Es ist gut 20 Jahre her. Schülergottesdienst an Allerheiligen in Marburg, St. Johannes, die auch „Kugelkirche“ genannt wird. Als junger Kaplan frage ich unbedarft in die Runde: „Welche Heiligen kennt ihr denn?“ Erste Antwort eines Schülers: „Martin Luther.“ Nach einem kurzen Zucken antworte ich: „Okay, irgendwie war der auch heilig, auf alle Fälle ein Zeuge des Evangeliums.“ Und ich denke dabei an die ökumenischen Konsenstexte der letzten Jahrzehnte, in denen ja Luther auch von katholischer Seite aus positiver beurteilt wurde.
Die Episode brachte mich ins Nachdenken darüber, was Heiligkeit bedeutet und was bzw. wen wir an Allerheiligen eigentlich feiern. Viele Zeitgenossen werden heute eher mit dem Begriff „Halloween“ etwas anfangen können, ohne vielleicht zu wissen, dass gerade in diesem Wort das Allerheiligenfest enthalten ist. Der Abend vor Allerheiligen („All Hallows Evening“) als Abend der gruseligen Kürbisköpfe ist eher im Bewusstsein als das Fest am 1. November, das ursprünglich im östlichen Christentum entstand, wo noch heute am Sonntag nach Pfingsten das Fest aller Heiligen gefeiert wird, womit es näher am Fest des Heiligen Geistes liegt, der ja alle Heiligen auf ganz unterschiedliche Weise erfüllt.
Geschichtliche Entwicklung
In der westlichen Tradition spielt die Einweihung des Pantheons als Kirche Marias und aller Märtyrer am 13. Mai 610 eine wichtige Rolle. Der vorher allen Göttern geweihte imposante Bau wurde so zu einer Kirche, in der Maria und alle christlichen Märtyrer verehrt werden. Der Papst soll damals auf 28 Wagen Gebeine aus den Katakomben in die Kirche gebracht haben. Zunächst wurde das Fest aller heiligen Märtyrer in Rom als Kirchweihfest der neuen Kirche immer um den 13. Mai gefeiert, später am Freitag nach Ostern. Jedenfalls war dadurch die Nähe zum Ostergeheimnis, der Feier von Tod und Auferstehung Jesu, gegeben, und damit verbunden die Hoffnung der Märtyrer auf ewige Vollendung bei Gott.
Im 8. Jahrhundert legte Papst Gregor III. (731–741) das Fest dann für die Stadt Rom auf den 1. November. Manche spekulieren, das habe daran gelegen, dass der Termin im Frühling wegen des noch herrschenden Mangels an Lebensmitteln die Verpflegung der vielen Pilger in der Stadt erschwert hätte. Wahrscheinlicher ist aber, dass ein Fest zu Ehren aller Heiligen (nicht nur der Märtyrer) schon früher in England und Irland an diesem Datum gefeiert und damit eine keltisch-heidnische Tradition aufgenommen wurde, galt doch der 1. November dort als Winteranfang. Von daher würden sich auch die Masken am Vorabend – Halloween – als Ankündigung des grimmigen Winters erklären. In Rom wurde das Fest – wie vieles in der Liturgiegeschichte – dann von nördlich der Alpen übernommen. Gregor IV. (827–844) bestätigte im Jahr 835 den Festtermin am 1. November und legte ihn für die ganze römisch-lateinische Kirche fest. So feiern wir schon bald 1200 Jahre lang Allerheiligen im Herbst.
Allerheiligen und Allerseelen
In der cluniazensischen Reform Ende des 10. Jahrhunderts wurde direkt nach dem Fest Allerheiligen ein allgemeines Gedenken für alle Verstorbenen eingeführt, der Gedenktag Allerseelen am 2. November. Schnell breitete er sich in der westlichen Kirche aus und besitzt noch heute einen hohen liturgischen Rang, so dass er etwa den Sonntag verdrängt.
Diese Nähe von Allerheiligen und Allerseelen macht einerseits Sinn. Man kann darin ein österliches Gedächtnis der Verstorbenen sehen, die in Gemeinschaft mit den Heiligen bei Gott leben. Die Präfation des Allerheiligenfestes macht auf diese Verbindung aufmerksam: „Denn heute schauen wir deine heilige Stadt, unsere Heimat, das himmlische Jerusalem. Dort loben dich auf ewig die verherrlichten Glieder der Kirche, unsere Brüder und Schwestern, die schon zur Vollendung gelangt sind. Dorthin pilgern auch wir im Glauben, ermutigt durch ihre Fürsprache und ihr Beispiel, und gehen freudig dem Ziel der Verheißung entgegen“ (Messbuch, 824f.).
