Wohl kein Pilgerweg hat in den letzten Jahren eine solche Renaissance erlebt wie der jahrhundertealte Weg nach Santiago de Compostela: Waren es im Jahr 1989 lediglich 5.760 Pilger, die sich die begehrte Compostela, den offiziellen Nachweis über hundert Kilometer zurückgelegten Fußweg zum Grab des Apostels Jakobus, holten, so legten 2017 bis Oktober offiziell 290.799 Pilger ihren stempelgefüllten Ausweis in der Pilgerstelle vor – ein neuer Rekord mit weiter steigender Tendenz. Die Gründe für diesen Boom sind vielfältig. Häufig werden in diesem Zusammenhang genannt: Der Besuch von Papst Johannes Paul II. im Jahr 1982 in Santiago, die Entscheidung des Europarates im Jahr 1987, den Camino zum ersten europäischen Kulturweg zu machen, und für deutschsprachige Pilger auch das im Jahr 2006 veröffentlichte Buch von Hape Kerkeling „Ich bin dann mal weg“.
Grundsätzlich lässt sich aber feststellen, dass Wandern – und Pilgern wird hier als eine besondere Form dazugezählt – für eine stetig wachsende Zahl von Menschen als wichtige Form der Selbsterfahrung wahrgenommen wird: Sei es körperlich, sei es im Erleben der Natur, und auch, wenn vielleicht auch nicht immer vorrangig, religiös.
Während die Zahl der traditionellen Gruppenwallfahrten an vielen Orten rückläufig ist, steigt zugleich die Zahl der individuellen Besucher solcher Stätten, wobei die Grenzen zwischen Tourist, allgemeinem Sinnsucher und aus persönlicher religiöser Überzeugung wanderndem Pilger immer mehr verschwimmen. Die Faszination des Camino besteht wohl auch darin, dass er für jeden etwas bietet: Es gibt Wege für die Kurz-, Mittelund Langstrecke (nicht wenige Pilger wandern von Deutschland aus). Er eröffnet darüber hinaus eine Fülle an Kultur-, Landschaftsund Geschichtserfahrung. Als Pilger begegnet man (zeitlich begrenzt, aber intensiv) Menschen aus vielen Ländern, teilweise auch aus verschiedenen Religionen, die aber alle den gleichen Weg und das gleiche Ziel haben: Santiago de Compostela mit dem Grab des Apostels. Und man macht die Erfahrung der eigenen körperlichen und psychischen Belastbarkeit – und deren Überwindung. Die Gesichter und die Füße der in Santiago ankommenden Pilger zeigen eindrücklich die Anstrengung, die Erleichterung und den Stolz! Und für die aus religiösen Motiven den Camino gehenden Pilger ist Santiago neben Rom und Jerusalem einer der wichtigsten Pilgerorte des Christentums.
Die Idee
Schon vor dem Entstehen des aktuellen Massenphänomens Pilgern nach Santiago gab es im deutschsprachigen Raum viele Gruppen, die sich mit dem Camino beschäftigt haben. An erster Stelle sind die verschiedenen Jakobusgesellschaften zu nennen, die sich um die Geschichte, die Pflege der Wege im deutschsprachigen Raum wie auch um Informationen für interessierte Pilger kümmern. Wenig im Blick und auch angesichts der damals recht geringen Zahlen nachrangig war aber die pastorale Sorge um die Pilger, die am Grab des Apostels ankamen. Es waren Angela und Wolfgang Schneller aus der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die dafür erstmals den Blick schärften. Wolfgang Schneller war früher Leiter des Cursillo-Hauses St. Jakobus in Oberdischingen. Er und seine Frau waren vom Camino fasziniert, verschiedentlich dort und hatten im Laufe der Jahre eine freundschaftliche Beziehung zum Erzbischof von Santiago entwickelt. Alle drei spürten, dass eine wachsende Zahl der Pilger Möglichkeiten suchten, über ihre Erfahrungen auf dem Camino zu sprechen. Aber es fehlte ein muttersprachliches Angebot. Die in wenigen Jahren stark anwachsende Zahl der internationalen Pilger traf damals das Erzbistum wie auch die Stadt unvorbereitet. Pilger aus dem nichtspanischsprachigen Raum waren eine bis dahin weitgehend unbekannte Größe.
