Religionen werden aktuell als Instrument benutzt. Sie dienen dem Machterhalt, der Abgrenzung, der Über- und Unterordnung und anderen säkularen Zwecken, mit denen sie überlagert und verzerrt werden. Darin liegt ein Grundproblem von Religion überhaupt: Sie ist anfällig für Funktionen, die sich an Religion anlagern und zu ihrer Hauptfunktion mutieren: In den Himmel zu kommen, ist vielleicht ihre älteste Fremdbestimmung, das Andere, Fremde bis zur Gewaltanwendung auszugrenzen, ihre aktuellste.
In diesem Kontext muss Spiritualität ins Spiel kommen. Denn Spiritualität allgemein und religiöse Spiritualität im Besonderen sind zweckfrei. Spiritualität hat keine andere Funktion als sie selbst. Sie ist nicht instrumentalisierbar. Ihre Grundfunktion liegt genau darin, einen Raum jenseits des Instrumentellen zu eröffnen, um spirituelles Personsein zu ermöglichen. Nichts anderes meint die Grundanleitung jedes spirituellen Weges: Wenn du gehst, dann gehe; wenn du sitzt, dann sitze; wenn du betest, dann bete. Auf einer ersten Ebene bedeutet diese Anleitung, sich nicht zu zerstreuen. Auf einer zweiten fundamentaleren aber, geistliches Handeln nicht zu instrumentalisieren. Wer sich kognitiv, affektiv und leiblich auf Gott bezieht, aus dieser Bezogenheit lebt und diese Beziehung auf eine Weise gestaltet – so könnte man religiöse Spiritualität definieren – verfolgt damit keinen anderen Zweck als diesen selbst: mit Gott in Beziehung zu sein, mit Gott, von Gott und aus Gott zu leben.
Vielleicht hilft Religion, das Leben gut zu bewältigen, vielleicht unterstützt sie, ein ethischer Mensch zu sein, vielleicht tut sie gut. Das Gebot der Stunde in der aktuellen gesellschaftspolitischen Lage lautet aber, die Religion – egal welche – von ihren Nebenzwecken und instrumentellen Verwertungen zu befreien und ihr den zweckfreien Raum zurückzugeben, den sie von ihrem Kern her hat. Religion ist nichts als Religion. Und genau das ist ihre Praxis, ihre Spiritualität: zweckfrei, nicht instrumentalisierbar. Religion darf nicht benutzt werden, schon gar nicht gegen eine andere. Ihre Seelsorger/innen stehen für ihre Nicht-Verwertbarkeit.
Eine Spiritualität der Haltungen
Spiritualität lässt sich als Grundeinstellung beschreiben. Konrad Hilpert hat diesbezüglich eine sehr brauchbare Definition geliefert.
„Der Begriff ‚Spiritualität‘ ist primär Bezeichnung für eine spezifische Art von Einstellung und Selbstverständnis von Menschen innerhalb der Wirklichkeit bzw. von Lebenspraxis, nicht eine Kategorie theoretischer Reflexion. (…) Typisch für ein Selbstverständnis und eine Lebenspraxis, die als ‚spirituell‘ qualifiziert oder so von außen etikettiert wird, ist ein Überschreiten der Grenzen der eigenen Selbstgegebenheit und die Öffnung hin auf eine größere und mächtigere Wirklichkeit.“ Dieser Transzendenzbezug geht aber nicht an der Immanenz vorbei, sondern beinhaltet eine Grundeinstellung zur Immanenz. Detlef Pollack nennt dies „das re-entry der Transzendenz in die Immanenz“. Die Öffnung oder Ausrichtung auf das unbegrenzt Größere der Transzendenz realisiert sich in der entsprechenden Haltung zur Immanenz. Deswegen sprechen viele von einer Spiritualität der Haltungen als Basis christlicher Spiritualität.
Haltungen sind Ausdruck der Religion als zweckfreier Praxis. Haltungen geschehen um ihrer selbst willen und nicht aus Berechnung oder zur Verwertung. Sie haben eine passive Grundstimmung, die allerdings hochaktiv im Sinne von achtsam und aufmerksam ist. In der Diözese Rottenburg-Stuttgart haben wir vier Grundhaltungen zur Basis der Kirchenentwicklung erklärt, die zunächst recht passiv anmuten: Vertrauen, Lassen, Erwarten und Wertschätzen. Was als zwischenmenschliche Pädagogik missverstanden werden kann, ist fundiert theologisch: Gottes Vertrauen nährt das Vertrauen der Menschen zueinander, in die Welt, in die Zukunft. Aktuell eine große Herausforderung. Lassen heißt auch, Gott Gott sein lassen und ihn nicht zu einem „kleinen Gott“ herabzusetzen. Erwarten meint, in jedem Menschen Gott erwarten. Wertschätzen lebt von der Wertschätzung Gottes, die jedem Menschen gilt. Mit dem Fortschreiten des Prozesses der Kirchenentwicklung wird immer deutlicher, wie sehr diese Haltungen die Grundlage pastoralen Arbeitens und damit der pastoral Arbeitenden bilden. In den Hintergrund tritt das konkrete Was hinter dem Wie der Pastoral: Wie wir miteinander umgehen, wie wir Menschen in seelsorglichen und anderen Kontakten gegenübertreten, in welcher Haltung wir der Gesellschaft begegnen, usw. Dabei geht es aber nicht um Ethik, sondern um die Praxis der Spiritualität: die Bezogenheit auf den größeren Ganzen realisiert sich in der Bezogenheit zu allem, was ist; das Überschreiten der (Selbst-)Gegebenheit auf das größere Ganze entgrenzt jegliche Begrenzung im Denken, Fühlen und Darstellen.