Andererseits geht der ursprünglich freudige Charakter des Allerheiligenfestes durch die Eingliederung in das Totengedenken des Monats November auch etwas verloren. „Im Hintergrund steht nicht mehr Ostern, sondern die vergehende Natur, über der die unvergängliche Welt der Heiligen sichtbar wird“ (Fischer, LThK 1, S. 406). Die meisten Gläubigen gehen am Nachmittag von Allerheiligen (und nicht an Allerseelen) an die Gräber der Verstorbenen, weil in vielen Bundesländern an diesem Tag arbeitsfrei ist. So ist der Tag im Bewusstsein vieler Menschen – auch wohl der meisten Katholiken – eher ein Tag des Totengedenkens als ein Tag der Freude über das Zeugnis der Heiligen aller Zeiten.
Wie aber können wir Allerheiligen heute verstehen? Wenn man den Blick auf die Heiligen und ihr Lebenszeugnis (und nicht nur auf ihre Vollendung in der Herrlichkeit) legt, könnten zwei Dinge neu ins Bewusstsein kommen.
Heiligkeit des Alltags
Zum einen geht es um die unerkannte Heiligkeit im Alltag. Neben den vielen anderen „approbierten“, das heißt von der Kirche bestätigten Heiligenfesten und -gedenktagen (die gegen die Intention des Konzils seit dem Pontifikat Johannes Pauls II. wieder zunehmen) ist es gut, wenigstens einen Tag im Kirchenjahr zu haben, an dem all die Menschen im Zentrum stehen, die keinen eigenen Gedenktag haben, aber in ihrem Leben (und Sterben) das verwirklichten, was Gott von uns allen erwartet und erhofft, nämlich ein Leben, das von Hilfsbereitschaft, Wertschätzung, Liebe, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Treue geprägt ist. Allerheiligen ist dann nicht ein Fest pompöser Zur-Schau-Stellung der Heiligkeit der Kirche (dass wir mit diesem Begriff heute ohnehin vorsichtiger umgehen müssen, lehrt uns nicht erst der Missbrauchsskandal), sondern eher ein Fest der kleinen und unscheinbaren Heiligen des Alltags, die es vielleicht sogar auch in meiner Umgebung gibt. Und damit kann ein Anstoß verbunden sein, einmal nach dieser unspektakulären Heiligkeit im Alltag Ausschau zu halten. Gott begegnet uns sehr häufig in Menschen am Rand, im Lächeln eines Kindes, in der Freude eines behinderten Menschen, in der Zivilcourage eines Jugendlichen, im selbstlosen Einsatz eines Flüchtlingshelfers oder in der weisen Antwort eines alten Menschen. „Allerheiligen“ kann zur Erkenntnis führen, dass die Welt voll ist von „heiligen“ Menschen, die Gutes 7 tun, und wir manchmal nur die Augen, Ohren und Herzen dafür öffnen müssen. Und es kann uns in Erinnerung rufen, dass wir alle zur Heiligkeit berufen sind, wie es schon die Apostel ihren Gemeinden sagten (Röm 1,7; 1 Petr 1,15 u. Ö.). Insofern ist Allerheiligen nicht nur ein Hochfest, sondern ein spiritueller Auftrag für den Alltag.
Vielfalt der Kirche
Zugleich gibt Allerheiligen den Blick frei für die Vielfalt der Kirche. Die Kalenderreform nach dem II. Vatikanum hat darauf Wert gelegt, im liturgischen Heiligenkalender nicht nur einseitig die Märtyrer (und die wenig bekannten Märtyrerinnen, die es z. B. ins römische Hochgebet geschafft haben) der frühen Kirche in den Blick zu nehmen, sondern eine breit angelegte Universalität als Maßstab der Reform anzulegen: alle Erdteile (nicht nur Europa), alle Zeiten (nicht nur das 1. Jahrtausend) und alle Stände bzw. Lebensformen (nicht nur Päpste, Priester, Ordensleute und Jungfrauen) sollten Berücksichtigung finden. Und das ist im Hinblick auf die letzten 50 Jahre, in denen der Heiligenkalender wieder angewachsen ist, auch gelungen. So wurden viele Heilige des 20. Jahrhunderts aus der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung aufgenommen (Maximilian Kolbe, Edith Stein, Karl Leisner u. a.), aber auch Menschen verschiedener Erdteile (Karl Lwanga, Paul Miki, Rosa von Lima, Josefina Bakhita u. a.), die zum Teil in früheren Jahrhunderten lebten.
