In der Bibelwissenschaft ist man sich relativ einig, dass das Markusevangelium wohl das älteste unserer Evangelien ist. Vermutlich ist es nach dem ersten jüdisch-römischen Krieg, der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 70 n. Chr. entstanden. Darauf weist das 13. Kapitel dieses Evangeliums hin.
Außerdem ist es die Schrift, die die Gattung „Evangelium“ überhaupt erst begründet. Es beginnt so: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, Gottes Sohn.“ (Mk 1,1 EÜ 2016) Keine andere Schrift gibt sich diesen Namen – nur das Markusevangelium.
Das Wort „Evangelium“ stammt aus dem Griechischen und bezeichnete eine „Freudenbotschaft“ oder „Siegesbotschaft“ des Kaiserhauses, z. B. die Geburt eines Nachfolgers, ein Sieg über ein anderes Volk und reiche Beute. Das Markusevangelium nimmt den Begriff wohl bewusst auf, um eine Gegengeschichte zum Narrativ des römischen Imperiums und dessen Unterwerfungspraxis zu erzählen: Jesus bringt nicht die Unterdrückung der Völker, sondern Befreiung: Jesus, der Messiaskönig (= Christus) heilt und speist die Bedürftigen, sammelt das Volk und verkündet Gottes Nähe: „Die bruch des Reiches Gottes in Jesu Worten und Taten im Zentrum: Juden und Menschen aus anderen Völkern werden von Jesus geheilt und genährt. Ein zweiter großer Teil schildert den Weg Jesu von Cäsarea Philippi nach Jerusalem als Weg ins Leiden (8,27–10,52), um anschließend die letzten Tage Jesu in Jerusalem darzustellen (11,1–15,47). Der Konflikt mit den jüdischen und römischen Autoritäten führt zu Verurteilung, Folter und Ermordung Jesu. Am Grab Jesu (16,1–8) gibt ein Bote den Frauen den Auftrag, den Jüngern zu sagen: „Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen!“ Diese Botschaft kann man zweifach verstehen: Zunächst wörtlich als Verheißung einer Begegnungsmöglichkeit der Jüngerinnen und Jünger mit dem Auferstandenen in Galiläa, dem Ort seines intensiven Wirkens. Dann aber auch übertragen als Aufforderung, das Markusevangelium noch einmal von vorn zu lesen, um immer besser zu verstehen, wer dieser Jesus eigentlich ist. Denn das Markusevangelium stellt auch immer wieder die Frage, wer Jesus ist (z. B. in 4,41 oder 8,29). Es lädt seine Leserinnen und Leser ein, sich mit den Jüngerinnen und Jüngern zu identifizieren und sich auf den Weg Jesu und die Nachfolge einzulassen.
Wofür haltet ihr mich?
Das Evangelium stellt seine Leserinnen und Leser zusammen mit der Jüngerschaft Jesu also vor die Frage, wer Jesus für sie ist: Wofür haltet ihr mich? (8,29). Die Männer und Frauen, die im Evangelium auftreten, geben Antwort, aber auch die Dämonen oder die Himmelsstimme. Folgende Antworten auf diese Frage sind für die Theologie des Markusevangeliums wichtig:
- Jesus ist Gottes Sohn: Jesus wird im Evangelium an prominenten Stellen als „Sohn Gottes“ dargestellt. In der „Überschrift“ (1,1), bei der Taufe Jesu (1,11), bei Dämonenaustreibungen (3,11; 5,7), bei der Verklärung Jesu (9,2–13) und unter dem Kreuz. Dort spricht sogar ein römischer Hauptmann das Bekenntnis: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!“ (15,39). Jesus wird als der von Gott in besonderer Weise erwählte Sohn vorgestellt (vgl. 2 Sam 7,14; Ps 2,7), durch den Gottes Herrschaft und Heilswillen offenbar wird.
- Der Weg des Messias Jesus führt ins Leiden: Jesus ist im Markusevangelium vor allem der leidende Messias. Die Passion ist ein großer und zentraler Teil des Evangeliums, viele Texte sind auf sie ausgerichtet. So fällt z. B. schon sehr früh in Mk 3,6 der Beschluss, Jesus zu töten. Auf dem Weg nach Jerusalem, der ab 8,27 erzählt wird, sagt Jesus immer wieder sein Leiden an. Dazu gehört, dass die (männlichen) Jünger Jesus oft nicht oder falsch verstehen. Sie begreifen seine Gleichnisse und Lehren nicht. Sogar Petrus, der Jesus als den Messias bekennt, erkennt nicht das tiefste Wesen der Messianität Jesu (8,29–33): Jesus ist gekommen, um zu dienen und sein Leben zu geben (10,45). Die Jüngerinnen Jesu dagegen setzen dieses „Herrschaftsprogramm“ in ihrer Nachfolge problemlos um (Mk 1,31; 15,40f.). Zu diesem Aspekt gehört auch das sogenannte „Messiasgeheimnis“ im Markusevangelium: Immer wieder gibt Jesus ein Schweigegebot (1,34; 3,12; 8,30; 9,9). Sie sind ein Element der Erzählstrategie des Evangelisten, um die Antwort des Lesers und der Leserin einzufordern und sie auf einen Weg mitzunehmen, auf dem sich Jesu Messianität und Identität stufenweise enthüllt.
