkulare. Jesusmonogramm und Hörsaalfenster bilden die konstitutive Grunddifferenz einer Pastoraltheologie der christlichen Zeitgenossenschaft, die auf dem Boden des Zweiten Vatikanischen Konzils einschlägige Diskursarchive der Vergangenheit („Christliche …“) und Praxisfelder der Gegenwart („… Zeitgenossenschaft“) zu einer möglichst kreativen Weise zusammenspannt: „Je mehr ich in meiner Zeit präsent bin, desto mehr bin ich auf die Ursprunge zurückverwiesen. Und je mehr ich mich den Ursprüngen zuwende, umso mehr bin ich in meiner Zeit präsent“ (M.- Dominique Chenu). Solche Pastoraltheologie ist konzilstheologisch in ihrer Relektüre des Evangeliums im Licht der eigenen Gegenwart – und daher auch jesusbewegt in ihrem Fokus auf christliche Nachfolge im Horizont situativ anbrechender Gottesherrschaft und spätmodern in ihrer Bearbeitung von entsprechenden existenziellen Lebensfragen im Kontext zeitgenössischer Diskurse.

Mit Papst Franziskus in den Strukturwandel

Einer Kirche im kollektiven Transformationsstress, in der aus theologisch falschen Gründen (Strukturwandel aufgrund von Priestermangel) etwas pastoral Richtiges geschieht (Vergrößerung der pastoralen Raume), bietet diese konzilstheologische, daher auch jesusbewegte und zugleich spätmoderne Pastoraltheologie entsprechende wissenschaftliche Lockerungsübungen an. In der aktiven Gestaltung des Unvermeidlichen können diese im pastoraltheologischen Idealfall innerkirchliche Verkrampfungen losen, blockierte Energien freisetzen und Lust auf Neues machen. Dahinter steckt eine ganz praktische Erfahrung: Menschen kommen dann ins Handeln, wenn ihre Lust auf etwas gro.er ist als ihre Angst davor. Dabei kann man dann auch am gegenwärtigen Franziskus- Moment unserer Kirche ansetzen. Papst Franziskus steht nämlich für eine entsprechende „Rekontextualisierung“ (Lieve Boeve) christlicher Nachfolgewege im Sinne des Zweiten Vatikanums, die mit dem Konzil über das Konzil hinausgeht: „Und jetzt muss man vorangehen.“ Damit lautet er eine neue Phase der Konzilsrezeption ein, in der es nicht mehr nur um eine Lektüre der „Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums“ (GS 4) geht, sondern auch um eine „neue Lektüre des Evangeliums im Lichte der gegenwärtigen Kultur“: Evangelisierung und Inkulturation sind keine Einbahnstraßen, sie bedingen und ermöglichen einander. Bei dieser „einbettenden Inkulturation“ (Detlef Pollack) gilt es, die evangeliumsbewegten Reformimpulse, mit denen Papst Franziskus auch die Pastoraltheologie in Atem hält, im Rahmen der dualen Ekklesiologie des Konzils eigenkontextuell zu verarbeiten: eine ‚introvertierte‘ Sammlungspastoral nach Lumen gentium, der ersten Kirchenkonstitution des Konzils, erfordert zugleich auch eine ‚extrovertierte‘ Sendungspastoral nach Gaudium et spes, dessen zweiter Kirchenkonstitution.
Zusammengehalten wird diese gesamtpastorale Spannungseinheit durch einen ekklesiologischen Grundbegriff des Zweiten Vatikanums, der hierzulande bis zum Pontifikat von Papst Franziskus meist überlesen wurde: das in der Kirche versammelte und in die Welt gesandte Volk Gottes besteht aus Jüngerinnen und „Jüngern Christi“ (GS 1), die „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ ihrer Mitmenschen teilen – besonders aller Armen und Bedrängten. Eine solchermaßen ‚zweiheitlich‘ strukturierte Kirche verweist zurück auf Jesus von Nazareth, den Ursprung aller christlichen Wege der Nachfolge. Dessen Kirche hat von Beginn an immer aus beidem bestanden: aus umherziehenden Wanderpredigern und aus sesshaften Ortsgemeinden. Sie war stets eine Kirche der Gründer von Gemeinden und zugleich auch eine Kirche der Siedler in Gemeinden. Sie kannte Fremdlinge (griech. παρ-οἶκοι), die zwischen den Häusern wohnen, und Gastwirte (lat. parochi), die ihre Hauser öffnen. Beide christliche Ursprungsgestalten stehen im etymologischen Hintergrund der Begriffe Pfarrei und Pfarrer. Durch sie lodern noch heute viele kleine ‚Lagerfeuer‘ des Evangeliums inmitten der Welt: heiße Kerne mit offenen Rändern und Menschen, die dafür sorgen, dass das Feuer nicht ausgeht. Orte der Nahe in einem Raum der Weite. Beides braucht es ja auch im gegenwärtigen Strukturwandel: kleine Gemeinden als Orte der Nahe einer attraktiven ‚Komm-her-Kirche‘ der Sammlung nach Lumen gentium, die keine Orte der Enge sein dürfen (Stichwort: Milieuverengung). Und zugleich auch größere Einheiten als Raume der Weite einer missionarischen ‚Geh-hin- Kirche’ der Sendung nach Gaudium et spes, die keine Räume der Ferne sein dürfen (Stichwort: Kirchenverdunstung). Die Nähe der Orte wehrt der potenziellen Ferne der Raume, und die Weite der Raume entgrenzt die potenzielle Enge der Orte. Dabei dürfen wir die Kirche nicht nur im Dorf lassen, sondern sie zugleich auch größer denken als bisher – mindestens größer als unser gewohntes Pfarrmilieu.