Manchmal könnte man sogar den Eindruck gewinnen, dass es ein bisschen zu viel des Guten ist und man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Aber insgesamt bleibt doch der positive Eindruck einer bunten Kirche, in der Frauen wie Männer, junge wie alte Menschen, Europäer, Südamerikanerinnen, Asiaten und Afrikanerinnen alle ihren Platz haben und gleichermaßen für die Heiligkeit der Kirche stehen. So lenkt der heutige Heiligenkalender den Blick auf die Weltkirche und befreit uns von mancher Nabelschau. Und es wird deutlich: Es sind besonders die Menschen, welche die Heiligkeit (oder Unheiligkeit) der Kirche ausmachen. Manchmal fällt dabei auch eine Beeinflussung auf, gleichsam eine „Kette“ von Menschen, die sich über Jahrhunderte hinweg inspiriert haben. Die Schriften des Paulus beeindruckten Augustinus so sehr, dass er – begeistert von den Predigten des Bischofs Ambrosius in Mailand – sich taufen ließ. Über 1000 Jahre später beeinflussten die Bekenntnisse des Augustinus die zweite Bekehrung Teresas von Avila. Wieder 400 Jahre danach hat Edith Stein nach der Lektüre der Autobiographie Teresas gesagt: „Das ist die Wahrheit.“ So gehört die Heiligkeit zur Geschichte der Kirche, weil ihr der Heilige Geist geschenkt ist und damit „Heiligkeit“ gleichsam zum „Markenzeichen“ der Kirche geworden ist – bei aller Unheiligkeit, die es in den einzelnen Gliedern der Kirche und in ihren Strukturen weiterhin gibt.
Allerheiligen ökumenisch
Ein Letztes sei noch genannt: Allerheiligen hat auch eine eminent ökumenische Dimension – und das nicht nur, weil der Reformationstag unmittelbar davor begangen wird (in einigen Bundesländern inzwischen auch als staatlicher Feiertag). In den letzten Jahren ist vielmehr von verschiedener Seite – auch von Papst Franziskus – die Ökumene der Märtyrer stark gemacht worden. Christen werden heute weltweit verfolgt – und manche von ihnen sterben –, und zwar nicht deshalb, weil sie sich zum Papst bekennen oder die Rechtfertigungslehre Luthers vertreten, sondern weil sie schlicht und einfach an Jesus Christus glauben. Ob Kopten in Ägypten, orientalische Christen im Irak und Iran, Protestanten in China oder Katholiken in Sri Lanka – in Verfolgung und Tod besteht hier eine Einheit, die wir auf Erden noch erwarten (müssen). Ich selbst habe in Uganda einmal den ökumenischen Ort der Märtyrer von Uganda (Karl Lwanga und Gefährten) besucht, an dem anglikanische und katholische Christen Ende des 19. Jahrhunderts gemeinsam unter einem paranoiden König in Reisigbündel gesteckt und verbrannt wurden. Aber auch an die vier Lübecker Märtyrer wäre zu denken, die 1943 öffentlich gegen das Nazi-Regime Stellung bezogen hatten und deshalb hingerichtet wurden. Neben drei katholischen Priestern gehörte zu ihnen auch Karl Friedrich Stellbrink, Pastor der evangelischen Lutherkirche in Lübeck. All das macht uns deutlich, dass es in der Praxis wesentlichere Dinge gibt als die theologischen Kontroversfragen, an denen wir uns immer noch abarbeiten (müssen).
Wahrscheinlich hat der Schüler damals in der Kugelkirche in Marburg das nicht alles im Sinn gehabt, als er den Namen des großen Reformators nannte. Aber er hat mir bewusst gemacht, dass Allerheiligen – jenseits aller Unterschiede in der Theologie der Heiligenverehrung – gerade heute ein ökumenisches Fest sein muss, weil es uns als Christen insgesamt zum Zeugnis für Christus in der Welt stärken kann.
