Die lateinamerikanischen Bischöfe formulierten auf ihrer dritten Generalversammlung im mexikanischen Puebla 1979 zwei Optionen: Die vorrangige Option für die Armen und für die Jugend. Junge Menschen werden seitdem als besonders wichtige und dynamisierende Subjekte in der Kirche wahrgenommen und nicht länger als Objekte kirchlicher Zuwendung. Dies war etwas Neues, denn Glaubensgemeinschaften tendieren dazu, den Ältesten, Presbytern und Betagten einen besonderen Platz einzuräumen. Eine bevorzugte Option für Menschen mit viel Lebenserfahrung kennen die biblische Tradition wie auch die ursprünglichen Kulturen Lateinamerikas. In der Bibel kommen Kinder nur am Rande vor – und Jugendliche fast gar nicht. Dieser „neue“ Lebensabschnitt entstand erst, als sich infolge des Ausbaus schulischer Bildung und der Industrialisierung die Zeit zwischen der Pubertät und der Gründung einer eigenen Familie immer weiter ausdehnte.
Seit fast vierzig Jahren sind diese Menschen aus der Sicht der Kirche Lateinamerikas und der Karibik besonders wichtig, da sie eine „große, neue und drängende Kraft“ darstellen. Sie haben eine hohe Sen sibilität für gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die sie stets mitgestalten wollen. Oft genug werden sie aber auch Opfer genau dieser Prozesse. Sie leben in der Perspektive einer offenen Zukunft, die Raum für Veränderung bietet. Wie schon mit der bevorzugten Option für die Armen, die auf der zweiten Generalversammlung 1968 in Medellín vorbereitet wurde, geht es der Kirche Lateinamerikas und der Karibik nicht um die Pflege des Bestehenden und den Erhalt der Tradition, sondern um die Gestaltung des Reiches Gottes, das beständig zum Aufbruch herausfordert. Offensichtlich wird den Jugendlichen zugetraut, die Kirche nicht zur Ruhe kommen zu lassen und sie damit an ihre originäre Mission zu erinnern.
Jung sein in Lateinamerika und der Karibik
Die Lebenswelten junger Menschen in Lateinamerika und der Karibik sind sehr vielfältig und es stellt sich die Frage, ob sich ein gemeinsames Verständnis definieren lässt und wenn ja, welches? Sicherlich gibt es junge Menschen aus der Ober- und Mittelschicht, die ihre Jugend als Zeit der Entwicklung, des Ausprobierens, der Veränderung und der Kreativität in einem geschützten Raum erleben. Aber immer noch lebt die Mehrheit der Jugendlichen des Kontinents in Armut. Sie müssen frühzeitig zum Familieneinkommen beitragen oder selbst für ihren Unterhalt sorgen, sei es als Tagelöhner auf dem Land oder in den Megacitys des Kontinentes. Existiert „Jugend“ als Lebensphase für junge Frauen und Männer, die sich in den Reihen des Militärs, der Spezialeinheiten der Polizei, der illegalen bewaffneten Verbände, der Sicherheitsfirmen und der Gruppen der organisierten Kriminalität finden? Gibt es Jugend für junge Frauen, die – selbst noch nicht erwachsen – ohne Unterstützung der Väter Verantwortung für eigene Kinder tragen? Gibt es Jugend für Teenager, die migrieren: junge Menschen, die aus den Wäldern des kolumbianischen Pazifikraumes vor Gewalt fliehend nach Osten in die Anden-Städte aufbrechen. Jugendliche, die in Mittelamerika auf den Zug „La Bestia“ aufspringen und, um den Drohungen der Banden zu entkommen, Richtung USA reisen. Junge Leute, die in Nussschalen Kuba verlassen und aus Sehnsucht jenseits des karibischen Meeres ihr Lebensglück in den USA suchen. Junge Menschen, die sich vom Hunger getrieben aus Haiti nach Süden bewegen. Sie landen im brasilianischen Amazonasgebiet oder in Chile. Alle sind auf der Suche nach einem Stück Himmel. Sie finden nicht selten die Hölle. Viele der jungen Menschen in Lateinamerika sind Situationen ausgesetzt, die man keinem Erwachsenen zumutet, weder in Lateinamerika noch in Europa. Viele sind dem Tod näher als dem Leben, näher der Versklavung als einer selbst gestalteten Zukunft. Die kirchliche Option für die Jugend ist somit auch eine Konkretisierung der Option für die Armen.