Synodale Weggefährtenschaft

Ad intra fordert Papst Franziskus seine Kirche dazu auf, sich auf allen Ebenen als eine synodal verfasste Weggemeinschaft zu verstehen: Synode kommt von σύν-οδος, dem gemeinsamen Weg aller Jüngerinnen und Junger Christi. Kirche ist eine dem entsprechende societas Jesu, eine Gefährtenschaft von Weggenossinnen und Weggenossen (σύνοδοι, Ignatius v. Antiochien) in der Nachfolge Jesu. Sprachlich verweist auch die ursprüngliche Etymologie des Sozialen darauf: „Der Stamm lautet sequ-, sequi, und die erste Bedeutung ist ‚folgen‘. Der lateinische socius bezeichnet einen Gefährten, einen Gesellschafter (associate). In den verschiedenen Sprachen zeigt die historische Genealogie des Wortes ‚sozial‘ die folgenden Bedeutungen: erstens jemandem folgen, dann anwerben, sich verbunden und schließlich etwas gemeinsam haben.“ (Bruno Latour) Was änderte sich an unseren diözesanen Strukturprozessen, wurden diese im jesusnahen Geist der ‚Synodalität‘ konzipiert werden? Eine entsprechende Möglichkeit ist von Bischof Jacques Gaillot bekannt: Wann immer ein Priester gestorben war, ist er mit seinem Generalvikar in die jeweilige Pfarrei gefahren und hat mit der Gemeinde das Requiem gehalten. Danach hat der Bischof für diesen Ort den pastoralen Notstand ausgerufen und es wurde gemeinsam mit den kirchlichen ‚Laien‘ vor Ort überlegt, wie die Verantwortlichkeiten bis hin zu den pastoralen Diensten von Predigt, Taufe und Beerdigung verteilt werden können. Keine interkulturelle Kopiervorlage – aber vielleicht eine Inspiration zu Eigenem, zu kreativen pastoralen Losungen im eigenen Kontext. In der deutschsprachigen Pastoraltheologie der 1970er Jahre sagte man dazu noch: „Betroffene zu Beteiligten machen“ (Rolf Zerfaß).
Konnten unsere Pfarreiengemeinschaften, Pastoralverbände und Seelsorgeräume dann nicht vielleicht auch zu Räumen einer neuen pastoralen Weite werden, in denen Altes in Wurde sterben und Neues in Freiheit leben darf? Wo die jeweils höhere Ebene wirklich nur das übernimmt, was die niedrigere selbst nicht mehr schafft (z. B. Firmvorbereitung) und wo auch nichtordinierte Amtstragerinnen und Amtsträger mit Theologiestudium (z. B. Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten) lokale Gemeindeleitung innehaben? Und konnten unsere Pfarrgemeinden dann nicht vielleicht auch zu Orten einer neuen pastoralen Nahe werden, deren Pastoralteams spirituelle Kraftzentren bilden, die andere begeistern und mitziehen? Wo die Unterscheidung von Haupt- und Ehrenamtlichen von gestern ist, weil sich alle vor allem als Jungerinnen und Junger Christi verstehen? Ist dann nicht vielleicht auch endlich Schluss mit dem Klerikalismus mancher Priester, Diakone und Laien im Volk Gottes? Denn in einer Kirche der gemeinsamen Jüngerschaft aller Getauften und Gefirmten geht es zunächst einmal um die Nachfolge Jesu, sekundäre hierarchische Abstufungen sind im Vergleich dazu prinzipiell zweitrangig: „Nachfolge genügt“, so kurz und bündig hat das bereits 1975 die Würzburger Synode auf den Punkt gebracht. In jedem Fall ist auch hier das Sein („Wer sind wir eigentlich?“) wichtiger als das Haben („Wie viele Kirchenbesucher, Pfarrgemeinderate, Priesterberufungen etc. haben wir?“).