Es ist gut 20 Jahre her. Schülergottesdienst an Allerheiligen in Marburg, St. Johannes, die auch „Kugelkirche“ genannt wird. Als junger Kaplan frage ich unbedarft in die Runde: „Welche Heiligen kennt ihr denn?“ Erste Antwort eines Schülers: „Martin Luther.“ Nach einem kurzen Zucken antworte ich: „Okay, irgendwie war der auch heilig, auf alle Fälle ein Zeuge des Evangeliums.“ Und ich denke dabei an die ökumenischen Konsenstexte der letzten Jahrzehnte, in denen ja Luther auch von katholischer Seite aus positiver beurteilt wurde.
Die Episode brachte mich ins Nachdenken darüber, was Heiligkeit bedeutet und was bzw. wen wir an Allerheiligen eigentlich feiern. Viele Zeitgenossen werden heute eher mit dem Begriff „Halloween“ etwas anfangen können, ohne vielleicht zu wissen, dass gerade in diesem Wort das Allerheiligenfest enthalten ist. Der Abend vor Allerheiligen („All Hallows Evening“) als Abend der gruseligen Kürbisköpfe ist eher im Bewusstsein als das Fest am 1. November, das ursprünglich im östlichen Christentum entstand, wo noch heute am Sonntag nach Pfingsten das Fest aller Heiligen gefeiert wird, womit es näher am Fest des Heiligen Geistes liegt, der ja alle Heiligen auf ganz unterschiedliche Weise erfüllt.
Geschichtliche Entwicklung
In der westlichen Tradition spielt die Einweihung des Pantheons als Kirche Marias und aller Märtyrer am 13. Mai 610 eine wichtige Rolle. Der vorher allen Göttern geweihte imposante Bau wurde so zu einer Kirche, in der Maria und alle christlichen Märtyrer verehrt werden. Der Papst soll damals auf 28 Wagen Gebeine aus den Katakomben in die Kirche gebracht haben. Zunächst wurde das Fest aller heiligen Märtyrer in Rom als Kirchweihfest der neuen Kirche immer um den 13. Mai gefeiert, später am Freitag nach Ostern. Jedenfalls war dadurch die Nähe zum Ostergeheimnis, der Feier von Tod und Auferstehung Jesu, gegeben, und damit verbunden die Hoffnung der Märtyrer auf ewige Vollendung bei Gott.
Im 8. Jahrhundert legte Papst Gregor III. (731–741) das Fest dann für die Stadt Rom auf den 1. November. Manche spekulieren, das habe daran gelegen, dass der Termin im Frühling wegen des noch herrschenden Mangels an Lebensmitteln die Verpflegung der vielen Pilger in der Stadt erschwert hätte. Wahrscheinlicher ist aber, dass ein Fest zu Ehren aller Heiligen (nicht nur der Märtyrer) schon früher in England und Irland an diesem Datum gefeiert und damit eine keltisch-heidnische Tradition aufgenommen wurde, galt doch der 1. November dort als Winteranfang. Von daher würden sich auch die Masken am Vorabend – Halloween – als Ankündigung des grimmigen Winters erklären. In Rom wurde das Fest – wie vieles in der Liturgiegeschichte – dann von nördlich der Alpen übernommen. Gregor IV. (827–844) bestätigte im Jahr 835 den Festtermin am 1. November und legte ihn für die ganze römisch-lateinische Kirche fest. So feiern wir schon bald 1200 Jahre lang Allerheiligen im Herbst.
Allerheiligen und Allerseelen
In der cluniazensischen Reform Ende des 10. Jahrhunderts wurde direkt nach dem Fest Allerheiligen ein allgemeines Gedenken für alle Verstorbenen eingeführt, der Gedenktag Allerseelen am 2. November. Schnell breitete er sich in der westlichen Kirche aus und besitzt noch heute einen hohen liturgischen Rang, so dass er etwa den Sonntag verdrängt.
Diese Nähe von Allerheiligen und Allerseelen macht einerseits Sinn. Man kann darin ein österliches Gedächtnis der Verstorbenen sehen, die in Gemeinschaft mit den Heiligen bei Gott leben. Die Präfation des Allerheiligenfestes macht auf diese Verbindung aufmerksam: „Denn heute schauen wir deine heilige Stadt, unsere Heimat, das himmlische Jerusalem. Dort loben dich auf ewig die verherrlichten Glieder der Kirche, unsere Brüder und Schwestern, die schon zur Vollendung gelangt sind. Dorthin pilgern auch wir im Glauben, ermutigt durch ihre Fürsprache und ihr Beispiel, und gehen freudig dem Ziel der Verheißung entgegen“ (Messbuch, 824f.).