Eine Spiritualität der Pluralität
Auch eine Spiritualität der Pluralität kann als gesellschaftspolitische Option verstanden und gleichzeitig missverstanden werden. Missverstanden insofern sie bloßes Instrument darstellt, um eine multireligiöse Situation zu befrieden. Eine Spiritualität der Pluralität begründet sich aber aus der Sache, dass das re-entry der Transzendenz in die Immanenz führt, wodurch die Transzendenz zugänglich, erfahrbar und kommunikabel wird, und deshalb von dieser Immanenz (von geschichtlichen, kulturellen, geographischen und persönlichen Kontexten und Bedingungen) geprägt ist. Auf einer noch fundamentaleren Ebene übersteigt das Übersteigen der eigenen und immanenten Grenzen noch einmal die je konkrete Weise des Transzendierens und Umgehens mit der Transzendenz in der Immanenz.
So kann eine persönliche Spiritualität gleichzeitig spezifisch und offen für andere Spiritualitäten sein. Im Blick auf Seelsorger/innen kommt hinzu, dass sie nicht nur offen sein sollen für andere persönliche Spiritualitäten, sondern bereit, Menschen zu unterschiedlichen Spiritualitäten anzuleiten und ihnen zu helfen, ihre Form zu finden, wie sie ihren fundamentalen Gottesbezug in ihrer Lebenspraxis operationalisierbar machen können. Diese praktische Offenheit für verschiedene Formen spiritueller Praxis ist wiederum an eine Grundhaltung der Offenheit gebunden, die sich aus der Öffnung für den Nichtbegrenzten ergibt.
Niemand verlangt von einem Seelsorger bzw. einer Seelsorgerin, dass er/sie z. B. persönlich christliche Kontemplation übt, wenn er/ sie sich nicht mit stillem Sitzen anfreunden kann. Aber zur Professionalität gehört es, diese Form wertschätzend vorschlagen zu können und entweder in Grundzügen anleiten oder auf andere Anleiter/innen verweisen zu können. Es muss unsere Zukunftsvision sein, dass Seelsorger/innen als Berater/innen für spirituelle Übungswege qualifiziert sind und gleichzeitig gesucht werden. Einerseits können sie einen persönlichen Weg authentisch theoretisch und praktisch vermitteln, andererseits sind sie offen für andere spirituelle Wege, in denen sie beratend und begleitend denen hilfreich sind, die einen spirituellen Weg suchen oder gehen. Ich fände es weit hilfreicher, die Seelsorger/innen würden auf der Homepage einer Kirchengemeinde (oder eines anderes kirchlichen Ortes) die spirituellen Wege, die sie gehen, kennen oder begleiten können, benennen, als ihre Berufsbezeichnung, mit der bald niemand mehr etwas anfangen kann. Schön und nichtssagend, wenn man Pastoralreferentin hinter den eigenen Namen setzen kann, viel schöner, professioneller und sogar etwas geheimnisvoll klänge: Anleitung in christlicher Kontemplation, Körperspiritualität, Sinnsuche und Alltagsritualen. Natürlich je nach Kompetenz und vielleicht auch Charisma kann bei einer anderen Seelsorgeperson etwas ganz anderes stehen: z. B. Anleitung zu Anbetung, eucharistischer Spiritualität und Stundengebet.
Aktuell ist soziologisch von einer inklusiven Spiritualität die Rede, die z. B. bei den Mitarbeiter/innen der Caritas empirisch wahrgenommen wird. Inklusiv meint dabei nicht ausschließend, aber meist auch unbestimmt. Ihr entspricht bei den Seelsorgern und Seelsorgerinnen eine Spiritualität der Pluralität, ohne dass diese ihre Authentizität aufgeben sollen. In der Studie zu den spirituellen Wanderern wird als gesuchte Kompetenz der Seelsorger/innen benannt: offen und authentisch.
