Wie kommt Jesus auf das Thema Sündenvergebung? Ein kausaler Zusammenhang zwischen Sunde und Krankheit bzw. Tod wurde im Judentum zur Zeit Jesu diskutiert – und an anderen Stellen wie Lk 13,1–3 oder Joh 9,2f. klar abgelehnt. Heute fragen wir uns, was Sunde überhaupt ist, und wir sind geneigt, dabei an eine (veraltete?) Kategorie kirchlicher Morallehre zu denken. Im antiken Judentum ist Sunde jedoch eine theologische Kategorie, die das Gottesverhältnis des Menschen betrifft: Sunde bedeutet ganz grundlegend die Abwendung des Menschen von Gott, die fehlende Bindung des eigenen Lebens an Gott, den Schopfer. In Rom 1,25 beklagt Paulus, die Menschen „dienten der Schöpfung anstelle des Schopfers“. Vorausgesetzt ist die Freiheit des Menschen, sich für oder gegen Gott zu entscheiden. Doch so frei ist der Mensch keineswegs, denn die als Macht verstandene Sunde – der Begriff wird dann im Singular verwendet – nimmt vehementen Einfluss auf den Menschen, um ihn von Gott abzubringen. Es ist wieder Paulus, der in Rom 3,9 feststellt: Alle Menschen, Juden und Griechen, sind „unter der Sunde“. Die Macht der Sunde beherrscht den Menschen (vgl. Rom 7,8.11.17.20) und droht ihn von Gott zu entfernen. Insofern besitzt die Sunde überindividuellen Charakter, man erkennt Strukturen der Sunde in der Welt, in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, die den Menschen negativ beeinflussen. Die einzelnen Verfehlungen, die sich daraus ergeben, die „Sunden“ (im Plural), sind konkrete Einstellungen und Verhaltensweisen des Menschen, die letztlich gegen Gott gerichtet sind. Der Macht der Sunde kann sich der Mensch nicht aus eigener Kraft entziehen; er kann nicht von sich aus zu Gott gelangen.
Dann bedeutet Jesu Zuspruch an den Gelahmten, seine Sunden seien vergeben, dass seine Sünder-Existenz aufgebrochen und sein gestörtes Gottesverhältnis vonseiten Gottes wieder hergestellt ist. Er darf in der Gemeinschaft mit Gott leben.
Jesu Vollmacht zur Sündenvergebung
Mit welcher Vollmacht kann Jesus dies behaupten? Das fragen sich im Stillen auch die Schriftgelehrten, die unter den Zuhörern anwesend sind, denn sie wissen genau, dass nur einer Sunden erlassen kann: Gott. In der jüdischen Tradition ist diese Überzeugung fest verankert. Jesus, der ihre Zweifel durchschaut, demonstriert seine Vollmacht, indem er dem Gelahmten nun auch die körperliche Heilung erfolgreich zuspricht: „Dir sage ich, steh auf, nimm deine Trage und geh fort in dein Haus!“ Der, der heil mit Gott ist, wird nun auch körperlich heil, gesund. Jesus erweist sich als bevollmächtigter Repräsentant Gottes. Die Anwesenden erkennen, dass hier Gott am Werk ist, und reagieren entsprechend mit der Verherrlichung Gottes. Sichtbar wird die Überzeugung der ersten Christen, dass Gott ihnen in Christus, seinem Repräsentanten, Vergebung und neue Gemeinschaft zu sich eröffnet.
