„Ich sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr“, sagt mir Pfarrer Klaus M., der vor einem Jahr die Verantwortung als Leitender Pfarrer eines pastoralen Raumes übernommen hat. „Ich wollte den Erwartungen meines Bischofs entsprechen und habe mir die Aufgabe auch zugetraut. Schließlich bringe ich viel Erfahrung mit!“ Nach einiger Zeit stellte Pfarrer M. fest, dass er sich verhaspelt hatte und ihm die innere Orientierung fehlte. Zu viele Aufgaben musste er in kurzer Zeit erledigen: Pfarrgemeinderäte waren zusammenzuführen, eine Immobilie gegen den Widerstand der Gemeinde zu verkaufen, ein Team zu formieren. „Ich habe keinen Überblick mehr. Mir ist das innere Ziel verloren gegangen.“
Im Beratungsgespräch arbeiten wir am inneren Chaos, das ihn umtreibt, und an den verschiedenen Parteien in seiner inneren Welt: „Mir macht es nichts aus, wenn mir der Bischof noch eine Pfarrei gibt“, spricht der Engagierte in ihm, „ich bin ja schließlich gut organisiert“. „Noch einen Hausbesuch, dann bin ich zufrieden“ – der Perfektionist. „Du bist hart im Nehmen. Fünf Stunden Schlaf reichen“ – der Hartgesonnene. „Die Leute sollen dir nicht anmerken, dass alles zu viel ist“, sagt der Wohlgelaunte, „lass dir von deiner chaotischen Gefühlswelt nichts anmerken.“ So beschreibt er die Player und Motive, die in ihm im Widerstreit liegen. Das Ergebnis steht uns beiden vor Augen: Pfarrer M. ist müde und abgespannt. Er ist nicht mehr zufrieden. Es fehlt ihm die Orientierung. Er findet keinen Ausgleich. Tief im Inneren treibt ihn die Angst um, zu scheitern. Die widersprüchlichen Botschaften sind offensichtlich. Wie kann er diese lösen? Kann ihm dabei eine geistliche Haltung behilflich sein?
Vom Ungeist des Vieltuns
„Das Vieltun ist die Akedia von heute“, sagt mir ein erfahrener geistlicher Begleiter, „trotz der lauteren Motive: dem angestrengten Eifer, dem starken Engagement, dem Willen, Gutes zu tun. Wenn wir uns ständig überlasten, werden wir innerlich zugrunde gehen.“ Die Akedia ist in der geistlichen Tradition der Überdruss an der eigenen Berufung. Man verliert die innere Freude an der Arbeit, obwohl man anfangs übereifrig war. Die Spannkräfte der Seele sind erschöpft, gerade weil man sich anfangs voller Elan auf das Neue einließ. Die Arbeit geht nicht mehr voran und die innere Bereitschaft, sein Leben bewusst zu gestalten, geht verloren. Praktisch heißt das: Man bleibt nicht mehr bei der Sache, will aus dem gewohnten Engagement ausreißen und sich einen bequemeren Ort suchen, entwickelt eine Aversion gegen den bisherigen Lebensstil, gibt gute Gewohnheiten und den bewährten Alltag auf. Die Seele wird krank. Oft ist dahinter ein tieferer Grund verborgen: der Zorn über das Vorhandene etwa oder die Sehnsucht nach dem, was man nicht hat.
Innere Antreiber haben einen in
Besitz genommen. Zornig über die alltäglichen Lasten, die über einen herfallen, ist man wie der Mönch, der sich ohne Pause vergebens abmüht, mit einem Hammer einen Felsen zu zertrümmern, weil er von einem unguten Geist angetrieben wird. In seinem inneren Drang kann er von seiner Arbeit nicht ablassen. Ein Altvater sieht das und fragt ihn:
„‚Was ist das für eine Arbeit, die du da tust?‘ Jener antwortete: ‚Wir arbeiten uns ab gegen diesen harten Stein und konnten ihn kaum zerstoßen.‘ Der Vater gibt ihm recht: „Richtig sagtest du ‚wir konnten‘. Denn du warst nicht allein, als du drauf losgeschlagen hast, sondern es war ein anderer mit dir, den du nicht gesehen hast. Der stand dir bei dieser Arbeit nicht als Helfer zur Seite, sondern als der grausamste Hetzer.“ (vgl. Johannes Cassian, Unterredungen 9,6) Es sind demnach verschiedene Stimmen im verzweifelten Mönch aktiv, die des Eifrigen, des Hetzers, dessen, der sich verändern will ... Wie können wir diesen Konflikt in uns sehen lernen?
