In den Jahren von 2012 bis 2014 wurde in Deutschland eine gro ße Seelsorgestudie durchgeführt. Diese Studie hat unter anderem das Stressempfinden von Männern und Frauen in der Seelsorge erforscht. Hierbei trat zutage: Das wahrgenommene Belastungsniveau von Menschen in den pastoralen Berufen entspricht etwa dem von Sozialarbeitern oder Soldaten, die nicht im Auslandseinsatz sind; das Stressempfinden von Menschen in Gesundheitsberufen (Ärzte, Pflegende) ist höher. Somit ist der Seelsorgeberuf zwar anspruchsvoll und herausfordernd, zählt aber nicht zu den stressigsten Berufen. Unter den pastoralen Berufen empfindet die Gruppe der Priester am meisten Stress, die Diakone am wenigsten; die Pastoralund Gemeindereferentinnen und -referenten liegen dazwischen (vgl. Baumann u. a., 71–87). Im Vorfeld der Seelsorgestudie hatte man vermutet: Je größer eine Pfarrei oder ein Seelsorgeverbund ist, desto belastender erleben Seelsorger ihre Situation und desto anfälliger sind sie für Gesundheitsstörungen physischer oder psychischer Art. Überraschenderweise hat sich dieser Zusammenhang nicht bestätigt: Mit zunehmender Größe der pastoralen Räume erhöht sich nicht automatisch das Gefühl der subjektiven Belastung. Wohl aber hat sich der Zusammenhang bestätigt, dass bei einer Situation, die als persönlich belastend erlebt wird, die Anfälligkeit für psychosomatische Störungen steigt. Der wichtigste Faktor, der ein negatives Stressempfinden verhindert, ist die Lebenszufriedenheit; ebenso wirken sich die persönliche Spiritualität und das Gefühl, etwas bewegen zu können („Selbstwirksamkeitserwartung“), positiv aus. Wie stressig jemand seine berufliche Situation erlebt, liegt somit auch daran, wie sinnhaft jemand das eigene Tun empfindet und mit den Herausforderungen und Unannehmlichkeiten des Alltags konstruktiv
Nur wer bei sich ist, kann auch beim anderen sein
Es gibt auch Zerrformen von Seelsorge. Ein Beispiel: Ein Seelsorger schaut bei einem Trauergespräch ständig auf die Uhr und speist die Trauernden mit standardisierten „Sprüchen“ ab. In diesem Fall ist er nicht wirklich präsent. Menschen werden sich in einem solchen Setting nicht öffnen, weil sie spüren, dass ihr Gegenüber mit seinen Gedanken woanders, aber nicht bei ihnen ist.
Eine seelsorgerliche Präsenz ist dann gegeben, wenn ein Seelsorger bei sich ist. Dies setzt wiederum voraus, dass er das, was er tagaus, tagein erlebt, gut verarbeiten kann. Insofern ist für Seelsorger und Seelsorgerinnen eine Form der Psychohygiene unerlässlich, für die sie selbst Verantwortung tragen und die ihnen niemand abnehmen kann. Allerspätestens dann, wenn das Stressgefühl permanent überhandnimmt, erlittene Traumata die Handlungsfreiheit einengen oder man von körperlichen Symptomen wie Kopfoder Rückenschmerzen geplagt wird, ohne dass sich eine organische Ursache findet, sollte ein Seelsorger nach dem Grund fragen und etwas für sich tun. Seelsorge meint ursprünglich Diese Dimension der Selbstsorge ist bereits im Ursprung des Seelsorgebegriffs angelegt, der aus dem griechisch-philosophischen Denken stammt. Sokrates kann als dessen „Vater“ gelten. In Platons „Verteidigung des Sokrates“ wird ihm vorgeworfen, er habe die Jugend verdorben und ihr eingeredet, wichtiger als Geld, Ruhm und Ehre seien die Sorge um Einsicht und die Wahrheit für die eigene Seele. Sich um die eigene Seele zu sorgen, hieß für Sokrates, an dem als gut und richtig Erkannten festzuhalten, selbst wenn dies das Trinken des Schierlingsbechers zur tödlichen Konsequenz hatte.
Nach Platon griffen verschiedene Autoren der griechischen Antike das Motiv der „Sorge um die eigene Seele“ auf, ohne dass Seelsorge zu einem feststehenden Begriff arrivierte. Seit dem zweiten und dritten nachchristlichen Jahrhundert rezipieren auch christliche Theologen diese Wortwendung, die sich übrigens nirgends in der Bibel findet – mit Ausnahme des Jesus-Logions aus der Bergpredigt „Sorgt euch nicht um eure Seele“ (Mt 6,25), was die Einheitsübersetzung mit „Sorgt euch nicht um euer Leben“ wiedergibt.