Spiritualität im Prozess
Wenn Spiritualität die persönliche, subjektive Gestaltung des Lebens aus der Bezogenheit zu dem Gott der christlichen Tradition meint und sie daher von Gottfried Bitter zur besseren Unterscheidung als christliche Spiritualität bezeichnet wird, dann entsteht bisweilen der Eindruck, Spiritualität wäre in zweierlei Hinsicht eine abgeschlossene Angelegenheit. Zum einen im Blick auf den spirituellen Menschen, zum anderen im Blick auf ihren Letztbezug.
Spiritualität ist aber in beiden Richtungen im Prozess: Zum einen ist der spirituelle Mensch im Werden, die Bezogenheit verändert den Bezogenen. Spiritualität bewirkt einen Prozess der Reifung und damit Menschwerdung, wenn auch nicht als einlinigen Aufstieg und nicht als bloßes Instrument. Spiritualität ist kein Optimierungsprozess und dient, wie Hartmut Rosa sagen würde, nicht der Reichweitenvergrößerung, sondern ist selber ein Resonanzgeschehen bzw. Praxis der vertikalen Resonanzachse.
In den aktuellen Prozessen der Kirchenentwicklung landauf landab in allen Diözesen zeigt sich, dass die persönliche Bereitschaft der Seelsorgerinnen und Seelsorger Voraussetzung von Veränderung und Ent wicklung ist. Der Umkehrschluss gilt aber nicht: Seelsorger/innen brauchen nicht eine prozesshafte Spiritualität, damit die Kirchenentwicklung funktioniert, sondern umgekehrt ermöglicht die genetische Qualität der Spiritualität, Seelsorgerinnen und Seelsorgern sich selber auf Veränderung und Entwicklung einzustellen und so freiwillig Engagierte und Mitglieder in der Veränderung zu begleiten und anzuleiten. Zum anderen ist Spiritualität selbst im Prozess, Bezogenheit verändert beide Beziehungspartner. Deshalb versteht Karl Baier unter Spiritualität nicht nur die Durchstimmtheit des Lebens, die bewusste Lebensgestaltung und die spirituellen Übungsweisen im Horizont von etwas unbedingt Angehendem, sondern auch die Wege, auf denen man zu Letzteinsichten und Letztentscheidungen gelangt, sowie die spirituellen Krisen, die entstehen, wenn sich der Horizont der Letzteinsichten in einem Umbruch befindet, sowie alles, was mit diesen Krisen und ihrer Bewältigung zusammenhängt.
Gerade die Aufmerksamkeit für die spirituellen Krisen bewahrt Seelsorgerinnen und Seelsorger davor, ihr eigenes spirituelles Programm anderen überzustülpen oder für das allein selig machende zu halten.
Sich einzugestehen, dass die eigene Spiritualität nicht dauerhaft krisenfest ist, befördert auch das Verständnis für Menschen, die sich religiös permanent in der Krise befinden bzw. das Gefühl haben, religiös und spirituell diffus unterwegs zu sein. In der gegenwärtigen Gesellschaft sind die Menschen, die sich auf einer „Religionsbaustelle“ befinden, die Mehrheit. Michael Hochschild nennt sie daher „dilletierende Religionsarchitekten, Religionsliebhaber […]. Sie sind der harte Kern der Renaissance der Religion im Gewand der Spiritualität“.
Gleichzeitig stellt Detlef Pollack in seiner großen Studie zur Religion in der Moderne fest, dass diffuse Religiosität, die keinen personalen Gott, sondern ein unbestimmtes höheres Wesen im Blick hat, und abnehmende Kirchlichkeit in eins gehen. „Im Westen Deutschlands vertritt jedenfalls die Mehrheit einen diffusen Transzendenzglauben ohne kirchliche Partizipation“. Allerdings ist zu beachten, dass einem (noch) unbestimmten Glauben kirchlicherseits auch kein Angebot entspricht. Die Menschen auf der spirituellen Baustelle brauchen zumindest ab und zu eine Baubetreuung, aber keinen Fertighausanbieter.
Nur eine reflektiert prozesshafte Spiritualität der Seelsorger/innen vermag mit diesen spätmodernen Herausforderungen umzugehen, ohne dass die eigene Christlichkeit in Gefahr gerät. Da wiederum hilft eine Spiritualität der Haltungen, die gelassen Gott überlassen kann, was er mit den Menschen des 21. Jahrhunderts vorhat. Die Neugierde darauf legt uns Philippe Bacq ans Herz: „Was geht zwischen Gott und diesen Frauen und Männern vor, die am Beginn des 21. Jahrhunderts leben? Welche Wege nimmt Gott, um sich ihnen zu nähern und zu ermöglichen, dass sie neu zu seinem Leben geboren werden? Inwieweit lädt er die Kirche ein, ihre traditionelle Art zu glauben und zu leben, umzuwandeln, um diese Begegnung zu ermöglichen?“