Andererseits geht der ursprünglich freudige Charakter des Allerheiligenfestes durch die Eingliederung in das Totengedenken des Monats November auch etwas verloren. „Im Hintergrund steht nicht mehr Ostern, sondern die vergehende Natur, über der die unvergängliche Welt der Heiligen sichtbar wird“ (Fischer, LThK 1, S. 406). Die meisten Gläubigen gehen am Nachmittag von Allerheiligen (und nicht an Allerseelen) an die Gräber der Verstorbenen, weil in vielen Bundesländern an diesem Tag arbeitsfrei ist. So ist der Tag im Bewusstsein vieler Menschen – auch wohl der meisten Katholiken – eher ein Tag des Totengedenkens als ein Tag der Freude über das Zeugnis der Heiligen aller Zeiten.
Wie aber können wir Allerheiligen heute verstehen? Wenn man den Blick auf die Heiligen und ihr Lebenszeugnis (und nicht nur auf ihre Vollendung in der Herrlichkeit) legt, könnten zwei Dinge neu ins Bewusstsein kommen.
Heiligkeit des Alltags
Zum einen geht es um die unerkannte Heiligkeit im Alltag. Neben den vielen anderen „approbierten“, das heißt von der Kirche bestätigten Heiligenfesten und -gedenktagen (die gegen die Intention des Konzils seit dem Pontifikat Johannes Pauls II. wieder zunehmen) ist es gut, wenigstens einen Tag im Kirchenjahr zu haben, an dem all die Menschen im Zentrum stehen, die keinen eigenen Gedenktag haben, aber in ihrem Leben (und Sterben) das verwirklichten, was Gott von uns allen erwartet und erhofft, nämlich ein Leben, das von Hilfsbereitschaft, Wertschätzung, Liebe, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Treue geprägt ist. Allerheiligen ist dann nicht ein Fest pompöser Zur-Schau-Stellung der Heiligkeit der Kirche (dass wir mit diesem Begriff heute ohnehin vorsichtiger umgehen müssen, lehrt uns nicht erst der Missbrauchsskandal), sondern eher ein Fest der kleinen und unscheinbaren Heiligen des Alltags, die es vielleicht sogar auch in meiner Umgebung gibt. Und damit kann ein Anstoß verbunden sein, einmal nach dieser unspektakulären Heiligkeit im Alltag Ausschau zu halten. Gott begegnet uns sehr häufig in Menschen am Rand, im Lächeln eines Kindes, in der Freude eines behinderten Menschen, in der Zivilcourage eines Jugendlichen, im selbstlosen Einsatz eines Flüchtlingshelfers oder in der weisen Antwort eines alten Menschen. „Allerheiligen“ kann zur Erkenntnis führen, dass die Welt voll ist von „heiligen“ Menschen, die Gutes 7 tun, und wir manchmal nur die Augen, Ohren und Herzen dafür öffnen müssen. Und es kann uns in Erinnerung rufen, dass wir alle zur Heiligkeit berufen sind, wie es schon die Apostel ihren Gemeinden sagten (Röm 1,7; 1 Petr 1,15 u. Ö.). Insofern ist Allerheiligen nicht nur ein Hochfest, sondern ein spiritueller Auftrag für den Alltag.
Vielfalt der Kirche
Zugleich gibt Allerheiligen den Blick frei für die Vielfalt der Kirche. Die Kalenderreform nach dem II. Vatikanum hat darauf Wert gelegt, im liturgischen Heiligenkalender nicht nur einseitig die Märtyrer (und die wenig bekannten Märtyrerinnen, die es z. B. ins römische Hochgebet geschafft haben) der frühen Kirche in den Blick zu nehmen, sondern eine breit angelegte Universalität als Maßstab der Reform anzulegen: alle Erdteile (nicht nur Europa), alle Zeiten (nicht nur das 1. Jahrtausend) und alle Stände bzw. Lebensformen (nicht nur Päpste, Priester, Ordensleute und Jungfrauen) sollten Berücksichtigung finden. Und das ist im Hinblick auf die letzten 50 Jahre, in denen der Heiligenkalender wieder angewachsen ist, auch gelungen. So wurden viele Heilige des 20. Jahrhunderts aus der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung aufgenommen (Maximilian Kolbe, Edith Stein, Karl Leisner u. a.), aber auch Menschen verschiedener Erdteile (Karl Lwanga, Paul Miki, Rosa von Lima, Josefina Bakhita u. a.), die zum Teil in früheren Jahrhunderten lebten.
