Das ewige Licht

Viele kennen sicher das Gebet, das wir oft für Verstorbene sprechen: „Herr, gibt ihnen die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihnen.“ Mit dem Wunsch, dass ihnen das ewige Licht leuchte, verbinden wir in der Regel die Vorstellung, dass sie sich jetzt in einem anderen Bereich befinden, den wir auch Himmel nennen, in dem ein anderes Licht leuchtet als das Licht, das wir bisher gewohnt waren.
Mir kam am Beginn eines Tages, als ich mich noch auf meine Träume konzentrierte, der Gedanke: Der Wunsch, dass das ewige Licht leuchte, könnte auch mir, uns, die wir noch leben, gelten. Damit meine ich: Das ewige Licht muss nicht nur der Welt des Ewigen vorbehalten sein. Dieses Licht kann jetzt schon aus der Welt des Ewigen in unsere Welt, in mein Leben hereinleuchten. Wie ein Lichtstrahl, der aus einer weiten Ferne kommend uns mit seinen Strahlen umfängt. Und das auf eine so anziehende Art, dass wir uns ihm kaum entziehen können, ja regelrecht von ihm angezogen werden.
Das hat für mich nichts Lebensverneinendes an sich. Es trägt vielmehr dazu bei, mitten im Leben vom Glanz des ewigen Lichtes umfangen zu sein. Es erinnert mich an die Erkenntnis von C. G. Jung, über die er in seinen Erinnerungen schreibt: „Wer versteht und fühlt, dass er jetzt schon an das Grenzenlose angeschlossen ist, dessen Wünsche und Einstellungen verändern sich“. Das ewige Licht weist mir den Weg zum Ewigen. Es richtet meinen Blick auf das Ewige. Romano Guardini drückt das für mich mit den Worten aus: „Unser ganzes Leben sollte der Ewigkeit Nachbar sein. Immer sollte in uns die Stille sein, die nach der Ewigkeit hin offen steht und horcht“. Gelingt uns das, sind wir empfänglich für das Licht, das ewige Licht, das von dort zu uns strömt.
Seelsorge in Fülle will dazu beitragen, dass wir dem ewigen Licht folgen. Uns von ihm leuchten, ja heimleuchten lassen. Es ist das ewige Licht, das uns den Weg zur wahren Heimat weist. Es zeigt uns den Weg, der uns ans Ziel unserer Sehnsucht führt. Wir benötigen, solange wir leben, auch das Tageslicht. Auch ist es wunderbar, dass wir uns an ihm erfreuen dürfen. Doch beschränken wir uns darauf, müssen wir auf eine wichtige Dimension von Leben verzichten.
Durch das ewige Licht, das aus der Ewigkeit in unser Leben strahlt, erweitern sich unser Blick und damit unser Leben. Je älter wir werden, desto mehr werden wir offen dafür, desto bereiter sind wir, dem Lichtstrahl, der vom ewigen Licht ausgeht, zu folgen. Ja er zieht uns regelrecht an, findet er doch in unserer Sehnsucht einen Resonanzboden. Der Tiefenpsychologe Robert A. Johnson spricht von der Goldenen Welt und meint damit den Ort in uns, an dem wir mit dem ganz Anderen, dem Heiligen, dem Ewigen in Berührung kommen und die Erfahrung machen dürfen, jetzt schon an das Grenzenlose angeschlossen zu sein. Es ist die Welt, der Ort, an dem wir besonders sensibel sind für das ewige Licht, auch weil dieses Licht dort bereits strahlt.
Das Licht, das aus der Ewigkeit in unser Leben leuchtet, erinnert uns an das, was wirklich zählt, wie Liebe und Freundschaft, und relativiert so manches, was wir bisher nur im Tageslicht gesehen haben. Von diesem ewigen Licht geht auch etwas Tröstendes aus. Wenn wir nicht alles erreichen, was wir gerne erreichen würden, auch wenn wir Enttäuschungen hinnehmen müssen, Verluste erleiden, scheitern, geht es weiter. Angesichts der Ewigkeit, an die uns das ewige Licht erinnert, weitet sich unser Blick, reicht er über das Tagesgeschäft hinaus.
In dem griechischen Hymnus „Phos hilarion“ aus dem zweiten Jahrhundert heißt es an einer Stelle: „Du Licht vom Lichte, du zeigst uns das Antlitz des Vaters; in Liebe leuchtest du: Jesus Christ.“
Die Schwestern auf dem Schwanberg in Unterfranken singen bei der Begrüßung des Sonntags diesen Hymnus. Zuvor werden feierlich Kerzen entzündet. Ich erlebe das immer wieder als einen Moment, bei dem das ewige Licht für mich zum Antlitz des Vaters wird und ganz tief in mir meine Sehnsucht danach, das Antlitz des Vaters zu sehen, erfüllt wird.
So leuchtet das ewige Licht nicht nur für die Verstorbenen, sondern auch für die Lebenden. Auch stellt es eine Verbindung her zwischen dem jetzigen Leben und der Ewigkeit, dem Leben und dem Tod.

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