Die Option für die Jugend formuliert von den Bischöfen des Kontinents
Mit der in Puebla formulierten bevorzugten Option für die Jugend griffen die Bischöfe pastorale Praktiken und Reflexionen auf, die sich seit 1968 in Folge der Zweiten Generalversammlung in Medellín entwickelt hatten und auch in den folgenden Jahren Bestätigung finden sollten. 2013 veröffentlichte der lateinamerikanische Bischofsrat (CELAM) das Dokument „Zivilisation der Liebe – Projekt und Mission“ als Folge eines strukturierten Beteiligungsprozesses von Jugenddelegierten, Seelsorgern, Bischöfen und Fachleuten. Es gibt Auskunft über Kontext, Verständnis und Praxis der Jugendoption und ist der aktuelle Referenztext zur Jugendpastoral auf dem Kontinent.
Der erste Teil des reichhaltigen Textes – nach dem klassischen Dreischritt die Etappe „Sehen“ – beschreibt gründlich und verständlich relevante Aspekte der Realität: Die Veränderungen in der Konstruktion von Identitäten und die Bedeutung der Innerlichkeit und des Körpers, die Relativierung von Zeit und Raum durch Digitalisierung und Globalisierung und die Bedeutung der Familie. Von den sozioökonomischen und politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen wird zu Bildung, Armut, Arbeitslosigkeit, Gewalt, Biodiversität und Ökologie, Aids, Drogen, Alkohol und Prostitution geführt. Im dritten Teil – klassisch die zweite Etappe des „Urteilens“ – kommt eine im Zweiten Vatikanum und den Texten der lateinamerikanischen Bischöfe verortete Gotteslehre, Anthropologie und Ekklesiologie zur Darstellung, die ihre Bestätigung im Zeugnis vieler Christinnen und Christen findet, derer als Märtyrer gedacht wird. Im vierten Teil werden 7 Handlungsoptionen vorgestellt.
Die Jugendoption und die Projektarbeit von Adveniat
Adveniat sieht sich in seiner Projektarbeit der vorrangigen Option für die Armen und die Jugend verpflichtet und hat zum Beispiel ein eigenes Strategiepapier zur Umsetzung der Option für die Armen in der Projektarbeit entwickelt. Das Lateinamerika-Hilfswerk fördert aus diesem Grund sowohl strukturelle Prozesse auf Kontinental- oder Nationalebene als auch viele kleine Initiativen von Verbänden und Pfarreien vor Ort.
Ein Beispiel für die Förderung ist die Jugendpastoral des Panamazonischen Netzwerkes Repam, an dem sich alle Bischofskonferenzen der neuen Amazonasstaaten beteiligen. Junge Menschen, besonders in der Amazonía, leiden unter den Verwerfungen ihrer Gesellschaften, gleichzeitig bringen gerade sie häufig Kreativität, Freude und Fähigkeiten in zukunftsgerichtete Prozesse ein. Bei verschiedenen internationalen und nationalen Treffen werden die Themen der jungen Menschen in der Amazonía identifiziert, Methoden entwickelt, in einem „amazonischen Bildungskorb“ (cesta amazonica) gesammelt und verbreitet sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren ausgebildet. Angesprochen werden Frauen und Männer im Alter von 18 bis 30 Jahren, die sich zu einer Initiative oder Gemeinde der katholischen Kirche im Amazonasraum zugehörig wissen, sensibel für die Fragen und Herausforderungen Jugendlicher in ihren Kontexten sind, Zeit, Engagement und einen Internetzugang mitbringen.
In einem Armenviertel am Rand von Bogotá/Kolumbien fördert die Adveniat-Projektpartnerin Schwester María Helena Céspedes junge Menschen auf ihrem Weg zu einem selbstbewussten, selbstbestimmten und friedlichen Leben in einem Land, dass von dem jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt schwer gezeichnet ist. In Anlehnung an die Pädagogik Paolo Freires und die Theologie der Befreiung setzt sie gemeinsam mit weiteren Lehrer/ innen, Theolog/innen und Erzieher/ innen Bildungsprozesse bei den jungen Menschen in Gang, die es ihnen ermöglichen, den Friedensprozess konkret in ihrem Leben zu nutzen. Die Jugendlichen sind durch die ständige Konfrontation mit Gewalt, Vertreibung, Armut und Entmenschlichung einem hohen Stress ausgesetzt, der ihre körperliche Gesundheit und ihr emotionales und spirituelles Gleichgewicht gefährdet. Das Projekt soll es ermöglichen, für die Jugendlichen einen Raum des Friedens zu schaffen, in dem sie sich artikulieren und entfalten können. Das Projekt nutzt vor allem Theater, Tanz und Kunst als Ausdrucksformen.
