In der Gemeinde von Korinth spielten zur Zeit des Paulus Geisterfahrungen eine große Rolle – und wurden gleichzeitig zum Problem, so dass Paulus im 1. Korintherbrief ausführlich dazu Stellung nimmt (1 Kor 12– 14). Konkret ging es um das hohe Ansehen der Glossolalie, der Zungenrede. Dabei handelte es sich um ekstatische, unverständliche Artikulationen, die auf das Wirken des Geistes zurückgeführt wurden (1 Kor 12,10.28; 14). Die Zungenredner befanden sich in euphorischen Zuständen, in denen sie Laute, die nicht den Gesetzen der Sprache folgen, ausstießen. Die Zungenrede stand deswegen in hohem Ansehen, weil sie als Erfahrung des Lebens in der neuen Wirklichkeit Gottes galt. Das Problem war nur, dass es in Korinth zu einer Eskalation kam, bei der die Zungenredner in immer größere Euphorie gerieten, während die anderen zu bloßen Zuschauern degradiert wurden. Eine Spaltung der Gemeinde drohte (12,25).
Der Begriff charisma
Um dies zu verhindern, entwickelt Paulus in 1 Kor 12 ein eigenes Modell des Lebens aus dem Geist Gottes. Im Zentrum steht die theologische Einsicht, dass der Geist in jedem Gemeindeglied wirkt, und zwar in den Fähigkeiten, die es in die Gemeinde einbringt. Um dies auszudrücken, führt Paulus den Begriff charisma in die Diskussion ein. Er wird sonst im Griechischen kaum verwendet und begegnet im Neuen Testament, von 1 Petr 4,10 abgesehen (dazu unten mehr), nur im Corpus der Paulusbriefe. Paulus benutzt den Begriff schon im Proömium des 1. Korintherbriefs (1 Kor 1,4–7). Er spricht dort zunächst von der „Gnade“ (charis) Gottes, seiner barmherzigen, heilvollen Zuwendung, die in Christus Wirklichkeit geworden ist. Durch diese Gnade sind die Korinther „reich“ gemacht, nämlich in der „Rede“ – der geistgewirkten Rede, die das Leben der Gemeinde deutet – und der „Erkenntnis“, die das Christus-Geschehen als Heilshandeln Gottes begreifen lässt. Die Gemeinde ist befähigt, ihr Leben auf der Grundlage des überlieferten Zeugnisses von Christus zu verstehen und zu gestalten. Paulus bescheinigt der Gemeinde, sie habe keinen Mangel an „irgendeiner Gnadengabe (charisma)“. Der theologische Zusammenhang ist deutlich: Die Gnadengaben sind Konkretionen der Gnade Gottes. Das bringt Paulus in Röm 12,6 auf den Punkt: „Wir haben verschiedene Gnadengaben nach der Gnade, die uns gegeben ist“. Rede und Erkenntnis sind also Gnadengaben, die von Gott geschenkt sind und zur Gestaltung von Gemeinde befähigen. Die in Korinth so prominente Zungenrede erwähnt Paulus nicht einmal. Sie vermag zu diesem Prozess, der eine geistige Auseinandersetzung mit der Realität erfordert, nichts beizutragen. Im Gegenteil: Ihr enthusiastischer Überschwang trägt die Gefahr des Realitätsverlustes in sich.
Gemeinde: Leben aus dem Geist
In 1 Kor 12 wird „Charisma“ zu einem Zentralbegriff. Dabei führt Paulus die Gnadengaben auf das Wirken des Geistes Gottes zurück (12,4). In seinem Geist wird Gott selbst wirksam und erfahrbar. Insofern könnte man charisma hier auch mit „Geistesgabe“ übersetzen. Um die Vielfalt dieser Geistesgaben zu verdeutlichen, führt Paulus gleich zwei Charismenlisten an (12,8–10.28–30). Auch wenn wir heute nicht mehr alle diese Charismen eindeutig identifizieren können, vermitteln die Listen einen Eindruck von der Vielfalt der Fähigkeiten und Funktionen. Und sie zeigen, dass es dabei keineswegs nur um besondere, herausragende Gaben geht. Eine Unterscheidung, die Gerd Theißen ins Spiel gebracht hat, lässt genauer hinsehen. Paulus stellt in seinen Listen extremreligiöse Varianten wie Heilungsgabe, Wunderkraft und Glossolalie neben normalreligiöse Begabungen wie Weisheit und Erkennen, Helfen und Leiten, Auslegung der Zungenrede und prophetische Rede; letztere setzt keine übernatürliche Offenbarung voraus, sondern wagt eine vom Geist inspirierte Deutung der aktuellen christlichen Lebenswirklichkeit. Diese Unterscheidung ist aufschlussreich, zeigt sie doch, dass wirklich alle Fähigkeiten und Funktionen Geschenke des Geistes darstellen, die das Leben der Gemeinde ausmachen. Sie alle besitzen höchsten Wert – und sind damit gleichwertig. Bemerkenswert ist, dass Paulus auch die Leitung (wörtlich: „Steuerung“) nur als eine Gnadengabe unter anderen nennt. Es leitet die Person, die das kann, die die – vom Geist geschenkte – Kompetenz dazu besitzt, und auch diese Funktion ist nur eine unter anderen.