Vergebung im Rahmen der Königsherrschaft Gottes
Das „Wort“, das Jesus verkündet, umfasst nach Mk 1,15 die frohe Botschaft, dass Gottes Königsherrschaft jetzt, in Jesu Wirken, bereits angebrochen ist. Im antiken Judentum wurde sie als machtvolle Durchsetzung Gottes gegen alle Feinde und Bedrohungen Israels für die Zukunft erwartet. In Jesus wendet sich Gott jetzt seinem Volk Israel (und später auch den Völkern) neu zu. Die Basis dieser Zuwendung bildet die Vergebung der Sünden, die Überwindung dessen, was Menschen von Gott trennt. Die neue Gemeinschaft mit Sundern, die Jesus nach Mk 2,15–17 pflegt, ist Folge und Ereignis der angebrochenen Königsherrschaft Gottes. Sie ist im Willen des barmherzigen Gottes begründet, wie die Gleichnisse vom Wiedergewinnen des Verlorenen in Lk 15,1–32 anschaulich machen. Die vier Träger in der Geschichte vom Gelahmten demonstrieren eine stimmige Reaktion auf Gottes Zuwendung. Sie lassen sich auf das „Wort“ Jesu, die Botschaft der angebrochenen Gottesherrschaft, ein und zeigen übergroßes Gott-Vertrauen – und aktive Solidarität mit dem Hilfsbedürftigen. Sie werden sich ihrer Beziehung zu Gott neu bewusst. Das meint „Umkehr“ in Mk 1,15: die Hinwendung zu Gott und zum Bedürftigen, der sich nicht selbst helfen kann.
Vergebung im christlichen Sinn basiert also auf der Überzeugung und Erfahrung, dass Gottes Königsherrschaft in Jesus angebrochen ist und dem, der sich zu ihr hinwendet („umkehrt“), die Beziehung zu Gott neu eröffnet.
Das Sterben Jesu als radikale Versöhnung Gottes mit den Menschen
Unter dem Vorzeichen der angebrochenen Gottesherrschaft geschieht die Vergebung von Sunden im Wirken Jesu. Nach dem Tod Jesu reflektiert Paulus den Gedanken weiter, indem er ihn mit dem Sterben Jesu am Kreuz verbindet und dieses als Heilsereignis deutet. In 2 Kor 5,19 lesen wir: „Denn Gott war in Christus, als er die Welt mit sich selbst versöhnte, indem er ihnen ihre Übertretungen nicht anrechnete und hinstellte unter uns das Wort der Versöhnung“ (vgl. Rom 5,10f.; 11,15). Gott handelt in Christus, seinem Repräsentanten, und in besonderer Weise in dessen Sterben. Paulus interpretiert es als Gottes „Versöhnung“ mit den Menschen. Der griechische Begriff „Versöhnung“ (katallagē) meint in der antiken Lebenswelt Friedensschlusse bzw. Friedensvertrage zwischen kriegführenden Parteien oder Völkern. Der politische Friedensschluss wird bei Paulus zur Metapher für Gottes Zuwendung zu den Menschen in Christus. Friedensschlusse zwischen feindlichen Gruppen geschahen im politischen Leben häufig unter ungleichen Machtverhältnissen, mit militärischem Druck und gravierenden Auflagen. Im Sterben Christi – Ausdruck größter Ohnmacht – kommt Gott, der Machtigere, von sich aus auf die Menschen zu und bietet ihnen ohne Auflagen seine versöhnte Gemeinschaft an. Die alten Verfehlungen sind in Christus vergeben, was ein Neuwerden des Menschen in der Beziehung zu Gott bedeutet. Dieses Neuwerden ist so gewichtig, dass Paulus von einer „neuen Schöpfung“ sprechen kann (2 Kor 5,17).
Das Matthausevangelium verbindet diese Vergebung mit Jesu letztem Mahl, wenn Jesus spricht: „Dies ist mein Blut des Bundes, das für viele ausgegossen wird zum Erlass der Sunden“ (Mt 26,28). Nur bei Matthaus dient das „Blut des Bundes“ der Vergebung von Sunden. So wird die Erfahrung der Vergebung wiederholbar beim Mahl der Gemeinde, das Jesu heilvolles Sterben und damit Gottes Vergebung erinnert und vergegenwärtigt. Das Mahl ist der Ort, an dem Vergebung neu vollzogen wird – und nicht der Ort, an dem die „Sünder“ ausgeschlossen werden. Wer zum Mahl kommt, wird von Gott angenommen. Die versöhnte Gemeinschaft mit Gott in Christus wird beim Gemeindemahl für die, die teilnehmen, lebendig.
