Wege zu einer Kirche der Versöhnung bahnen„Lasst Euch mit Gott versöhnen“ (2 Kor 5,20)

Wir glauben an einen Gott, der sich radikal den Menschen zuwendet, der die Versöhnung will und bewirkt. Das ist das Signal unseres Glaubens für alle Menschen in der ganzen Welt und eine Botschaft, die weit über das hinausgeht, was wir an kirchlichen Aktionen in den Blick nehmen. Versöhnung wäre meines Erachtens auch das Thema, das unserer Kirche Glaubwürdigkeit und Relevanz zurückgeben könnte.

Die Geschichte Gottes mit den Menschen ist von Anfang an eine gebrochene Geschichte. Das, was sehr gut ist (Gen 1), bricht sich an den Verhaltensweisen der Menschen. Der „Sündenfall“ (Gen 3), der „Brudermord“ (Gen 4) und vieles mehr zeigen die Abwendung der Menschen von Gott und von der guten Ordnung. Dieser Gott könnte sich endgültig von seiner Schöpfung und somit von uns Menschen abwenden. Doch immer wieder wendet er sich voll Erbarmen den Menschen zu. Selbst im zornigsten Mythos von der Sintflut schafft er für Schöpfung und Menschen noch eine Zukunft und verspricht ein „nie wieder“ (Gen 9,11).
Was sich schon im Ersten Testament zeigt, verdichtet sich in der Geschichte Jesu mit den Menschen. Jesus geht auf die Menschen zu. Er nimmt sich des Zachäus (Lk 19,1–
an, vor dessen Umkehr. Er vergibt der Ehebrecherin (Joh 8,1–11) und hofft auf ihre Lebenszukunft. Er kommuniziert auch mit Menschen, die es noch nicht schaffen, umzukehren. Schließlich ist seine Hingabe am Kreuz Ausdruck seiner alles überwindenden Liebe und die Auferstehung Ausdruck der ungebrochenen Treue Gottes zu Jesus und zum Menschengeschlecht.
Versöhnung beginnt immer neu mit dem Wort „Ja“, das Gott spricht, ein Gott, der will, dass alle gerettet werden (1 Tim 2,4).

Der Mensch bedarf immer wieder der Versöhnung

Für uns Menschen ist das eine der besten Zusagen. Denn Menschen sind weder ganz gut, noch ganz schlecht. Sie leben mit ihrer Begrenztheit, die sie immer wieder einholt. Selbst beste Vorbereitung, gewissenhafteste Prüfung, reinste Motive reichen nicht aus, um perfekt zu sein. Vor Gott – und am besten auch vor anderen Menschen – brauche ich dies nicht zu spielen.
„Nobody is perfect.“ Diese Einsicht muss ich aber vor Gottes Angesicht nicht herunterspielen. Ich brauche auch keine Entschuldigungsmechanismen auszulösen, um mit meiner Unvollkommenheit und mit meiner Schuldgeschichte zu bestehen.
Zugleich bedürfen wir der Zusage, dass dieser Schuld keine abschließend letzte Verurteilung folgt. Wir sollten uns sagen lassen, von Gott und anderen Menschen, dass sie uns zutrauen, anders zu werden und anders zu handeln. Nicht die eigene Aussage „Entschuldigung“, die manchem leicht über die Lippen kommt, sondern die Bitte: „Ich bitte um Versöhnung“ ermöglicht, dass andere auf mich zugehen und Versöhnung auch anbieten. Wohl mir, wohl uns, wenn wir sie annehmen können.
Schwierig wird jedoch diese Erwartung, wenn die Schuld übergroß ist und wenn ein Einzelner bestenfalls für sich selber sprechen kann „Ich vergebe dir.“ Um Judas wurde diesbezüglich immer wieder gestritten, ob sein letztes Geschick der Strang ist, an dem er sich erhängte, oder ob das herrliche Kapitell in Vezelay wichtiger ist, wo der gute Hirt Judas trägt und somit in die Versöhnung trägt. Geschichtlich wiederholt sich dies, wenn wir die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Gewalt des Terrors heute sehen und es dann nicht nur um politische oder psychologische Einordnung geht, das ein oder andere „zu verstehen“, sondern um die Fähigkeit Unvergebbares zu verzeihen.