Eine wirkmächtige begriffliche Bedeutungsverlagerung erfolgte am Ende des vierten Jahrhunderts durch die drei Kappadozier Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa und Basilius; sie prägt das kirchliche Seelsorgeverständnis bis heute. Sprach man bis dahin von der Sorge für die eigene Seele, zielt Seelsorge jetzt auf die Sorge um die Seele anderer. Diese Aufgabe obliegt besonders dem kirchlichen Amtsträger, dem Bischof (episkopos), dessen primäre Amtspflicht es ist, sich um die Seelen der ihm Anvertrauten zu sorgen. Einige Jahrhunderte später manifestiert sich hierfür die lateinische Wendung „cura animarum“. Sie ist bis heute gebräuchlich und meint die amtliche Hirtensorge eines Bischofs oder Priesters für die ihm anvertrauten Gläubigen (vgl. Can 150 des jetzigen CIC).
Unbewusste Motivationen des Seelsorgers
Obwohl Christus der eigentliche Seelsorger ist und menschlichkirchliche Seelsorge demgegenüber nur Werkzeugcharakter hat, gilt auch der dem Pastoraltheologen und Bischof von Regensburg, Johann Michael Sailer (1751–1832), zugeschriebene Satz, „Der Seelsorger ist das eigentliche Instrument der Seelsorge“. Empirische Forschungen zur Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren scheinen dies zu bestätigen; sie betonen, dass die Persönlichkeit des Therapeuten stärker ins Gewicht fällt als der jeweilige psychotherapeutische Ansatz. Analoges gilt für die Seelsorge, bei der man jedoch statt von Wirksamkeit besser im biblischen Sinne von Fruchtbarkeit spricht (vgl. Joh 15,5): Auch für die seelsorgliche Fruchtbarkeit fällt der Persönlichkeit des Seelsorgers eine Schlüsselrolle zu.
Freilich klaffen Ideal und Wirklichkeit bisweilen auseinander, und gut gemeint ist nicht immer identisch mit gut gemacht. Für Seelsorger sind die Analysen aufschlussreich, die Wolfgang Schmidbauer zum „Helfersyndrom“ vorgelegt hat. Aufmerken lassen auch die empirischen Ergebnisse aus der Rulla-Schule (vgl. Gerber, 68–73). Ihr zufolge sind die meisten Seelsorger und Seelsorgerinnen psychisch gesund; sie tragen jedoch unbewusste Spannungen in sich, die sie in ihrer Freiheit einschränken und teilweise daran hindern, die eigene Berufung zu leben und den seelsorglichen Auftrag optimal zu erfüllen. Man kann in diesem Zusammenhang an das Wort Jesu denken, wonach ein Reich, das in sich gespalten ist, auf Dauer nicht bestehen kann (Mt 12,25). Die Spannungen können sich in Bedürfnissen nach Selbsterniedrigung und Sicherheit, Aggression und Vergeltung, Selbstdarstellung und Dominanz, sexuellen Wünschen und Versagensängsten äußern. Auch die Tendenz mancher Seelsorger, die Verantwortung für Negatives allein der kirchlichen Hierarchie anzulasten, ist hier zu nennen. Da solche Bestrebungen im Unbewussten verankert sind, lassen sie sich durch willensmäßige Anstrengung oder aszestische Übungen (Exerzitien; Geistliche Begleitung) nicht oder kaum steuern.
Manche Diözesen haben einigen Priestern eine psychotherapeutische Zusatzausbildung zukommen lassen, damit Seelsorger persönliche Konfliktfelder im Rahmen eines längeren, tiefenpsychologisch fundierten Prozesses aufarbeiten können. In der Erzdiözese Freiburg muss sich beispielsweise jeder Priesterkandidat im Laufe seines Studiums einer psychologisch fundierten Standortbestimmung stellen, deren Ergebnisse nicht an den Regens weitergeleitet werden. Gegebenenfalls schließt sich an die Standortbestimmung ein therapeutischer Prozess an. Weil dem Ganzen nicht der Geruch des Pathologischen anhaftet, wird dieser Prozess weitgehend als Chance zur Persönlichkeitsentwicklung begriffen, von dem man persönlich profitieren kann.