Innere Konflikte
Konflikte haben nicht nur eine Außenseite, sondern auch eine im Innern der Persönlichkeit. Nehmen wir diese Innenseite eines Konfliktes nicht wahr, blockieren diese Spannungen uns und unser Tun. Wir geraten in innere Widersprüche und tragen diese nach außen.
Ob ich es will oder nicht, Gedanken, Gefühle, innere Merksätze und Antreiber steigen in mir auf. Souveränität entsteht erst durch innere Klarheit. Stress kann ich demnach nur abbauen, wenn ich die Verantwortung für meine eigenen Gefühle wahrnehme, das dahinterliegende, oft widerstreitende Grundgefühl – Angst und Vertrauen, Wut und Liebe, Ärger und Zuversicht, Lethargie und Tatkraft … – zulasse. Daher muss ich einen echten Kontakt zu mir selbst aufbauen und die tiefer liegenden Bedürfnisse und Wünsche wahrnehmen: den Wunsch nach Freiheit und Versöhnung, nach Ehrlichkeit und Selbstwertschätzung, nach Verständnis und Geborgenheit, nach Harmonie mit anderen und innerem Frieden (vgl. Rosenberg 2016). Dieser Prozess kann durchaus schmerzhaft sein, denn ich übernehme ja die Verantwortung für mich, ärgere mich vielleicht über meine Schattenseiten und muss mutig herausfinden, was ich wirklich will. Gelingende Konfliktbewältigung, auch von Sachund Beziehungskonflikten, setzt beim inneren Erleben an.
Friedemann Schulz von Thun hat mit dem Bild vom inneren Team einen praktischen Weg zum Umgang mit inneren Konflikten aufgezeigt. Bei Pfarrer M. sahen wir, wie verschiedene, teils widersprüchliche Stimmen in ihm zum Klingen kommen. Innere Antreiber und Glaubenssätze geben uns widersprüchliche Botschaften. Einige sind laut, andere kommen ganz leise daher. Einige drängen sich nach vorne, andere nehmen wir erst spät wahr, einige sind willkommen, andere wollen wir gar nicht wahrhaben. Manche dieser Botschaften kennen wir seit unserer Kindheit, andere entstehen, weil wir überbeschäftigt sind. Gerade in der Belastung werden blockierende Glaubensmuster deutlich.
Schulz von Thun (1998) schlägt einen Prozess der inneren Verlangsamung vor. Er lässt die inneren Bewegungen im Konflikt zu, artikuliert die Widersprüche und entwickelt eine Lösung, die aus dem Inneren kommt. Er ermutigt, sich selbst zu erkunden. Er bringt dabei die verschiedenen Teamplayer ins Gespräch. Er führt eine ‚innere Ratsversammlung‘ durch und gibt dabei folgende, aufeinander aufbauende Empfehlungen: 1. Identifiziere die inneren Stimmen in dir! Lasse Pluralität und Widersprüche zu. Versuche vor allem, die verschiedenen Stimmen als Teil deiner Selbst anzunehmen, und zwar so, wie sie sind. Bewerte nicht, höre hin! 2. Nimm die verschiedenen Stimmen und Konflikte deines inneren Teams aufmerksam wahr: die Hauptdarsteller und Nebenrollen, die auf und die hinter der Bühne. 3. Bringe die verschiedenen Argumente miteinander ins Gespräch und lasse die freie Diskussion zu. Jede Stimme, auch die, die destruktiv scheint, trägt einen förderlichen Impuls in sich. Die Teamplayer können miteinander kommunizieren, wenn die wahren Bedürfnisse ausgesprochen werden. Entscheide dich für Kooperation. 4. Der Chef führt. Dieser Chef ist dein Ich. Nicht die vorlaute Stimme, sondern du kannst als Persönlichkeit Abstand nehmen und deine innere Welt anschauen, reflektieren und eine Lösung erarbeiten. 5. Bilde verschiedene innere Teams und lasse im Dialog dieser Teams eine Reihe von Lösungen zu.
6. Prüfe, was jetzt stimmig ist und
wie die verschiedenen inneren Bedürfnisse zum Zuge kommen oder auch nicht. Entscheide, was du nach außen weitergeben willst.