Vergebung weitergeben
Wer selbst Gottes Vergebung, die bedingungslose Annahme durch Gott, erfahren hat, sieht seine Mitmenschen, auch und gerade dann, wenn sie an ihm oder ihr schuldig werden, mit anderen Augen – und kann vergeben. Die kleinen Gemeinden des Anfangs konnten nur bestehen, wenn sich die Christen immer wieder gegenseitig verziehen und annahmen. Das – schon sehr großzügige – Angebot des Petrus in dieser Sache, seinem Bruder (und seiner Schwester) bis zu siebenmal zu vergeben, steigert Jesus in prophetischer Zuspitzung ins Unbegrenzte: „bis zu siebenundsiebzigmal“ (Mt 18,21f.). Gottes unbegreifliche Vergebungsbereitschaft ist das große Vorbild.
Damit ist die Motivation zur Vergebung eine Frage der Perspektive: Verstehe ich mich als den, an dem andere schuldig werden, ober bin nicht vielmehr ich selbst vor Gott ein Schuldiger? Das Gleichnis vom unbarmherzigen Sklaven in Mt 18,23–35, das in der Welt der Finanzen spielt, verdeutlicht diese Perspektive. Ein Sklave schuldet seinem Herrn eine riesige Summe, einen Milliardenbetrag, den er niemals zurückzahlen konnte – und der Herr erlasst ihm die Schuld. In der nächsten Szene trifft der Sklave einen Mitsklaven, der ihm einen vergleichsweise geringen Geldbetrag schuldet und um Aufschub bittet – und der Sklave verweigert dies und lasst seinen Schuldner ins Gefängnis werfen. An sich ist es sein gutes Recht, Schulden zurückzufordern. Aber der vorausgehende riesige Erlass stellt sein Handeln in ein neues Licht. Der erste Sklave hat nicht verstanden, was an ihm geschehen ist, dass er selbst ein gnadenvoll Beschenkter ist.
Die Gemeinschaft der Vergebenden
Wie wichtig Vergebung und Versöhnung für die Existenz der Gemeinde sind, zeigt Mt 5,23f., wo die Versöhnungsbereitschaft sogar dem kultischen Opfer übergeordnet wird. Die Gottesbeziehung entscheidet sich also nicht am Kult, sondern an der Versöhnung mit dem Mitchristen. Entsprechend heißt es im Vater-Gebet Jesu in Mt 6,12: „Erlass uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern erlassen haben“. Wieder bilden Geldschulden den metaphorischen Hintergrund der Bitte, die die Vergebung durch Gott an die Vergebung innerhalb der Gemeinde bindet. Beides gehört untrennbar zusammen, wenn die Gemeinde als Gemeinde Christi überleben will. Vergebung ist befreiend und entlastend für den, der vergibt, weil er sich nicht an seinem alten Hass aufreibt und selbst daran zugrunde geht.
So akzentuiert auch Lk 6,37f. die Bedeutung der Vergebung: „Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet! Verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt! Vergebt, und euch wird vergeben! Gebt, und euch wird gegeben! Ein gutes, gedrucktes, gerütteltes, überfließendes Mas wird man in euren Schoß legen. Denn mit dem Mas, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.“ Das Handeln des Menschen soll dem Handeln Gottes entsprechen. Daher ist es die falsche Frage: Wer muss zuerst vergeben? Gottes Handeln gibt großzügig das Mas vor, es geht letztlich immer voraus und hat weitreichendere, endgültige Bedeutung.
In Joh 20,22f. konstituiert der erweckte Christus seine nachösterliche Gemeinde, indem er seinen Schülern, die diese Gemeinde verkörpern, den Geist verleiht und ihnen zugleich die Vollmacht zur Sündenvergebung übertragt. Das Wirken des Geistes konkretisiert sich in der gegenseitigen Vergebung. Diese wird hier geradezu zum Wesen der Gemeinde und macht ihre Existenz aus. Übertragen bedeutet dies, dass die ganze Kirche im Geist die Vollmacht zur gegenseitigen Vergebung ausüben soll und kann.