Die Gnade setzt die Natur voraus
Da nach einem alten theologischen Grundsatz die Gnade die Natur voraussetzt, können Tipps zur Psychohygiene aus der psychologisch geprägten Ratgeberliteratur Seelsorgern dabei helfen, zufriedener und ausgeglichener zu sein. Dem einen bringt bereits ein gutes Zeitmanagement Entlastung. Anderen hilft eine gute Supervision. Manche konkreten Ratschläge sind profane Varianten dessen, was aus der geistlichen Tradition längst bekannt ist. Zum Beispiel: am Abend eines Tages auf den vergangenen Tag zurückschauen und darüber nachdenken: Was hat mich heute glücklich und zufrieden gemacht? Worüber habe ich mich geärgert, was hat mich traurig und ängstlich gemacht? Auf diesem Weg werden negative Empfindungen verarbeitet. Vielleicht wird auch ein Muster erkennbar, das immer wieder eine bestimmte negative Dynamik auslöst. In diesem Fall kann man gegensteuern und sich eine Strategie überlegen, um damit konstruktiv umzugehen.
Wichtig für die Psychohygiene ist die Aufmerksamkeit auf die eigene Person. Sie kann auf unterschiedliche Weise gefördert werden, z. B. durch Atemübungen und Entspannungstechniken. Sport oder ein längerer Spaziergang bewirken einen Abstand zum Alltag; Körper und Geist entspannen sich. Mancher Prediger, dem partout keine Idee für die nächste Sonntagspredigt kommen wollte, durfte schon erleben, wie auf diese Weise der Kopf wieder frei wurde und ihm ein guter Predigtgedanke wie von selbst zufiel. Damit erweist sich der Rat, den Bernhard von Clairvaux im 12. Jahrhundert seinem früheren Ordensbruder Papst Eugen III. mitgegeben hat, als immer noch gültig: „Wenn also alle Menschen ein Recht auf dich haben, dann sei auch du selbst ein Mensch, der ein Recht auf sich selbst hat. Warum solltest einzig du selbst nichts von dir haben? … Denk also daran: Gönne dich dir selbst. Ich sag nicht: Tu das immer, ich sage nicht: Tu das oft, aber ich sage: Tu es immer wieder einmal.“
Geistliches Leben als Psychohygiene
Viele Anregungen aus der geistlichen Tradition sind faktisch auch eine Prävention zur seelsorglichen Psychohygiene. Die Tagzeitenliturgie unterbricht immer wieder die Routine des Alltags und erinnert daran, das eigene Tun nicht zu verabsolutieren und Gott die oberste Priorität im Leben und Arbeiten zu geben. Das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit ist eine zeitgemäße Form des geistlichen Tagesrückblicks. Man stellt sich zunächst bewusst in die Gegenwart Gottes und bittet ihn darum, die Wirklichkeit mit seinen Augen sehen zu dürfen. In dieser Haltung lässt man den vergangenen Tag Revue passieren und legt ihn dankend und bittend in seine Hände zurück. In der Geistlichen Begleitung steht die Gottesbeziehung eines Menschen im Vordergrund. Da sie das ganze Leben prägen soll, kann hier über alles gesprochen werden, was jemanden ausmacht, beschäftigt oder belastet, um es im Licht des Evangeliums zu deuten. Eine traditionelle Form der Psychohygiene ist die Beichte. Gegen den allgemeinen Trend einer Verdrängung persönlicher Schuld spricht ein Mensch hier nach einer Gewissenserforschung seine Sünden aus und erhält vom Priester in der Absolution die Vergebung Gottes auf den Kopf zugesagt. In der Beichte und der Geistlichen Begleitung kann ein Mensch unter dem Vorzeichen des Beichtgeheimnisses und der seelsorglichen Verschwiegenheit Belastendes und Verstörendes zur Sprache bringen und dabei spüren, mit alledem nicht alleine zu sein. Exerzitien sind eine mehrtägige spirituelle Auszeit. Hier gewinnt ein Seelsorger Abstand zum pastoralen Alltag und besinnt sich neu auf seine Berufung, um sich anschließend wieder mit neuem Elan seiner Aufgabe widmen zu können. Auch wenn die geistliche Tradition den Begriff der Psychohygiene nicht kennt – er ist im 19. Jahrhundert im medizinischen Kontext entstanden –, hat sie auf ihre Weise immer schon diese Funktion erfüllt. Zwar gab und gibt es Fehlformen und Missbräuche, in denen sich geistliche Vollzüge negativ auswirkten. Hier gilt das lateinische Sprichwort abusus non tollit usus: Der Missbrauch hebt den rechten Gebrauch nicht auf. Denn in den Anregungen aus der geistlichen Tradition liegt ein beachtliches psychohygienisches Potential: Sie geschehen unter dem Vorzeichen eines personalen und liebenden Gottes, der das Innerste des Menschen kennt (vgl. Ps 139) und der bei denen, die ihm vertrauen, alles zum Guten führen wird (Röm 8,28). Es liegt in der Freiheit des Einzelnen, auf dieses Potential zurückzugreifen.