Le point vierge meint wörtlich übersetzt „jungfräulicher Punkt“. Da jungfräulich ein auch missverständlicher Begriff ist, würde ich lieber von einem unberührten oder unversehrten Bereich sprechen. Was muss man sich darunter vorstellen? Wir finden diesen Begriff bei dem Mystiker Thomas Merton, der ihn wiederum wohl von muslimischen Mystikern übernommen hat. Für sie steht le pointe vierge unter anderem für das verborgene Zentrum des menschlichen Herzens, wo man Gott erkennt. Im Zentrum unseres Seins, so versucht Thomas Merton diesen Begriff zu beschreiben, gibt es so etwas wie einen Punkt, einen Bereich des Nichts, der unberührt ist von Sünde und Illusion.
Mich spricht das an. Da gibt es einen Bereich in uns, vielleicht auch nur einen Punkt, einen Funken, mit dessen Hilfe wir für einen Moment etwas unentstellt sehen können. Bekannt ist die Schilderung von Thomas Merton, als er in der Großstadt Louisville an einer belebten Straßenkreuzung diesen unversehrten Bereich bei den vorbeieilenden Menschen entdeckt. Er schreibt darüber: „Es war, als ob ich plötzlich die verborgene Schönheit ihrer Herzen, die Tiefe ihrer Herzen sah, wo weder Sünde noch Verlangen noch Selbsterkenntnis hinreichen, den Kern ihrer Wirklichkeit, die Person, die jede Person in den Augen Gottes ist.“
Kennen Sie Momente, in denen Sie den unversehrten Punkt in einem anderen Menschen entdecken? Sie vielleicht selbst davon überrascht werden, dass Ihnen eine solche Erfahrung geschenkt wird? Vermutlich kann das nur geschehen, wenn wir selbst mit unserem unversehrten Bereich in Berührung sind. Wie viel friedvoller ginge es in unserem Alltag und in unserer Welt zu, wenn wir in unseren Mitmenschen die Schönheit ihres Herzens sehen würden, angefangen bei unserer Partnerin bis hin zu den Menschen, die wir als Fremde bezeichnen, bei denen es uns oft besonders schwerfallen dürfte.
In der Regel wird es uns nicht so ergehen wie Thomas Merton, der für einen Moment die innere Schönheit des Herzens seiner Mitmenschen
„sehen“ durfte, sosehr wir als Seelsorger und Seelsorgerinnen sicher offen sind dafür. Doch wir können das nicht einfach „machen“. Wir können aber offen dafür sein. Es wird uns vermutlich leichter gelingen, wenn wir mit unserem eigenen unversehrten Bereich in Berührung sind.
Manche kennen vielleicht diese überwältigende Erfahrung, die wir angesichts eines Sonnenaufgangs machen, wenn plötzlich die Sonne auftaucht und den Himmel in ihr einzigartiges Licht eintaucht. Dieser Moment des Übergangs von Nacht zu Tag kann ein solcher unberührter Augenblick sein. In diesem kurzen Augenblick ist die Welt noch in Ordnung ist. Thomas Merton würde sagen, das ist der Moment, in dem über allem noch eine unbeschreibbare Unschuld liegt. Sobald die Sonne aufgegangen ist, ist es vorbei mit dem atemberaubenden Panorama, das uns in Staunen versetzt. Es wird abgelöst von der Nüchternheit der grell scheinenden Sonne. So oder so ähnlich wird es uns mit den Momenten ergehen, in denen wir sehen, was wir sonst nicht sehen. Bei uns selbst und bei anderen. Sehr schnell wird unser Blick wieder verdeckt und eingetrübt sein von unseren Einstellungen, Prägungen und Überzeugungen. Dennoch haben wir etwas gesehen, was wir nicht einfach ignorieren können.
Es liegt jetzt an uns, ob und wieweit wir uns von dieser Erfahrung im Umgang mit anderen, aber auch im Verhältnis zu uns selbst beeinflussen lassen. Lassen wir uns von
der eigenen und der Schönheit des Herzens anderer berühren und davon unser Verhalten uns und anderen gegenüber bestimmen? Kann sich diese „innere Schau“ gegen die gängigen, manchmal auch festgefahrenen Einstellungen, die üblicherweise unser Verhalten bestimmen, durchsetzen oder kapituliert sie vor ihnen? Vermutlich müssen wir uns damit begnügen, dass es uns da und dort gelingt. Das ist schon viel. Wenn uns dieser Augenblick geschenkt wird, sollten wir ihn einfach auskosten und darauf vertrauen, dass er etwas in uns und in unserer Beziehung zu den anderen bewirkt Im ersten Korintherbrief (13,12) steht: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“ In den Momenten, in denen wir den unberührten, makellosen Punkt erhaschen, sehen wir jetzt schon für einen Augenblick, was wir einmal uneingeschränkt sehen werden.