Ziel dieses Prozesses ist die Selbstklärung und Selbstsorge angesichts der Pluralität verschiedener Motive und Handlungsoptionen. Die Persönlichkeit wächst und ist für schwierige Situationen gewappnet. Dieses Ziel ist auch der spirituellen Erfahrung nicht fremd.
Was tust Du da? – Vom geistlichen Kampf
Die Schrift kennt ihn, den „Kampf der Leidenschaften im Innern“ (vgl. Jak 4,1). Paulus, der Apostel des inneren Zwiespaltes und Kampfes, weiß von sich, dass er zwar das Gute will, aber oft genug dem Bösen verfallen ist (vgl. Röm 7,15–24). In der Taufe sagen wir dem Bösen ab und überantworten uns dem Guten.
Angesichts unserer eigenen Grenzen und inneren Konflikte wird eine geistliche Herausforderung sichtbar – abzusagen und zu kämpfen. In der Spiritualität der Mönchsund Kirchenväter ist die Absage an das Böse Teil christlichen Lebens. Sie ermutigen, mit den inneren Bewegungen in uns – vor allem den Gedanken und Leidenschaften – umzugehen. Die Gedanken sind weit mehr als Gedankenspiele, sie sind negative Prägungen der Seele, blockierende Gewohnheiten, festgefahrene und lebensbehindernde Muster, verborgene Wünsche, schlechtes Denken über uns selbst und andere, ein übergroßes Bedürfnis nach Macht, Anerkennung und Erfolg, Fehlverhalten und Laster, Trägheit und Überdruss, in der Sprache der Alten: Dämonen und Abergeister. Diese Gedanken und Leidenschaften sollen wir als innere Bewegungen anschauen und uns aktiv mit ihnen auseinandersetzen, mit ihnen ins Gespräch kommen und dort kämpfen, wo sie uns blockieren. Ziel ist, dass sie sich nicht in unserer Seele festsetzen, sondern uns durch die innere Auseinandersetzung frei machen.
Es geschieht ein geistlicher Kampf, der das Innerste in unserer Person berührt (Ruppert 2012). Wozu? Damit wir nicht vor uns und unserer Berufung fliehen, sondern Zuflucht finden in Gott, damit unser Herz wieder weit wird und an Spannkraft gewinnt. Die alten Väter und Mütter geistlichen Lebens stellen sich ihren negativen Prägungen und Eigenschaften: dem Zorn, dem Unmut, der Gier nach Mehr, dem Misstrauen, der überheblichen IchSucht, dem Überdruss am eigenen Leben, um so einen Prozess der inneren Reinigung zu gehen. Die Absage gilt auch dem Chaos des inneren Teams, dem Widerstreit der inneren Stimmen und dem Kampf gegen den Ungeist, der das Leben schwermacht. Es braucht die tägliche Erprobung und Bewährung, um die negative Kraft der Gedanken zuzulassen, den Leidenschaften zu trotzen und allmählich in die tiefere und heilende Kraft der Liebe zu Gott und zu mir selbst wandeln zu lassen. Dabei darf ich mich in die heilende Nähe Gottes stellen: mit meinen Affekten, in den als widersprüchlich erlebten Anlässen, mit dem, was mich bewegt und bedrängt, in der Annahme meiner Gebrechlichkeit, im Vertrauen auf Gottes Gegenwart jetzt und überall …
Die praktischen Wege und Instrumente sind vielfältig: der Rat des erfahrenen Bruders (und der Schwester!), das Aufschreiben der Gedanken, Gebet, geduldiges Bleiben im selbst gewählten Lebensmittelpunkt, das heilende Wort der Schrift, das ich immer wieder in mich hineinlasse. Man soll die Dämonen nicht fürchten, vielmehr Christus atmen und an ihn glauben, sagt der heilige Antonius zum inneren Kampf. So kann ich ein Psalmwort wählen, das in meine Lebenssituation hineinspricht, es immer wieder im Herzen aussprechen und durchatmen durch Beten, Verweilen und Verkosten. Dann kann so ein Wort zur heilenden Einrede werden. Vielleicht ist es das Wort, das die alten Erfahrenen dem Müden und Überdrüssigen mit auf den Weg geben, das Glutgebet, das tiefes Vertrauen in der Bewältigung des inneren Kampfes ausspricht und zum Schatz der betenden Kirche geworden ist: „O Gott, komm mir zur Hilfe, Herr eile mir zu helfen.“ (Ps 70,2)