Eine unbedachte und gerade deshalb so verräterische Bemerkung auf einer Pressekonferenz, die ein ganzes Land erschüttert hat: Gott sei Dank – „Grâce a Dieu“ – seien die Fälle ja verjährt, so der kirchliche Vorgesetzte jenes Priesters, der sich Ende der 1980er Jahre in Lyon an jungen Pfadfindern vergangen hatte. Erschütternd ist das Ausmaß sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener, das da ans Licht kommt; erschütternd aber auch das Schweigen der Verantwortlichen, die über Jahrzehnte die „Fälle“ vertuscht und die Opfer vertröstet haben. „Gott sei Dank verjährt“? – Was für eine Perversion! Als ob Gott das Leid auch nur eines Menschen jemals vergessen könnte! Als ob er die Schuld eines Menschen auch nur einmal übersehen könnte! Was für ein Hohn, hier auf Verjährung zu hoffen! Denn das Leid, das Kindern durch sexuelle Gewalt zugefügt wird, verjährt nicht; es ist eine offene, schmerzende Wunde. Ein Leben lang.
„Grâce a Dieu – Gelobt sei Gott“, so der Titel des dokumentarischen Missbrauchsdramas, das 2019 auf der Berlinale gezeigt wurde, das seitdem in den Kinos in Deutschland und Frankreich lief und viele Menschen aufgerüttelt hat. Der Film, der sich kompromisslos auf die Seite der Opfer stellt, zeigt, wie wichtig es ist, dass man über das spricht, was einem widerfahren ist, was einem vielleicht wahnsinnig peinlich ist, worüber man vielleicht sein ganzes Leben lang noch nie gesprochen hat. In dieser Hinsicht darf man vielleicht tatsächlich sagen: Gott sei Dank wird aufgedeckt, aufgearbeitet und einer betroffenen Öffentlichkeit vor Augen geführt, wie sehr der sexuelle Missbrauch Minderjähriger unsere ganze Gesellschaft vergiftet. Es muss doch erschüttern, wenn der Europarat (!) schon vor Jahren die Kampagne „ONE in FIVE. Stop sexual violence against children“ auf den Weg gebracht hat: „EINS VON FÜNF (!). Und alle verfügbaren Daten deuten darauf hin, „dass etwa jedes fünfte Kind in Europa Opfer einer Form sexueller Gewalt ist. Es wird geschätzt, dass in 70 % bis 85 % der Fälle der Täter jemand ist, den das Kind kennt und dem es vertraut.“. Es ist erschütternd, dass in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit diese Zahlen bislang kaum zur Kenntnis genommen worden sind. „Sexuelle Gewalt gegenüber Kindern kann viele Formen annehmen: sexuellen Missbrauch im Familienkreis, Kinderpornographie und Prostitution, Korruption, Aufforderung über das Internet und sexuelle Übergriffe durch Gleichaltrige“, so ist auf der Website des Europarats zu lesen.
Doch es gibt berechtigte Hoffnung, dass die Dringlichkeit des Kinderschutzes vor sexueller Gewalt gegenüber Minderjährigen erkannt und auch systemisch aufgearbeitet wird, gerade auch in der katholischen Kirche, die sich nach der Veröffentlichung der Berichte und Studien über den sexuellen Missbrauch Minderjähriger aus ihrer Schockstarre gelöst zu haben scheint. Neben der schmerzlichen Aufarbeitung aller bekanntgewordenen Missbrauchsfälle, der Anerkennung des Leids der Betroffenen und angemessener Entschädigungen, sind auch auf der Ebene der Organisation entsprechende kirchenrechtlich bindende Normen und Verfahren auf den Weg gebracht worden. So erlässt Papst Franziskus nach der Einbestellung aller Vorsitzenden der Bischofskonferenzen weltweit mit dem Motu Proprio „Vos estis lux mundi“ (9.5.2019) u. a. erstmals Regeln für Untersuchungen gegen Bischöfe oder Kirchenobere, die Ermittlungen im Bereich Missbrauch vertuscht oder verschleppt haben. Zudem verpflichtet er alle Bistümer dazu, bis Juni 2020 ein leicht zugängliches transparentes Meldesystem für Anzeigen einzurichten. Doch es geht vor allem um eine Änderung des Bewusstseins und eine Kultur der Achtsamkeit innerhalb der „Organisation“ Kirche. Da gibt es nicht nur den (weltweit ersten) Master-Studiengang für Kinderschutz an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, sondern auch den flächendeckenden Aufbau von Präventionsbeauftragten in allen Bistümern weltweit: „So etwas Vergleichbares gibt es in keiner anderen Institution“, wie der Leiter des Kinderschutzzentrums, Prof Dr. Hans Zollner SJ, anmerkt.
Die französischen Bischöfe haben übrigens beschlossen, in den nächsten zehn Jahren zu Beginn ihrer Bischofskonferenz jeweils den Bericht eines Opfers sexueller Gewalt vorzulesen. Was immer danach besprochen oder entschieden wird, so die Intention, soll im Horizont des Bewusstseins geschehen, dass die Kirche immer auch eine Kirche der Sünder ist, die demütig vor allem die Gedemütigten im Blick haben muss. – All das sind erste Schritte, denen weitere folgen müssen. Aber vielleicht darf man an dieser Stelle doch zu Recht sagen: „Grâce a Dieu“ – trotz allem.