Auch im Römerbrief findet sich eine kleine Charismenliste, die Funktionen der Verkündigung, des Zuspruchs, des Vorstehens und der Unterstützung gleichwertig nebeneinanderstellt (Röm 12,6–8). Wenn Paulus in 1 Kor 7,7 in der Diskussion über den Vorzug der Ehe oder der Ehelosigkeit beide mit der jeweiligen von Gott geschenkten Gnadengabe in Verbindung bringt, zeigt er, dass alle Lebensformen charismatisch begründet sein können, sofern sie an Gott gebunden sind und im Dienst der Gemeinde stehen.
Das Modell der charismatischen Funktionen bei Paulus basiert auf einer theologischen Deutung, die menschliche Begabungen und Gottes Geist verbindet. Es knüpft an den natürlichen Fähigkeiten und Begabungen der Christen an, erkennt darin aber zugleich das Gemeinde bildende, eine neue Lebenswirklichkeit schaffende Wirken des göttlichen Geistes. Charismen sind das, was der oder die Einzelne kann und in das Leben der Gemeinde einbringt.
Die Selbstdarstellung der Zungenredner in Korinth zeigt, wie fragil die Gleichwertigkeit aller Charismen 7 als Geschenke des Geistes in der Praxis ist. „Geistliche“ Hierarchien schleichen sich ein, in denen sich eine Einzelgruppe einen vermeintlich höheren Status zuspricht. Deswegen führt Paulus ein Regulativ für das Verständnis der Charismen ein: den Gemeinschaftsbezug. Alle Charismen müssen sich am Kriterium des „Nutzens“ für die anderen, für die Gemeinschaft messen (1 Kor 12,7) und haben dem „Aufbau der Gemeinde“ zu dienen (14,5.12).
Gemeinde als Leib Christi
Um sein Anliegen anschaulich zu machen, greift Paulus auf die Vorstellung des menschlichen Leibes oder Körpers als Bild für das Zusammenleben der Gemeinde zurück. Bereits vor ihm wurde in philosophischen und historischen Reflexionen das Gemeinwesen mit einem menschlichen Organismus verglichen, meist jedoch mit dem Ziel, die bestehende, nach Statusund Besitzgruppen differenzierte Gesellschaftsstruktur zu bekräftigen. Paulus verwendet das Bild des Leibes, um zugleich die Einheit und die Vielfalt der einzelnen Glieder und ihrer Begabungen zu demonstrieren (1 Kor 12,12–27). Alle Glieder sind für die Existenz des Leibes „Gemeinde“ nötig und unabdingbar. Da dieser Leib durch den Geist und die von ihm gewirkten Gnadengaben begründet ist, sind auch alle Glieder – bei aller Verschiedenheit – grundsätzlich gleichwertig. Konkret entsteht die Zugehörigkeit zum Leib durch die Taufe, in der ebenfalls Gottes Geist wirkt und durch die alle sozio-religiösen Unterschiede in der Gemeinde überwunden sind: Dort leben „Juden und Griechen, Sklaven und Freie“ zusammen (12,13; vgl. Gal 3,28). Das Bild des Leibes gibt auch die Ordnung der Gemeinde vor, die nach dem Prinzip gestaltet ist: Aus den Begabungen, den Gnadengaben, resultieren die Funktionen. Jedes Glied übernimmt das, was es gut kann und wozu es sich vom Geist befähigt weiß. Auf das Problem der Zungenrede angewendet bedeutet das, dass diese natürlich ihren Ort in der Gemeinde besitzt, aber auch nur ein Charisma unter vielen gleichwertigen anderen darstellt.
Weil die Gnade Gottes für Paulus immer an Christus gebunden ist, lebt auch die Gemeinde aus ihrer Gemeinschaft mit Christus. Mehr noch: Sie ist als Ganze Leib Christi (1 Kor 12,12.27), und das bedeutet, dass sie in ihrer Einheit Christus in ihrer Stadt repräsentiert. Christus ist also in der ganzen Gemeinde gegenwärtig (und nicht in einer wie auch immer bestimmten Einzelperson). Dieser aus charismatischen Funktionen gebildeten Gemeinde spricht Paulus die theologische Bedeutung der ChristusRepräsentation zu!
Hält Paulus die Gleichwertigkeit aller Charismen wirklich durch? Zu Beginn der Charismenliste in 12,28– 30 hebt er nämlich drei Personengruppen numerisch hervor: erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer. Wenn man genau hinsieht, tritt die Eigenart dieser drei Funktionen hervor. Sie sind grundlegend für die Existenz der Gemeinde, weil sie die Tradition – das Verständnis des ChristusEreignisses – vermitteln, welche die Gemeinde erst begründet. Es handelt sich nicht um übergeordnete Ämter, sondern um die Grundlegung der charismatischen Gemeindeordnung.