- Gott ist da, Gottes Kraft setzt sich durch: Die zentrale Botschaft Jesu finden wir gleich zu Anfang des Evangeliums: „Das Reich Gottes ist nah/da!“ (Mk 1,15) Wörtlich spricht Jesus von der anbrechenden Gottesherrschaft, das heißt: Gottes Wirkmacht ist stärker als alle dunklen und zerstörerischen Kräfte. Das erste Wunder in der Synagoge von Kafarnaum ist darum auch eine Dämonenaustreibung, die das Wesen der anbrechenden Gottesherrschaft vor Augen führt: Die unfrei machenden, dämonischen Mächte verlieren ihren Einfluss auf die Menschen (Mk 1,21–28), die Dämonen bekennen Jesus als den Heiligen Gottes. Am Ende des Evangeliums zeigt sich in Jesu Auferweckung, dass die Kraft Gottes sogar stärker als der Tod ist.
- Der Weg der Nachfolge: Der Evangelist lädt seine Leser ein, sich mit den Jüngern zu identifizieren: Ob sie als blind dargestellt werden, oder Jesus gar verraten oder fliehen, ob sie beständig bei ihm bleiben wie die nachfolgenden Frauen – Jesus geht ihnen immer voraus, belehrt sie und nimmt sie mit bis zur letzten Begegnung in Galiläa (14,28; 16,7). Die Männer und Frauen, die so in der Nachfolge wachsen, laden die Hörer und Leserinnen des Evangeliums ein, trotz all der eigenen Unzulänglichkeiten immer neu Jesus vorangehen zu lassen.
Das Markusevangelium als spirituelle Lektüre
Die ersten christlichen Gemeinden haben in ihren Gottesdiensten gemeinsam heilige Schriften gelesen: vor allem Schriften unseres heute sogenannten „Alten Testaments“, dann auch die Paulusbriefe, nach 70 n. Chr. dann die erste Schrift der Gattung „Evangelium“ – das Markusevangelium. Die Schriftlektüre der ersten Gemeinden unterschied sich von unserer heutigen Praxis grundsätzlich. Die Schriften wurden in einer Art „Bahnlesung“ von Treffen zu Treffen von vorn bis hinten durchgelesen. Und wenn man hinten ankam, ging es wieder von vorn los, um sich die Inhalte einzuprägen, um Überlesenes neu zu hören, die Weisung der Schrift für das eigene Leben zu bedenken.
So wurde und wird bis heute im Judentum Tora gelesen: In einem Jahr vom Buch Genesis durch bis zum Buch Deuteronomium und dann das Ganze wieder von vorn beginnend. Das Markusevangelium scheint diese alte Leseweise schon durch sprachliche Anklänge aufzunehmen: Es beginnt wie die Tora mit den Worten „im Anfang“ (Mk 1,1; Gen 1,1) und endet wie diese mit der Verheißung zu sehen (Mk 16,7; Dtn 32,52; 34,4).
Eine Schrift ganz und wieder und wieder zu lesen, das ist auch die ursprüngliche Art und Weise, wie die Lectio Divina bei den Kirchenvätern und ab dem Mittelalter in den Klöstern geübt wurde. Dazu sind auch wir heute eingeladen, wo die Lectio Divina in unseren Breiten wiederentdeckt wird. Sie ist vielleicht auch eine geeignete Form, dass wir uns in diesen Krisenzeiten geistlich nähren. Denn gerade auch die Lectio Divina des gesamten Markusevangeliums ist ein Weg, die Gegenwart des Auferstandenen im Lesen der Schrift, im Meditieren, Beten und Schweigen zu erfahren.
Nah an den Wurzeln
Wenn wir nun vielleicht den Entschluss fassen, das Markusevangelium als biblisches Buch von vorn bis hinten für unseren Glauben und unser Leben meditierend zu lesen, dann begeben wir uns also zurück zu den Wurzeln, zu ganz frühen christlichen Leseweisen.
Das Katholische Bibelwerk bietet für das Markusevangelium für dieses Vorhaben mehrere unterstützende Materialien an:
Ein Lectio-Divina-Leseprojekt „Die Bibel lesen mit Herz und Verstand“ zum Markusevangelium für Gruppen: 7 Texte des Markusevangeliums werden in der Fassung der EÜ 2016 bei Gruppentreffen gelesen, die anderen Texte in Einzellektüre zwischen den Treffen. Zusätzlich bietet das Materialheft erklärende Texte zum Markusevangelium und zur Leseform der Lectio Divina.
Die Lectio-Divina-Bibel Neues Testament hat das Markusevan gelium mit Leseschlüsseln, einer Wortwolke und Lectio-Divina-spezifischer Einleitung für das spirituelle Lesen allein oder in der Gruppe aufbereitet. Vorn in der Bibel findet sich eine allgemeine Einleitung in die Leseform der Lectio Divina.
Man kann sich natürlich auch einfach so auf den Weg der Lectio Divina begeben: Die eigene Bibel nehmen und mit den folgenden Schritten der klassischen Lectio Divina das Markusevangelium Schritt für Schritt lesen – und das vielleicht sogar mehrmals? Dann könnte das Lesejahr B vielleicht der Beginn eines spirituellen Leseabenteuers werden …
DIE SCHRITTE DER KLASSISCHEN LECTIO DIVINA
- Nimm und lies (lectio) Lies den Text mehrfach, sammle Einsichten und studiere ihn: Was sagt der Text?
- Betrachte und bedenke (meditatio) Betrachte den Text mit Blick auf das Leben: Was sagt der Text mir?
- Sprich mit Gott (oratio) Antworte im Gebet auf das Gelesene, bete eventuell einen Psalm.
- Erhebe deine Seele/ Geh und handle (contemplatio/ actio) Lass alles los und verweile in Stille vor Gott. Überlasse dich der Wirkung des Wortes Gottes und lebe achtsam.