Manchmal könnte man sogar den Eindruck gewinnen, dass es ein bisschen zu viel des Guten ist und man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Aber insgesamt bleibt doch der positive Eindruck einer bunten Kirche, in der Frauen wie Männer, junge wie alte Menschen, Europäer, Südamerikanerinnen, Asiaten und Afrikanerinnen alle ihren Platz haben und gleichermaßen für die Heiligkeit der Kirche stehen. So lenkt der heutige Heiligenkalender den Blick auf die Weltkirche und befreit uns von mancher Nabelschau. Und es wird deutlich: Es sind besonders die Menschen, welche die Heiligkeit (oder Unheiligkeit) der Kirche ausmachen. Manchmal fällt dabei auch eine Beeinflussung auf, gleichsam eine „Kette“ von Menschen, die sich über Jahrhunderte hinweg inspiriert haben. Die Schriften des Paulus beeindruckten Augustinus so sehr, dass er – begeistert von den Predigten des Bischofs Ambrosius in Mailand – sich taufen ließ. Über 1000 Jahre später beeinflussten die Bekenntnisse des Augustinus die zweite Bekehrung Teresas von Avila. Wieder 400 Jahre danach hat Edith Stein nach der Lektüre der Autobiographie Teresas gesagt: „Das ist die Wahrheit.“ So gehört die Heiligkeit zur Geschichte der Kirche, weil ihr der Heilige Geist geschenkt ist und damit „Heiligkeit“ gleichsam zum „Markenzeichen“ der Kirche geworden ist – bei aller Unheiligkeit, die es in den einzelnen Gliedern der Kirche und in ihren Strukturen weiterhin gibt.
Allerheiligen ökumenisch
Ein Letztes sei noch genannt: Allerheiligen hat auch eine eminent ökumenische Dimension – und das nicht nur, weil der Reformationstag unmittelbar davor begangen wird (in einigen Bundesländern inzwischen auch als staatlicher Feiertag). In den letzten Jahren ist vielmehr von verschiedener Seite – auch von Papst Franziskus – die Ökumene der Märtyrer stark gemacht worden. Christen werden heute weltweit verfolgt – und manche von ihnen sterben –, und zwar nicht deshalb, weil sie sich zum Papst bekennen oder die Rechtfertigungslehre Luthers vertreten, sondern weil sie schlicht und einfach an Jesus Christus glauben. Ob Kopten in Ägypten, orientalische Christen im Irak und Iran, Protestanten in China oder Katholiken in Sri Lanka – in Verfolgung und Tod besteht hier eine Einheit, die wir auf Erden noch erwarten (müssen). Ich selbst habe in Uganda einmal den ökumenischen Ort der Märtyrer von Uganda (Karl Lwanga und Gefährten) besucht, an dem anglikanische und katholische Christen Ende des 19. Jahrhunderts gemeinsam unter einem paranoiden König in Reisigbündel gesteckt und verbrannt wurden. Aber auch an die vier Lübecker Märtyrer wäre zu denken, die 1943 öffentlich gegen das Nazi-Regime Stellung bezogen hatten und deshalb hingerichtet wurden. Neben drei katholischen Priestern gehörte zu ihnen auch Karl Friedrich Stellbrink, Pastor der evangelischen Lutherkirche in Lübeck. All das macht uns deutlich, dass es in der Praxis wesentlichere Dinge gibt als die theologischen Kontroversfragen, an denen wir uns immer noch abarbeiten (müssen).
Wahrscheinlich hat der Schüler damals in der Kugelkirche in Marburg das nicht alles im Sinn gehabt, als er den Namen des großen Reformators nannte. Aber er hat mir bewusst gemacht, dass Allerheiligen – jenseits aller Unterschiede in der Theologie der Heiligenverehrung – gerade heute ein ökumenisches Fest sein muss, weil es uns als Christen insgesamt zum Zeugnis für Christus in der Welt stärken kann.