Der Mensch kann Versöhnung bewirken

Nur selten wird es möglich sein, nach einer schweren Verletzung, die wir ertragen mussten, dem Täter ganz auszuweichen. Immer wieder sind wir als Einzelne, wie als soziale Gruppen dazu genötigt, uns zu verhalten: Können wir Versöhnung gewähren? Wie viel Zeit braucht es dazu? Kann ich alleine eine solche Aufgabe leisten, oder müssen nicht andere in diesen Prozess eingebunden sein? Was kann ein Einzelner, eine Einzelne wirklich tragen, wenn ihre Wunde nicht heilbar ist.
Der Mensch kann Versöhnung bewirken, darf sich dabei aber auch nicht unter Druck setzen. Ein zu schnelles „Es ist wieder gut“ hat – bewusst oder unbewusst – Untertöne, die immer wieder anklingen, die erinnern und somit erkennen lassen, dass Versöhnung noch längst nicht wirkt. Manche Prozesse brauchen Zeit, die nicht in einem Masterplan vorab zu kalkulieren sind. Immer wieder erleben und erleiden Menschen, dass die Lebenszeit nicht ausreicht zur Versöhnung und dass es Teile der Biographie gibt, die unversöhnt mit in den Tod gehen. Eine meiner Floskeln, die ich quasi als Motivation zur Versöhnung im Rahmen von Predigten einsetze, ist die Erinnerung: „Bedenken Sie, wenSie im Himmel alles wiedertreffen.“ Und Himmel wird es dann wirklich nur sein, wenn Gott selber die Barrieren unserer Unversöhntheiten verwandelt.
Zugleich machen sie aber auch die Erfahrung, dass gelungene Versöhnung ganz neue Kraft und Energie freisetzt, dass neue gemeinsame Wege gelingen auch in Familien und in anderen Beziehungsgeschichten. Es wäre wert, mehr und mehr solche Versöhnungsgeschichten zu
erzählen.

Christen haben den Dienst für die Gesellschaft

Wer Versöhnung erlebt und wer Versöhnung glaubt, kann selber Diener der Versöhnung werden. Versöhnung ist nicht nur ein individuelles Geschehen. Es ist eine notwendige Bedingung, damit Gesellschaft miteinander leben lernt. Es wird in einer globalen Welt nicht gelingen, alle Interessenkonflikte und alle mit den Konflikten ausgelebten Versetzungen durch Schutzmauern voneinander zu isolieren. Christen, die die Versöhnung für sich angenommen haben, sind dazu befähigt, Versöhnung zu wirken.
Gesellschaftliche und politische Versöhnungsprozesse hat es in den letzten Jahrhunderten zuhauf gegeben. Und immer wieder waren Christinnen und Christen mit dabei, sie zu ermöglichen: In Deutschland hatten wir guten Grund, um Versöhnung zu werben nach dem Holocaust. Und dieser Prozess geht noch weiter. Die deutsch-französischen und die deutsch-polnischen Beziehungen sind durch gegenseitige Vergebungsangebote auf eine gute Spur gekommen. Aber auch international gibt es etliche Prozesse, wo Christen und auch die amtlichen Vertreter der Kirchen den Dienst der Versöhnung leisteten: die Wahrheitskommissionen in Südafrika, die Vermittlungsleistungen der Bewegung San Egidio sind beredte Beispiele. Dass auch gegenwärtig immer wieder Initiativen des Papstes und der vatikanischen Institutionen bei Versöhnungsprozessen angefragt sind, verdeutlicht die Hoffnung, die viele auf die Kraft der Versöhnung von Gott her haben.
Vielleicht sind wir Christen
aber auch gerade deshalb hier gefragt und etwas glaubwürdiger geworden, weil wir viele Schuldgeschichten und viel eigenes Versagen inzwischen offener anschauen und darin bis heute auf Versöhnungsangebote angewiesen sind.
Wer bewusst so lebt, der wird weder Formen von Überheblichkeit und Überschätzung an den Tag legen, noch die echten Schuldgeschichten abwerten und banalisieren. Versöhnung gelingt dann am besten, wenn Bescheidenheit, Selbstkritik und Selbstannahme mit großer Barmherzigkeit, Weite und Liebe zum je anderen verbunden sind.
Dass diese Grundhaltungen nicht selbstverständlich sind, wird in unserer Zeit mehr und mehr deutlich, wenn separatistische Strömungen wachsen und populistisch andere Gruppen ausgegrenzt werden. Was der Volksmund weiß, dass
„gleicher Feind vereint“, muss in der Perspektive der Versöhnung umgedreht werden, dass es darum geht, Feinde zu Freunden zu verwandeln.
Versöhnung lernen
Mehr und mehr wird es darauf ankommen, Versöhnung zu lernen. Der erste Ort, Versöhnung zu lernen, ist die Familie. Diese These muss nicht auf die klassische und traditionelle Kleinfamilie reduziert werden, wenngleich sie vielfache Grundbedingungen hat in der Treuebindung, der gegenseitigen Verantwortung und Fürsorge. Mehr und mehr wird dies auch in anderen Sozialbeziehungen geschehen, auch in „Wahlverwandtschaften“ so sie auf Treue und Achtsamkeit angelegt sind. Das Zusammenleben ist dann eine der Grundlagen für Versöhnungslernen, wenn es gemeinschaftlich reflektiert wird. Nicht Rollenungleichgewichte verschiedener Art, sondern die Möglichkeit, einander mit seinen Schwächen und Stärken angenommen zu wissen, zuzugeben, wo nicht alles gelungen ist, auszusprechen, dass dennoch das Ja zueinander beste hen bleibt, wird eine Grundhaltung der Versöhnung auch in anderen Zusammenhängen erschließen.
Das Modell der „reflektierten Gruppe“, das die kirchliche Jugendarbeit anbietet, ist ein anderer Sozialraum, der auf längere Zeit hin oder auch in einzelnen Projekten und Exposures Raum bietet, den je anderen anzunehmen „vor aller Leistung und trotz aller Schuld“, wie es vom Bibliker Klaus Kliesch zur paulinischen Theologie gesagt wird.
Versöhnung zu lernen (und natürlich auch das Gegenteil) geschieht in einem kritischen Kennenlernen der Geschichte in all ihren Facetten. Auch dieses Kennen und die Reflexionen der Verhaltensweisen, ihre Motivationen und Ursachen tragen dazu bei, Schuldgeschichten rechtzeitig zu erkennen und zu vermeiden oder versöhnend aufzuarbeiten.
Die Konfliktforschung tut ihr übriges durch ihre psychologische Reflexion der Brüche zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Verhaltens.
Schließlich haben wir Christinnen und Christen unser Archiv der vielen Konfliktgeschichten, die in der Bibel und der Tradition der Kirchen gesammelt sind, und die als Lerngeschichten weiter wirken. Dieser Erinnerungsschatz und das anfangs skizzierte Zuerst des Wirkens Gottes können weitere Impulse zum versöhnten Handeln setzen. Dies zu kultivieren, dies zu entfalten in einer kirchlichen gemeindlichen Praxis – auch ökumenisch – würde unseren Kirchen viel an Reputation zurückgeben, weil sie so für den Frieden der Welt wirken
könnten.

