Wir dürfen davon ausgehen, dass derzeit weltweit 350 Millionen Menschen an Depression erkrankt sind – dabei ist die Dunkelziffer noch nicht mit bedacht. Menschen mit Depression begegnen uns im alltäglichen Leben: In der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, in der Freizeit, wie auch in den Kirchen und in den Gruppen unserer Gemeinden. Wie steht es eigentlich um die kirchliche Seelsorge bei Depression, was kann sie in diesem Kontext tun und wo sind ihre Grenzen?
Depression hat viele Gesichter
Diese Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Das hat seinen Grund unter anderem darin, dass es die Depression als solche nicht gibt. Sie hat vielmehr so viele Gesichter, wie es betroffene Menschen gibt. Entsprechend ist das Phänomen nicht allgemein definierbar und es verwundert nicht, dass es auf vielfältige Weise zum Ausdruck gebracht wird. Depression erscheint in der Gestalt nicht enden wollender Trauer, als Melancholie und Schwermut. Viele Betroffene sprechen von Stimmungsschwankungen oder depressiver Verstimmung, wie auch von den längst gesellschaftsfähigen Erschöpfungs- und Burn-out-Syndromen. Mittels all dieser Begriffe kommen unterschiedliche Leidenserfahrungen und Affekte zum Ausdruck, die vielleicht ein wenig zu vorschnell und häufig auch unreflektiert unter dem einen Begriff der Depression zusammengefasst werden. Jeder einzelne Fall eröffnet einen Spannungsbogen zwischen den beiden Polen Lebensgefühl und Krankheitserfahrung. Darin können Betroffene sich als sehr schwer erkrankt erleben. Dies kann bis zu dem Wunsch führen, so nicht länger leben zu müssen. Andere wiederum sind in der Lage, ihre Depression oder Melancholie als Lebensform anzunehmen – wir finden dies bei Künstlern, Philosophen, Mystikern, die diese Weise des Seins, so weit wie möglich, in ihr Leben integrieren. Manche von ihnen treten in die Öffentlichkeit und geben Anteil an ihrem Erleben. Piet Kuipers, ein seinerzeit angesehener Psychiater und Psychoanalytiker, schreibt unter dem Titel Seelenfinsternis über seine Depression. Heide Fuhljahn, Journalistin und Bestsellerautorin, beschreibt in ihrem autobiographischen Buch Kalt erwischt mittels dieses Titels und der Metapher eines „Mantels aus Blei“, wie sich ihre Depression für sie anfühlt. Romano Guardini spricht im Rückgriff auf Sören Kierkegaards Melancholieerfahrungen von „Schwermut“, und Mystiker wie beispielsweise Johannes vom Kreuz kennen die „dunkle Nacht der Seele“. Seelsorge ist gut beraten, wenn sie das Phänomen der Depression in all seiner Vielfalt als Ausdruck höchst persönlicher Lebens- und Leidenserfahrungen wahrnimmt und sich hierzu in Beziehung setzt.
Deutehorizonte
Im Spannungsbogen von Lebensgefühl und Krankheitserfahrung tritt das Phänomen der Depression in vielerlei Varianten zu Tage. Entsprechend vielfältig ist die Art und Weise des Umgehens mit der Depression, bis hin zu ihrer Behandlung. Insofern sich unterschiedliche Menschen und Berufsgruppen um den depressiv Erkrankten sorgen, stehen wir hier natürlich vor vielfältigen Ansätzen und unterschiedlichen Deutehorizonten. Sie können phänomenologisch, psychologisch, psychotherapeutisch, psychiatrisch, soziologisch, spirituell, seelsorglich und natürlich auch theologisch ausgerichtet sein. Dementsprechend werden sie je unterschiedliche Handlungs- und Behandlungskonzepte zu Tage bringen.
Ärztlich-psychotherapeutische Störungen mit unterschiedlichem Schweregrad
Es steht außer Zweifel, dass die psychiatrische wie auch die psychotherapeutische Deutung depressiven Erlebens und die darauf fußenden Behandlungsmöglichkeiten für die Betroffenen hilfreich sind. Depression ist heute gut behandelbar. Als Grundlagen hierfür gelten die Psychopathologie und die psychiatrische Krankheitslehre, wie auch tiefenpsychologische sowie verhaltenstherapeutisch fundierte Ansätze der Psychotherapie. Die psychiatrische Behandlung depressiv Erkrankter lässt sich von zwei unterschiedlichen psychiatrischen Klassifikationssystemen (ICD 10 und DSM 5) leiten. Hierin werden die unterschiedlichen Schweregrade der Erkrankung definiert und die daraus folgenden Behandlungsschritte und -methoden für das ärztliche Vorgehen verbindlich festgelegt. Hierum zu wissen, ist auch für die Seelsorger hilfreich und letztlich unerlässlich. Vier Schweregrade „depressiver Episoden“ werden unterschieden (ICD 10, F 32):
- Leichte depressive Episode: Der Patient fühlt sich krank und sucht ärztliche Hilfe, kann aber trotz Leistungseinbuße seinen beruflichen und privaten Pflichten gerecht werden, sofern es sich um Routine handelt.
