Innere Freiheit

Wie halten das Menschen aus, die in einem Gefängnis leben müssen, weil sie sich für die Menschenrechte eingesetzt haben? Wie können sie damit leben, der Willkür von Machthabern ausgesetzt zu sein? Viele halten das nicht aus und gehen körperlich und seelisch zugrunde. Eine andere, vergleichbare Situation kann ein plötzlich notwendiger Krankenhausaufenthalt sein, der alles, was bis dahin den Alltag bestimmte, durchkreuzt und uns zwingt, uns den dortigen Gegebenheiten unterzuordnen.
Man kann an solchen Situationen verzweifeln und innerlich zerbrechen oder, was gut zu verstehen ist, man versucht, innerlich dagegen aufzubegehren und mit seinem Schicksal zu hadern. Man spürt jedenfalls, dass einem hier etwas von anderen – Menschen, dem Schicksal – zugemutet wird, dem man zunächst machtlos gegenübersteht. Mir erging es so, als ich innerhalb weniger Minuten mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass ich, um mein Herz vor möglichen Schädigungen zu schützen, am Herzen operiert werden musste.
Es gibt viele weitere Beispiele für Situationen, in denen wir, bezogen auf unsere Möglichkeiten, darauf zu reagieren, gar sie zu verändern, sehr deutlich auf unsere Grenzen verwiesen werden. Und doch, so meine Erfahrung, bleibt uns manchmal mehr an Spielraum als wir zunächst dachten.
Ein Beispiel: Roberto Assagioli haben eigene Erfahrungen davon überzeugt, dass wir dem Schicksal nicht nur ausgeliefert sind. Er ist der Begründer der Psychosynthese, einer psychotherapeutischen Richtung, die der Psychoanalyse von Sigmund Freud zwar wichtige Erkenntnisse verdankt, aber über sie hinausgeht, indem sie im Unterschied zu ihr der spirituellen Dimension eine positive Rolle beim Heilungsprozess zuspricht. Weiterhin hat die Willenskraft in seinem therapeutischen Ansatz eine große Bedeutung. Bei ihm war es ein dreimonatiger Gefängnisaufenthalt, der ihm klarmachte, dass er dieser Situation nicht einfach nur ausgesetzt war. Er erinnerte sich voller Dankbarkeit an diesen Aufenthalt im Gefängnis, da er „erkannte“, so schreibt er, „dass ich frei war, entweder die eine oder die andere Einstellung gegenüber der Situation einzunehmen, ihr den einen oder anderen Sinn beizumessen, sie in dem einen oder dem anderen Sinn zu nutzen“ (Ursel Neef und Georg Henkel in ihrem Büchlein über Psychosynthese). Wir finden ähnliche Gedanken bei Viktor Frankl, dem Begründer der Logotherapie. Er plädiert dafür, sich in einer schwierigen Situation nicht nur von der Situation bestimmen zu lassen, sondern sich seine innere Freiheit zu erhalten, die es ermöglicht, Stellung zu meiner Situation beziehen zu können. Die äußeren Umstände mögen furchtbar sein. Das muss uns aber nicht davon abhalten, die Möglichkeit, die uns geblieben ist, zu entscheiden, wie wir die Situation sehen, einordnen und bewerten, zu nutzen. Das ist die innere Freiheit, die uns auch durch eine schlimme Situation nicht genommen werden kann. So verstand es die junge Holländerin Etty Hillesum kraft ihrer inneren Freiheit, sich nicht von der Willkür der Schergen des Naziregims überwältigen zu lassen, sondern in eine innere Distanz zu deren Verhalten zu treten. Sie war überzeugt davon, dass einem „das Allerletzte im Inneren nicht genommen werden kann“. Die innere Freiheit spielt aber nicht nur in so dramatischen Situationen, wie sie für Roberto Assagioli, Viktor Frankl oder Etty Hillesum zutreffen, eine Rolle. Man denke etwa an alltägliche Situationen: Wie geht man mit der Willkür des Chefs um oder wie bewältigt man eine schwierige familiäre Situation, wenn zum Beispiel die kranke Mutter in der Familie wohnt und dieser Umstand den anderen Familienmitgliedern viel Geduld und Energie abverlangt? Oder wie kommen Seelsorger und Seelsorgerin nen mit dem klerikalen Verhalten kirchlicher Behörden zurecht?
Seelsorge in Fülle kann hier heißen, Menschen, die sich in einer schwierigen, aussichtslos erscheinenden Situation befinden, zu helfen, ihre Möglichkeiten, die ihnen dennoch geblieben sind, zu entdecken und dann auch zu nutzen. Dazu zählt ihre innere Freiheit, die es ihnen ermöglicht, zu entscheiden, wie sie ihre Situation sehen und bewerten, oder in ihr mitunter einen Sinn zu finden. Allein sie drauf aufmerksam zu machen, kann eine erste Form von Hilfe sein. Seelsorger tragen damit dazu bei, die Personen, für die sie da sind, zu ermutigen, ihre Verantwortung wahrzunehmen und nicht zu schnell sich einfach dem anscheinend vorgegebenen Schicksal zu ergeben.

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