Das Sakrament der Versöhnung neu gewinnen

Wie zentral das Angebot der Versöhnung ist, zeigt sich darin, dass Versöhnung als Sakrament ein besonderes Zeichen der Gegenwart Gottes ist. Die Beichte – richtiger das Sakrament der Versöhnung – hat eine sehr wechselhafte Geschichte und ist aus vielen Gründen in unseren Breiten aus der Praxis der Gläubigen weithin verschwunden. Es bietet jedoch, so meine feste Überzeugung, vielfache Chancen für den Menschen, der sich darauf einlässt. Es ist ein Ort, wo dem Einzelnen ausdrücklich zugesagt wird: Deine Sünden sind dir vergeben. Die Versöhnung ist dir von Gott zugesagt. Nicht deine Taten werden kriminalisiert, sondern die Person mit ihrer Schuldgeschichte wird angenommen. Solche Erfahrung hilft dem Einzelnen, die Versöhnung zu leben und sich in seinen alltäglichen und besonderen Lebenssituationen anderen neu zuzuwenden.
Die Beichte bietet dazu die Möglichkeit, im vertraulichen Rahmen das Leben und Tun in den Augen Gottes zu reflektieren und neu zu justieren. Der erfahrene Außenblick des Beichtvaters, seine Wahrnehmungen und Tiefenbohrungen helfen, die eigene Gefährdung und die eigene Kraft neu zu mobilisieren und anzunehmen. Die Erfahrung von über zehn Jahren in der Vorbereitung der Priester auf diesen Dienst, begleitet mit spiritueller und psychologischer Kompetenz, zeigt mir, wie ernsthaft die Seelsorger diese Aufgabe wieder nehmen. Gute Erfahrungen können damit gemacht werden, die besondere Atmosphäre von Wallfahrtswegen und von nächtlichen Versöhnungsgottesdiensten hat immer wieder Menschen auf diesen Weg zu Gott und zu sich selbst geführt. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Neugewinnung dieses Sakraments dazu beitragen wird, dass wir als Kirche der Versöhnung glaubwürdiger erscheinen.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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