Verbündete für das Evangelium

Ad extra kann diese Rückbesinnung auf den pastoralen Primat der Nachfolge mit Papst Franziskus hinauslocken an die „Peripherien der menschlichen Existenz“ – nach Lampedusa, aber auch in die eigenen gesellschaftlichen Problemzonen. Es braucht eine diakonisch gewendete Stadtteil-, Vorort- oder Dorfraumpastoral im Geiste von Gaudium et spes, die angesichts der vielfachen Bedrohungen unserer offenen Gesellschaft (Stichworte: Rechtspopulismus, religiöser Fundamentalismus) in einer „Komplizenschaft geteilter Hoffnungen“ (Andre Depierre) nach neuen Verbündeten für das Evangelium sucht, mit denen sich die „prophetische Mission der lokalen Kirchen“ (Brad Hinze) realisieren lässt. Das ermöglicht dann auch kirchenintern neue pastorale Übergangszonen, Transitbereiche und Schnittstellen des herkömmlichen Pfarrmilieus: Kirche größer denken! Im Außen ihrer selbst kann diese nämlich viel Gutes entdecken: faszinierende Menschen, spannende Geschichten, aufrichtige Hingabe – und vor allem ihren eigenen Gott. Der ist nämlich immer größer als die Grenzen seiner Kirche. Und Mission ist nichts anderes als deren Selbstentgrenzung auf ihren je größeren Gott. Denn seine Gnade wirkt auch außerhalb der Kirchenmauern. Bei denen also, die wir im kirchlichen Jargon meist als Suchende und Fragende bezeichnen. Es sind aber genauso auch Antwortende und Findende – nur eben anderswo.
Ins pastorale Blickfeld können dann auch all jene evangeliumsnahen Randsiedler des Christentums geraten, die Tomaš Halik als „Zachäus-Menschen“ bezeichnet, weil sie in interessierter Halbdistanz zum Glauben leben. Auch sie haben das Recht auf einen barrierefreien Zugang zu Gott und auf eine entsprechende Willkommenskultur in unseren Gemeinden. Eine entsprechend diversitatsfreundliche Kirche geht von einer ‚flächendeckenden‘ Pastoral über zu einer ‚Flachen entdeckenden‘ Pastoral – zu einer Pastoral, welche die Flache ihrer gesellschaftlichen Umwelt als den Ort einer verborgenen Präsenz Gottes im Geheimnis einer Welt entdeckt, die zwar weithin kirchenfern, deswegen aber noch lange nicht gottlos ist: „Wir müssen die Stadt […] mit einem Blick des Glaubens erkennen, der jenen Gott entdeckt, der in ihren Häusern, auf ihren Straßen und auf ihren Platzen wohnt. Die Präsenz Gottes begleitet die aufrichtige Suche von Einzelnen und Gruppen, um Halt und Sinn für ihr Leben zu finden. Er lebt unter den Burgern und fordert […] das Verlangen nach dem Guten, nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese Präsenz muss nicht hergestellt, sondern entdeckt, und enthüllt werden.“ (Evangelii gaudium 71)

Resümee und Ausblick

In einer nachchristentumlichen Zeit, in der Christinnen und Christen langst eine gesellschaftliche Minderheit darstellen, lautet die pastorale Gretchenfrage: Wie hältst du’s mit dem Außen? Ist die kirchliche Außengrenze für dich eher eine Schmerzgrenze oder eine Reizschwelle? In jedem Fall ist die pastorale Sendung der Kirche in die Welt nichts Zusätzliches, was nach Maßgabe des Möglichen ‚irgendwie‘ auf gemeindlichem Restenergieniveau geschehen konnte. Mission ist vielmehr das „Wesen der Kirche“ (AG 2). Sie findet erst dann zu sich selbst (und zu ihrem Gott), wenn sie mit entdeckungsfreudiger Lernvermutung aus sich herausgeht. Mission braucht es dabei weniger, weil die Anderen uns so nötig hatten, sondern wir die Anderen: ihre anderen Lebenserfahrungen und daher auch ihre anderen Geschichten mit Gott. Nehmen wir es doch einfach sportlich: Es gibt vielleicht noch ganz andere Orte der Pastoral als unsere Pfarreien. Und es gibt vielleicht auch noch ganz andere Orte Gottes als unsere Kirche. Eine doppelte Selbstrelativierung, die religiöse wie säkulare ‚Andersorte‘ entdecken lasst, an denen Menschen das Glück ihres Lebens heute nicht nur suchen, sondern auch finden. Die meisten von ihnen, so eine neuere religionssoziologische Erkenntnis, sind nämlich gar nicht antikirchlich – es gibt schlicht und einfach Wichtigeres in ihrem Leben als Sonntagsmesse, Kirchenkaffee und Pfarrgemeinderat. Wir brauchen einen neuen pastoralen Existenzialismus, in dem dieses ‚Wichtigere‘ an Orten einer unaufdringlichen Antreffbarkeit des Evangeliums zur Sprache kommen und dessen säkulare Bedeutung neu erfasst werden kann. Eine solchermaßen konzilsbewegte, synodal verfasste und an die Ränder gehende „Kirche der Nachfolge“ (Johann B. Metz) ist reichgottesfroh im Geiste Jesu und daher auch beteiligungsstark nach innen und entdeckungsfreudig nach außen. Und sie verwirklicht in ihrem Inneren, was sie nach Außen vertritt.  

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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