Das ist an sich nicht weiter schlimm. Mit falschen Überzeugungen kann man gut leben. Lange
Zeit glaubte man, dass durch die Arterien Luft f ließe, noch länger nahm man an, dass es Drachen gebe und selbst die Überzeugung, dass die Erde eine Scheibe sei, hat die Menschen nicht daran gehindert, ein sinnvolles Leben zu führen.
Fake News können sogar Spaß machen. Wer will die Welt schon von morgens bis abends so sehen, wie sie ist. Und auch ganz persönlich ist Verdrängung eine wichtige Fähigkeit, um lebenstüchtig zu bleiben. Wer dauernd all die Schattenseiten seiner Lebensgeschichte mit sich spazieren trägt, hat’s schwer im Leben.
Doch bei den Falschinformationen über das Christentum geht es nicht um irgendwelche kleinen Irrtümer, amateurhafte Fälschungen oder harmlose Schummeleien. Diese Falschinformationen haben das Christentum in seinem Kern nachhaltig erschüttert und absolut unglaubwürdig gemacht.
Das Ende des Christentums...
Dagegen spricht nicht, dass man öffentlich Papst Franziskus schätzt und Mutter Teresa verehrt. Man schätzt und verehrt sie nicht wegen, sondern trotz der Tatsache, dass sie Christen sind. Man nimmt es ihnen sozusagen nicht übel. Und auch das karitative Engagement christlicher Institutionen achtet man, ja sogar das, was man gerne „christliche Werte“ nennt, was immer das dann sein soll. Doch den christlichen Glauben, die Geschichte der christlichen Kirchen, das Christentum selbst hält man bestenfalls für peinlich. In intellektuellen Debatten gilt ein christliches Bekenntnis gewöhnlich unausgesprochen als indiskutabel. Der Ausdruck Fundamentalismus hat sich nicht nur für fanatische Gläubige eingebürgert, sondern gilt inzwischen jedem religiösen, jedem christlichen Bekenntnis, das Religion nicht nur religionswissenschaftlich beschreibt, sondern für wahr hält. Das ist das Ende des realen Christentums als kulturprägende Kraft.
Man mag einwenden, dass immerhin die christlichen Kirchen noch beachtliche Institutionen vorweisen können, die zum Beispiel in Deutschland über enorme Finanzmittel verfügen. Doch ist nicht zu übersehen, dass viele Kräfte durch den Rückbau der einstmals großen Volkskirchen absorbiert werden und Neuaufbrüche eher am Rande des institutionalisierten Christentums stattfinden. Dabei gelingt christliche Mission am ehesten da, wo Menschen direkt spirituell angesprochen werden, eine Gemeinschaft von Überzeugten erleben und so ihr persönliches Leben erneuern. Aber, so paradox das klingen mag, das Christentum, seine Geschichte, seine Institutionen, seine Repräsentanten wirken für die christliche Mission in unseren Breitengraden eher als Hindernis, jedenfalls nicht als Attraktion.
Das liegt daran, dass dem Christentum ein Todesstoß versetzt wurde. Die inzwischen unbestrittene Überzeugung, dass die Geschichte des Christentums eine Geschichte der Skandale ist, erschüttert tatsächlich den Kern des christlichen Glaubens. Denn eine Religion, die an die MenschWerdung, also an die GeschichteWerdung Gottes selbst glaubt, liefert sich rückhaltlos der kritischen Beurteilung dieser Geschichte aus. Und dieses Urteil ist vernichtend.
„Der Fluch des Christentums“ betitelte der namhafte Philosoph Herbert Schnädelbach im Jahre 2000 einen Aufsehen erregenden Text in der ZEIT, der in dem Satz gipfelte, das Beste, was das Christentum für die Menschheit tun könne, wäre: sich auflösen! Und die Gründe, die der Philosoph für dieses Todesurteil vorbrachte, waren nicht vor allem philosophische oder theologische Gründe. Schnädelbach äußerte keine Zweifel an der Dreifaltigkeit oder an der Menschwerdung Gottes, sondern er argumentierte fast ausschließlich geschichtlich. Dabei bezog er sich nicht auf irgendwelche historischen Studien, sondern er konnte sich auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens über die skandalöse Christentumsgeschichte stützen. Was dieser hochgebildete Philosoph da über die skandalösen Kreuzzüge, die brutale Inquisition und den verheerenden Antisemitismus anführte, präsentierte er unbefangen als genauso unbestreitbar, wie man heute selbstverständlich davon ausgeht, dass der Mond um die Erde kreist und der Mount Everest der höchste Berg unseres Planeten ist. Auch dafür braucht man keine Belege. Insofern sprach dieser Text nur prägnant aus, was ohnehin alle dachten.
Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus war das ein engagierter Nachruf auf das Christentum.
... oder doch noch nicht am Ende
Das hätte es dann gewesen sein können. Wie beim Kommunismus gibt es zwar immer einige, die die Signale nicht hören und betriebsblind nostalgisch unentwegt so weitermachen, als sei nichts geschehen. In Wahrheit aber ging der Text von Schnädelbach an die Substanz der christlichen Religion. Wenn Schnädelbach recht hatte, war das Christentum zweitausend Jahre nach seinem Beginn wirklich am Ende.
Aber hatte er recht? Was sich nach Veröffentlichung dieses Textes abspielte, war spektakulär und völlig unerwartet: Ein international renommierter Historiker nahm die Herausforderung an und ging den Vorwürfen Schnädelbachs auf dem Stand der heutigen Wissenschaft akribisch auf den Grund. Was stimmte und was stimmte nicht? Dieser Historiker heißt Arnold Angenendt und er legte 2007 ein gewaltiges Werk vor: „Toleranz und Gewalt – Das Christentum zwischen Bibel und Schwert“ heißt das Buch und es ist seitdem ein Standardwerk für alle, die sich kritisch mit Christentum und Kirche auseinandersetzen wollen. Der wissenschaftlichen Gründlichkeit von Angenendt gelang dabei etwas ganz Seltenes. Er überzeugte mit nüchterner Aufklärung und erreichte, dass Herbert Schnädelbach sich korrigierte. Er bedankte sich bei Arnold Angenendt, „der mir einige optische Verzerrungen meines Rückblicks nachwies“. Es stellte sich heraus, dass landläufige Auffassungen über die Geschichte des Christentums der seriösen wissenschaftlichen Untersuchung einfach nicht standhielten ...
Aufklärung tut not
Solche Aufklärung ist deswegen dringend nötig, weil der Wegfall des Christentums als verbindende Kraft die ganze Gesellschaft in eine schwere Krise gestürzt hat. Von Linksaußen bis Rechtsaußen wird das unumwunden zugegeben. Der Linkenvorsitzende Gregor Gysi erklärte in der Evangelischen Akademie in Tutzing, er sei Atheist, aber er habe Angst vor einer gottlosen Gesellschaft, weil der die Solidarität abhanden kommen könne, Sozialismus sei schließlich nichts anderes als säkularisiertes Christentum ... Merkwürdigerweise lassen aber auch die Rechten von „Pegida“ ausdrücklich das christliche Abendland hochleben, selbst wenn sie das Christentum so wenig kennen, dass sie in der Adventszeit lauthals Weihnachtslieder singen.
Doch in Wirklichkeit wird hier eine leere Hülle beschworen. Das Christentum selbst hat sich nicht in 70 Jahren wie der Kommunismus, sondern in zweitausend Jahren offenbar soweit diskreditiert, dass auch die, die es beschwören, kaum sagen können, was sie denn für so erhaltenswert am Christentum halten – wenn man einmal von einigen humanistischen Haltungen absieht, die aber auch der redliche Atheist ohne Weiteres an den Tag legt. Aufklärung über das Christentum müsste also jedem am Herzen liegen, der sich um diese Gesellschaft sorgt, auch dem vernünftigen Atheisten.