Daher wandte sich Wolfgang Schneller 2008 an sein Heimatbistums in Rottenburg und schlug vor, unter dem Motto „Ankommen und erwartet werden“ in den Monaten Mai bis Oktober deutschsprachige Seelsorge in Santiago anzubieten. Dank der Unterstützung durch den damaligen Leiter der zuständigen Hauptabteilung im Ordinariat, Prälat Rudolf Hagmann, ebenfalls ein überzeugter und erfahrener Santiago-Pilger, ließ sich dieses Pilotprojekt 2009 realisieren und wurde ein großer Erfolg, denn die unterschiedlichen Angebote trafen exakt die Bedürfnisse der Pilger.
Nach diesem ersten Jahr wurde aber auch deutlich, dass Pilgerseelsorge in Santiago nicht allein in der Zuständigkeit einer einzelnen Diözese gehört, sondern eine überdiözesane Aufgabe darstellt. Seit 2010 stellt daher das Katholische Auslandssekretariat der Deutschen Bischofskonferenz die Finanzierung des Seelsorgeangebotes sicher, denn internationale Pilgerseelsorge fällt in seinen Aufgabenbereich, so wie z. B. auch in Lourdes, Rom oder Fatima. Die inhaltliche und organisatorische Verantwortung wird vom Bistum wahrgenommen.
Charakteristikum Ehrenamt
Pilgerseelsorge in Santiago ist, anders als Pilgerseelsorge sonst, geprägt von ehrenamtlichen Mitarbeitern. Alle in Santiago Mitarbeitenden leisten ihren Dienst in ihrer Freizeit bzw. in ihrem Urlaub. Dies gilt für die Priester genauso wie für die Laien. Die Anforderungen an sie sind recht hoch: Sie müssen den Camino selbst gegangen sein, die spanische Sprache teilweise beherrschen, in jedem Jahr an einem mehrtägigen Vorund Nachbereitungstreffen teilnehmen, vor allem aber über seelsorgliche und spirituelle Vermittlungskompetenzen verfügen.
Zur Ehrenamtlichkeit gehört, dass sie nicht entlohnt wird. Zwar gibt es einen Zuschuss zum Flugticket und die Kosten für Unterkunft und Halbpension werden erstattet. Alle anderen Kosten tragen die Mitarbeitenden selbst.
Pilgerseelsorge geschieht in Santiago immer im Team: Zwei Laien und ein Priester sind – alle etwa 14 Tage wechselnd – vom 1. Mai bis zum 15. Oktober eines Jahres vor Ort. Dies erfordert viel Organisation, aber die Erfahrung zeigt, dass dies ein Zeitraum ist, der keine zu große Belastung darstellt.
Traditionelle und neue Formen der Pilgerseelsorge
Deutschsprachige Pilgerseelsorge besteht aus mehreren Angeboten, wobei die Pilger entscheiden, welche sie nutzen und welche nicht:
- Die Heilige Messe
Die tägliche Eucharistiefeier um 8:00 Uhr in der Kapelle „Christus von Burgos“ im linken Seitenschiff der Kathedrale ist für viele Pilger ein Höhepunkt ihres Weges. Viele Kirchen auf dem Camino sind leider verschlossen, und es ist zudem ein großer Unterschied, ob man in der Muttersprache an der Eucharistiefeier teilnehmen kann oder nicht. Die Mund-zu-Mund-Propaganda der Pilger sorgt dafür, dass diese Messe jeden Morgen mit durchschnittlich über 30 deutschsprachigen Gläubigen gut besucht ist. Das in diesem Jahr neue Angebot eines speziellen Pilgersegens am Ende des Gottesdienstes gewinnt für die Pilger an Bedeutung, denn nach dem oft anstrengenden Hinweg ist man sich der Gefährdungen des Pilgerns sehr bewusst.
- Der Erfahrungsaustausch
Neben der Compostela gehört für einen Pilger der Besuch der offiziellen Pilgermesse um 12:00 Uhr zum unverzichtbaren Bestandteil nach der Ankunft in Santiago. Kurz vor deren Beginn lädt ein Mitglied des Teams die deutschsprachigen Pilger zu den Angeboten der Pilgerseelsorge, unter anderem den Erfahrungsaustausch, ein. Dieser findet nach dem Gottesdienst im neuen, offiziellen Pilgerzentrum statt. Die Pilger haben dort die Möglichkeit, über den Weg und das Erlebte zu sprechen. War dies in früheren Jahren eines der wichtigsten Seelsorgeangebote, so verliert es in den letzten Jahren etwas an Bedeutung. Eine Erklärung könnte sein, dass es viele sogenannte Wiederholungspilger gibt, die diesen Erfahrungsaustausch schon mehrmals besuchten, eine andere, dass die inzwischen verbreitete Nutzung des Smartphones zu einer veränderten Kommunikation beim Pilgern führt. Erfahrungen des Camino werden unmittelbar mit vertrauten Menschen daheim geteilt und sammeln sich nicht bis zum Zielort. Gleichwohl ist die Möglichkeit des persönlichen Austauschs für viele Pilger ein wichtiger Ort einer ersten Reflexion über ihren Camino. Diese Treffen verlangen vom Team hohes seelsorgliches Einfühlungsvermögen.