- Mittelgradige depressive Episode: Berufliche oder häusliche Anforderungen können nicht mehr oder – bei Tagesschwankungen – nur noch zeitweilig bewältigt werden.
- Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome: Der Patient bedarf ständiger Betreuung. Eine Klinikbehandlung wird notwendig, wenn das nicht gewährleistet ist.
- Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen: Hier sind die zuvor genannten Symptome mit Wahngedanken verbunden, z. B. absurden Schuldgefühlen, Krankheitsbefürchtungen, Verarmungswahn u. a. Auch Suizidalität spielt hier eine Rolle.
Anthropologisch-existentiell: Die Tiefen unseres Menschentums
Die psychiatrischen Klassifikationssysteme deuten die zu behandelnde Erkrankung als Störung. Es sei an dieser Stelle nur kurz auf die damit einhergehende verengte Sichtweise von Leiden, Kranksein, Krankheit und Gesundheit hingewiesen. Diese Perspektive mag es auch gewesen sein, die Romano Guardini schon 1963 zu seiner ganz speziellen und anderen Auffassung „vom Sinn der Schwermut“ führte. „Die Schwermut“, so schreibt er, „ist etwas zu Schmerzliches, und sie reicht zu tief in die Wurzeln unseres menschlichen Daseins hinab, als dass wir sie den Psychiatern überlassen dürften. Wenn wir also hier nach ihrem Sinn fragen, so ist damit auch schon gesagt, dass es uns nicht um eine psychologische oder psychiatrische, sondern um eine geistige Angelegenheit geht. Wir glauben, es geht um etwas, was mit den Tiefen unseres Menschentums zusammenhängt“.
Guardini leugnet nicht die Schwere des Erlebens und es geht ihm im Ganzen auch nicht darum, die Wirksamkeit psychiatrischer Behandlung anzuzweifeln. Er weitet jedoch den Deutehorizont allein schon dadurch, dass er sich einer eigenen Terminologie bedient. Er spricht von „Schwermut“ und stellt diese in den Kontext anthropologisch zu deutender Grunderfahrungen. Als „geistige Angelegenheit“, die uns „mit den Tiefen unseres Menschentums“ konfrontiert, wird sie zu einer Erfahrung aller. Hier liegt der Grund dafür, dass man Schwermut und Depression nicht alleine den Psychiatern, und die daran Leidenden nicht allein sich selbst und einzig den Ärzten überlassen darf. Was Guardini schon in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Ausdruck brachte, tritt gegenwärtig neu ins Bewusstsein: Depression geht jeden an. Als Erfahrung reicht sie „an die Wurzeln unseres menschlichen Daseins“ und kann mit Hartmut Rosa als „die vielleicht negativste Form menschlicher Welterfahrung“ gedeutet werden. (Resonanz 202).
Theologisch „Lebens- Mittel“ bereitstellen
Da die Depression, unabhängig vom Schweregrad der Symptomatik, „tief in die Wurzeln unseres menschlichen Daseins“ hinabreicht, wäre es fatal, wenn Pastoral und kirchliche Seelsorge sich gerade bei dieser Manifestation menschlichen Leidens heraushielten. In ihrer Selbstverpflichtung zur Sorge um den kranken Menschen, wie auch auf der Grundlage der biblischen Ur-Kunde ist kirchliche Seelsorge hier in besonderer Weise gefragt. In der Tat ist Depression ja kein Phänomen der Moderne, sondern eine Erfahrung, die schon immer in den Erzählungen und Mythen der Menschheit ihren Ausdruck fand. So finden sich in der biblischen Überlieferung Beschreibungen von Schwermut, Melancholie und Depression, wie auch Hinweise auf einen heilsamen Umgang damit.
Im Buch der Könige lesen wir von Elija, der in seiner Depression alle Lebenskraft und Lebenslust verloren hat (1 Kö 19,4ff.). Hier ist die Rede von seiner „Veränderung der Gestimmtheit und des Antriebs“, von „Gefühlen des Schuldigseins“, von „abgrundtiefer Angst“, vom „Verlust aller Hoffnung“ und schlussendlich vom „Wunsch, nicht länger leben zu müssen“ – aus der Sicht moderner Psychiatrie alles Merkmale einer behandlungswürdigen, schweren depressiven Episode. Die Schwere wird insbesondere dadurch offenkundig, dass der „Seelsorger“, der sich seiner annehmen möchte, – in der Sprache der Bibel der Engel – hierzu mehrere Anläufe braucht, um überhaupt mit ihm in Beziehung zu kommen. Zu sehr lastet die Schwermut auf Elija, als dass er sich noch einmal von einem anderen Menschen für das Leben gewinnen lassen wollte und könnte. Die vom Engel bereitgestellten „Lebens-Mittel“, im biblischen Text sind es Wasser und Brot, wie auch das immer neue Angebot der Beziehung und eines hoffnungsvollen Ausblicks nimmt er zunächst nicht wahr. Es dauert eine Zeit, bis er sie ergreift und auf seinem Lebensweg weiter voranschreitet.