In den Pfarreien der Erzdiözese San Salvador/El Salvador fördert Adveniat die Menschenrechtsarbeit. Das ganze Land ist als Erbe des Bürgerkrieges und aufgrund von hoher sozialer Ungleichheit fest in der Hand der Gewalt. Armut und Perspektivlosigkeit treiben die jungen Menschen in die Arme der extrem gewalttätigen Jugendbanden, der sogenannten „Maras“. Dort können sie ihren Lebensunterhalt bestreiten und erhalten gleichzeitig soziale Anerkennung, die ihnen in den oftmals stark zerrütteten Familienstrukturen fehlt. Der Staat reagiert mit Gewalt auf die Situation und ist dabei selbst in Korruption und Drogenkriminalität verstrickt. Die Menschenrechtsschulungen und die Arbeit der Pfarreien der Diözese sind kleine Hoffnungsschimmer für die Menschen vor Ort. Zum einen unterstützen geschulte pastorale Mitarbeitende die Menschen bei der Einforderung ihrer (Menschen-)Rechte, zum anderen werden die Pfarreien selbst zu Menschenrechtsschulen, in denen weitere Multiplikator/innen ausgebildet werden. Gerade mit jungen Menschen werden Gewaltpräventionsprojekte durchgeführt, die sie auf der Suche nach Alternativen zu den Jugendbanden unterstützen.
Perspektiven für die Jugendpastoral in Lateinamerika
Die vorrangige Option für die Jugend unterliegt einem steten Wandel, um auf die immer neuen Anfragen für die jungen Menschen in der Welt von heute zu antworten. Perspektiven für Jugendpastoral in Lateinamerika stellen sich folgendermaßen dar: Zum Beispiel soll die vertiefte Einbeziehung von Ergebnissen der Jugendforschung, der Austausch mit anderen hermeneutischen Zugängen zur Bibel und die Entwicklung weiterer Methoden und einfacher Materialien der Bibelarbeit erfolgen. Die Entwicklung einer „Jugendtheologie“ ist mitunter eine Herausforderung für die verfasste Kirche, die Herkunftsfamilien und die akademische Theologie. Die Artikulation der Spiritualität, mit ihren verschiedenen künstlerischen Formen, öffnet ein weites Feld für viele junge Menschen, die nach Raum suchen, in dem sie ihre Erfahrung mit Gott ausdrücken können. Die komplexen Lebenswirklichkeiten junger Menschen bedürfen ebenfalls der Vertiefung und der permanenten Aktualisierung. Handfeste Schritte zur Sicherung der materiellen Lebensgrundlage junger Leute müssen im Blick bleiben. Ebenso braucht es Reflexionen zum Verhältnis von Theologie und Pädagogik, die seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in Lateinamerika einen gemeinsamen Weg zugunsten der Armen zurückgelegt haben.
So hat die vorrangige Option für die Jugend befreiende Impulse des Evangeliums aufgegriffen, erkenntnis- sowie handlungsleitende Prozesse in Gang gebracht. Und nicht zuletzt ermutigt Papst Franziskus dazu, diesen eingeschlagenen Weg weiterzugehen. So sagte er beim Weltjugendtag 2013 in Rio de Janeiro zu den Jugendlichen: „Aber ich will, dass ihr auch in den Diözesen Wirbel macht, ich will, dass man hinausgeht, ich will, dass die Kirche auf die Straßen hinausgeht, ich will, dass wir standhalten gegen alle Weltlichkeit, Unbeweglichkeit, Bequemlichkeit, gegen den Klerikalismus und alles In-sich-verschlossen-sein. Die Pfarreien, die Schulen, die verschiedenen Einrichtungen sind da, um hinauszugehen …“.
Informationen:
Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Fachbeitrags von Thomas Wieland, der 2017 unter dem Titel: „Jugendpastoral in Lateinamerika und dem karibischen Raum“ erschienen ist. (In: Franz Gmainer-Pranzl/Sandra Lassak/Birgit Weiler (Hg.), Theologie der Befreiung heute. Herausforderungen – Transformationen – Impulse. Salzburger Theologische Studien 57. Innsbruck/ Wien 2017, S. 431– 448)