- Das Sakrament der Buße
Der Camino verändert Menschen. Wer lange Strecken zu Fuß geht, weiß, dass vergessene Ereignisse aus der eigenen Biographie wieder ins Bewusstsein kommen können, auch negative. Daher überrascht es nicht, dass viele Pilger in Santiago das Bedürfnis haben, mit einem Priester zu sprechen. Sei es, um zu beichten, sei es auch nur, um eine „Revision de vie“ (Lebensbetrachtung) vorzunehmen. Der Priester jedes Teams sitzt täglich mehrere Stunden im Beichtstuhl und der Strom der Ratsuchenden reißt nicht ab.
- Der geistliche Rundgang am Abend
Kein anderes Angebot stößt auf solches Interesse wie der geistliche Rundgang um die Kathedrale um 18:00 Uhr. Den Pilgern wird dabei die Kathedrale nicht aus historischer oder kunsthistorischer Sicht erklärt, sondern es werden – nicht zuletzt um Konflikte mit den offiziellen Stadtführern zu vermeiden – einzelne Elemente der Kathedrale ausschließlich biblisch-religiös gedeutet. Genau dieser Aspekt fasziniert die Pilger in besonderer Weise, und manche nehmen an dieser Führung zweimal teil. Das hohe Interesse hat unterschiedliche Gründe: Zum einen wird ein spirituell-hermeneutischer Zugang zu den alten Glaubensaussagen der Kathedrale vermittelt. Zum anderen beeindruckt das authentisch-persönliche Glaubenszeugnis. Wo sonst erlebt man Menschen, die offen gegenüber Fremden über den Glauben sprechen?
- … und die vielen kleinen Dinge
Und es sind die kleinen Dinge, die dieses Seelsorgeangebot von anderen unterscheidet: Die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Team zu Frühstücken, Mittag zu essen; die informelle Ansprache der im Pilgerzentrum auf ihre Compostela wartenden Pilgern, die kleine Feier von persönlichen Jubiläen, die deutsch-spanische Broschüre, um der spanischen Pilgermesse besser folgen zu können, und die unmittelbare caritative Unterstützung, sollte ein Pilger in Not geraten.
Nicht die Werbung ist entscheidend
Das Seelsorgeangebot wird kaum beworben. Dankenswerterweise haben sich die Jakobusgesellschaften bereiterklärt, ein kleines Blatt, das auf die Angebote hinweist, in die dort angeforderten Pilgerpässe zu legen. Auf dem letzten Stück des Camino und in Santiago selbst hängen in Pilgerherbergen und Kirchen DIN-A4-Plakate. Und nach der Pilgermesse steht das Team mit einem Plakat vor dem Nordportal der Kathedrale, um den Treffpunkt zu markieren, von wo aus man mit den Pilgern zum Erfahrungsaustausch in das neue, internationale Pilgerzentrum geht. Für Internetsuchende gibt’s eine spezielle Website: http:// www.auslandsseelsorge.de/kas/pilger seelsorge-santiago-de-compostela/. Hier kann man alle wichtigen Informationen nachlesen. Letztlich aber wird das Angebot durch die interne Pilgerkommunikation vor Ort in Santiago bekannt.
Immer mehr mutter sprachliche Angebote
War das deutschsprachige Seelsorgeangebot anfänglich noch singulär, so sind inzwischen auch aus anderen Ländern muttersprachliche Seelsorger in Santiago: aus England, Frankreich, den Niederlanden und Italien. Es ist faszinierend zu erleben, dass jede Sprachgruppe ihren eigenen kulturell-religiösen Seelsorgeakzent setzt, aber auch von den anderen Gruppen lernt.
Alle Sprachgruppen sind im neuen Pilgerzentrum angesiedelt und dieses entwickelt sich zunehmend zu einer Art „Hotspot“ der Pilgerseelsorge. Das internationale Pilgerzentrum wird von „la ACC“ (La Acogida Cristiana en el Camino; „Christliches Willkommen auf dem Weg“) geführt,. Ohne die aktive Förderung durch den Erzbischof und das Domkapitel von Santiago wäre dies alles nicht möglich.