Seelsorge im Kontext von Schwermut und Melancholie
Die „Fallgeschichte“ des Elija aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. übermittelt uns Heutigen ausgeprägte Erfahrungen von Schwermut und Melancholie, stellt diese in den Deutehorizont theologischer Reflexion und bietet mittels des Trostes, stellvertretender Hoffnung und eines nicht nachlassenden Beziehungsangebotes heilsame „Lebens-Mittel“ an. Bereits in diesen alten Texten ist eine spezielle Zuständigkeit der Seelsorge, und zwar bei jedem Schweregrad depressiven Krankseins, grundgelegt. Im sozialpsychiatrischen Feld wird häufig der Gedanke vertreten, seelsorgliche und andere stützende Begleitungen seien insbesondere bei den Varianten der leichten und mittelgradigen depressiven Episoden hilfreich und angezeigt. In den Fällen von schwerer Depression hingegen sei die ärztlich-psychotherapeutische Behandlung oder auch die stationäre Aufnahme das primäre oder gar einzige Mittel der Wahl, welches in die Hände der Profis gehöre. Hier vertrete ich eine ganz und gar andere Position. Insofern Seelsorge sich immer an den ganzen Menschen in all seiner Fragmentarität richtet, gibt es für sie kein Ausschlusskriterium, bei welcher Erkrankung auch immer. Es ist ja gerade eines ihrer unverwechselbaren Charakteristika, dass Seelsorge sich selbst dann nicht zurückzieht, wenn alle medizinischen und therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Vielmehr bleibt sie – auf ihre Weise und entsprechend ihrer Möglichkeiten – mit ihren ganz eigenen „Lebens-Mitteln“ an der Seite des leidenden Menschen.
Seelsorge, ärztlich-psychotherapeutische Behandlung, wie auch andere Angebote aus dem weiten Feld psychosozialer Beratung von Menschen mit Depression, müssen sich nicht ausschließen. Sie stehen nicht gegeneinander. Sie deuten die Erfahrungen depressiven Krankseins allerdings auf je unterschiedlicher Grundlage und halten darauf fußende unterschiedliche Handlungskonzepte bereit. Im besten Falle erweisen sich diese zum Wohle des Leidenden als komplementär. Auf der Grundlage der jüdisch-christlichen Überlieferung und entsprechender theologischer Reflexion, im optimalen Fall auch auf Grund qualifizierter Ausbildung, hält christliche Seelsorge angesichts der Erfahrung depressiven Krankseins eigene heilsame Mittel bereit, die dem Leben dienen. Ziel seelsorglichen Handelns ist dabei nicht die Heilung im medizinischen Sinne, sondern in Rückbindung an die eigene Tradition und völlig unabhängig vom Ganzheits- und Heilungsparadigma, Trost und stellvertretende Hoffnung. Konzepte heilsamer, relationaler und tröstender Seelsorge sind hier genauso gefragt, wie Kompetenz in der Gestaltung von Beziehung, Kenntnisse im Kontext der Depression sowie die Bereitschaft zur Vernetzung mit Betroffenen, Angehörigen und den anderen im Feld professionell Tätigen. Konzeptgeleitetes Handeln, Kommunikation, Kooperation und Transparenz gegenüber allen Beteiligten werden den Beitrag der Seelsorge bei Depression als in unverwechselbarer Weise heilsam herausstellen. Die alten und bewährten „Lebens-Mittel“ der Seelsorge – Gottesdienst, Gottes Wort, Gebet, Rituale und Segen, Gesten, Berührungen, das Miteinandersprechen wie auch Schweigen – gewinnen durch den Rekurs auf die Elija-Überlieferung eine für die Gegenwart aktuelle, praktische Relevanz. Auf dieser Grundlage ist es der Seelsorge möglich, auch in tiefster Schwermut und dunkelster Melancholie einen eigenen Raum heilsamer Erfahrungen für die Betroffenen zu eröffnen. So fügt sie sich mit ihren eigenen Mitteln in die multiprofessionelle Begleitung depressiv erkrankter Menschen ein. Dies kann ihnen, wie der Ausgang der Elijageschichte zeigt, durchaus zum Segen werden.