Das Wirken des Geistes in den Begabungen und Funktionen der Einzelnen stellte eine wesentliche Erfahrung paulinischer Gemeinden dar. Diese Erfahrung bestimmte ihr Selbstverständnis, ihre Identität als ChristusGemeinde. Sie trug dazu bei, dass sie trotz ihrer Stellung als Minderheit und mancher sozialer Bedrohung als Gemeinde in einer distanzierten oder ablehnenden griechischen Großstadt überleben konnte. Als charismatische Gemeinde unterschied sie sich von der städtischen Gesellschaftsstruktur. Der Enthusiasmus der Zungenredner bedrohte dieses Selbstverständnis, weswegen Paulus die Bedeutung der auf das Verstehen gerichteten Charismen, besonders der prophetischen Rede, hervorhob (1 Kor 14).
Das Charisma des Gemeindeleiters
Ungefähr zwei Generationen später verwenden die Pastoralbriefe (1. und 2. Timotheusbrief, Titusbrief) den Begriff Charisma erneut. Sie stellen sich bewusst in die Tradition des Paulus, schreiben aber dessen Gemeindetheologie für ihre Situation fort. Die Gemeinden wuchsen und breiteten sich aus und wurden daher von ihrer Umwelt stärker als eigenständige soziale Gebilde wahrgenommen. Die Frage wurde drängend, wie sich die Gemeinden in die Stadtgesellschaft einordnen ließen. Die Pastoralbriefe griffen dazu zum Modell des antiken „Hauses“, der Hausgemeinschaft, zu der neben der eigentlichen Familie auch weitere Verwandte und Sklaven zählten. Es war üblich, dass der älteste freie Mann der Familie als Hausvorstand (pater familias) an der Spitze des Hauses stand. Ihm kam die Repräsentation der Hausgemeinschaft nach außen und die juristische Gewalt über alle Mitglieder zu. Dieses Modell übertrugen die Pastoralbriefe auf die Gemeinde (1 Tim 3,15), und dementsprechend sollte auch ein Hausvorstand an der Spitze der Gemeinde stehen: der Episkopos (Aufseher, Vorsteher). Die Ordnung der Gemeinde wird dann durch das Amt bestimmt. Der fiktive Briefadressat Timotheus wird zum Vorbild eines solchen Gemeindeleiters stilisiert (1 Tim 4,11–16). Dabei wird er auch an das charisma erinnert, das ihm bei der Einsetzung in sein Vorsteheramt durch die Handauflegung der Ältesten übertragen wurde (1 Tim 4,14; vgl. 2 Tim 1,6). Die Gnadengabe – jetzt nur noch im Singular – ist ganz auf das Leitungsamt konzentriert und vermittelt Legitimation und Autorität zur Ausübung des Amtes. Wollen die Pastoralbriefe Paulus nur ergänzen oder auch korrigieren? In jedem Fall stellt die Reduktion auf das „Amtscharisma“ einen gemeindetheologischen Einschnitt dar. Natürlich soll das Amt dazu dienen, die Gemeinde zu stabilisieren, ihr eine auch von der römischen Gesellschaft akzeptierte Struktur zu verleihen und sie in der rechten Lehre zu bewahren. Doch die bei Paulus für den Leib „Gemeinde“ wesentliche Vielfalt der Geistesgaben geht verloren.
Charisma und Amt
Vergessen ist das paulinische Gemeindebild der Charismen nicht. Der 1. Petrusbrief ruft in seiner Ermahnung der Gemeinde, die unter dem Vorzeichen des baldigen Weltendes steht, nicht nur zu Besonnenheit und Nüchternheit, sondern auch zu gegenseitiger Liebe und Gastfreundschaft auf (1 Petr 4,7–11). Der Dienst am anderen in der Gemeinde soll durch die Gnadengabe (charisma), die jeder von der vielfältigen Gnade Gottes empfangen hat, bestimmt sein. Das paulinische Prinzip der Vielfalt der von Gott geschenkten Gaben, die alle zusammen dem Nutzen der Gemeinde dienen, tritt wieder hervor. Das wird deutlich, wenn 1 Petr 4,11 eine kleine Charismenliste anschließt: „Wer redet, der rede mit den Worten, die Gott ihm gibt; wer dient, der diene aus der Kraft, die Gott verleiht. So wird in allem Gott verherrlicht durch Jesus Christus.“ Der 1. Petrusbrief versucht, die charismatische Gemeindeordnung des Paulus zu bewahren – obwohl er durchaus das Leitungsamt der „Ältesten“ kennt (5,1–5). Dann prägt die Begabung das Amt: Die Ältesten sollen nicht als „Beherrscher“, sondern als „Vorbilder“ auftreten (5,3). Das Amt in die Charismen zu integrieren, könnte ein Kirchenmodell für die Zukunft sein.