Jürgen Habermas, Deutschlands bekanntester Philosoph, der sich selbst für „religiös unmusikalisch“ erklärt hat, forderte deswegen mit dramatischen Worten zumindest „rettende Übersetzungen“ der jüdisch-christlichen Begrifflichkeit von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Nur so, glaubt Habermas, könne man die allgemeine Akzeptanz des Menschenwürde-Begriffs, des zentralen Begriffs unserer Gesellschaftsordnung, weiter sicherstellen. Und er wünscht sich Christen, die im öffentlichen Diskurs als religiöse Bürger wahrgenommen werden. Doch dieser fromme Wunsch eines Agnostikers trifft auf Christen, die dazu neigen, ihren Glauben eher als Privatsache zu beschweigen. Vor allem eben, weil sie sich für die Geschichte des Christentums schämen.Diese Scham hat auch damit zu tun, dass die Christen selbst sich ihrer Skandalgeschichte mit zwei Methoden gestellt haben, die beide nicht wirklich überzeugen. Die einen haben sich nach Kräften bemüht, die Geschichte des Christentums apologetisch reinzuwaschen und jegliches kirchliche Versagen zu leugnen, koste es, was es wolle. Dabei wäre eine zweitausend Jahre währende ununterbrochene christliche Heiligengeschichte gar nicht das, was Jesus selbst seiner Kirche vorausgesagt hatte. Die von ihm persönlich berufenen Säulen der Kirche, die Apostel, waren durchaus von durchwachsenem Charakter: Warum sollte es anschließend besser werden? Die anderen verlegten sich auf das gerade Gegenteil. Sie leugneten historische Schwächen des Christentums nicht, es kam ihnen sogar entgegen, vor dem düsteren Hintergrund einer vergangenen christlichen Skandalgeschichte das eigene gegenwärtige moderne Christentum besonders glanzvoll herauszustellen. Doch die große Geste: Zweitausend Jahre ist das Christentum in die Irre gegangen und dann kam ich oder Professor X oder Y oder das Zweite Vatikanische Konzil oder was sonst noch, ist reichlich naiv. Jeder gescheite Atheist kann darauf natürlich nur antworten: Dann warten wir mal, ob es nun die kommenden zweitausend Jahre auch wirklich besser läuft, und dann sehen wir weiter.
Vom Bekenntnis zur Geschichte
Diese beiden extrem unterschiedlichen Arten des Umgangs mit der eigenen Geschichte haben das Zerrbild der Christentumsgeschichte noch verstärkt. Denn für beide war Geschichte nur das Füllmaterial für die eigenen Vorurteile, die durch echte wissenschaftliche Forschung ins Wanken geraten könnten.
Es gilt also, der Skandalgeschichte des Christentums vorurteilsfrei mit dem Skalpell der Wissenschaft zu Leibe zu rücken. Am Ende mögen dann Skandale tatsächlich Skandale sein, und selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die historischen Fakten ein ganz anderes Bild zeichnen, wäre sogar eine Christentumsgeschichte ohne Skandale natürlich noch lange kein Grund, Christ zu werden. Es gibt ganz unsinnige Überzeugungen, die ausgesprochen heilsame historische Wirkungen entfalten. Es geht also nicht um Bekenntnis, sondern um Geschichte, um die ungemein spannende wirkliche Geschichte der größten Menschheitsreligion aller Zeiten und nicht zuletzt um abendländische Bildung und um europäische Aufklärung im besten Sinne.
Denn nur indem man sich der eigenen Geschichte stellt, entwickelt man ein gesundes Selbstbewusstsein, ein angemessenes Gefühl für die eigene persönliche und auch nationale Identität und kann auf polternde persönliche oder nationale Aufschneiderei verzichten.
Damit sie wissen, woher sie kommen
Die Flüchtlingskrise hat schlaglichtartig die Notwendigkeit der Neubesinnung auf die christlichen Wurzeln unserer Gesellschaften erwiesen. Es waren überall Christen und christliche Gemeinden, die sich spontan aus tiefer Überzeugung um diese Menschen in Not kümmerten. Wenn den Atheisten Gregor Gysi vor Jahren die Sorge umtrieb, dass einer gottlosen Gesellschaft die Solidarität abhanden kommen könne, dann haben sich in einigen Gegenden Deutschlands diese Befürchtungen vielleicht schon bewahrheitet. Das heißt natürlich nicht, dass nicht auch viele Atheisten aus starken humanitären Impulsen heraus bereit waren, zu helfen und uneigennützig für die bei uns gestrandeten Opfer der grausamen Kriege Opfer zu bringen. Das ist aber nicht selbstverständlich. Deswegen ist Aufklärung über die christlichen geistigen Quellen Europas das Gebot der Stunde, für die gesamte Gesellschaft, also auch für Atheisten, damit sie wissen, woher sie kommen.