Kaum etwas hat die katholischen Diözesen Deutschlands in den letzten Jahrzehnten – abgesehen von Fragen des Machtmissbrauchs und der sexualisierten Gewalt – so beschäftigt wie die strukturellen Anpassungen. Mit ihnen versuchen Diözesen auf den Schwund von Mitgliedern, Ehrenamtlichen, hauptamtlichem Personal und in manchen Regionen auch auf den Verlust finanzieller Ressourcen zu reagieren. Zunächst einem unmittelbar plausiblen, oberflächlichökonomischen Prinzip folgend, werden dabei Großpfarreien gebildet, um im engen Rahmen des kirchenrechtlich Erlaubten pastorale Präsenz zu gewährleisten. Wohlhabende Diözesen können sich hier langsamere Anpassungen erlauben als diejenigen, die schon in guten Zeiten auf Transferleistungen angewiesen waren. Und sie können ihren Diözesanen für eine kleine Weile eine transparente Kommunikation dessen ersparen, was auch auf sie zukommen wird: Fusionen von Pfarreien, Kirchenschließungen mit entsprechenden Abriss- und Nachnutzungsszenarien sowie personelle Rückzüge aus bislang geschätzten Themenfeldern. Viele Kirchenmitglieder, deren Glaube und Engagement von der Gemeindetheologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt wurde, erleben diese Prozesse als schmerzhaft und kränkend. Nur wenige schaffen es, etwa in den neuen Spielräumen um Formen der Gemeindeleitung unterhalb der Pfarreiebene oder der dezentralen Etablierung neuer Gottesdienstformen eine Ermutigung zum kreativen Aufbruch auszumachen. So dominieren in einer emotional ausgesprochen angespannten Atmosphäre eher Resignation und Wut. Häufig überlagert depressive Stimmung die zarten Ansätze von missionarisch-kreativen Experimenten und den gut gemeinten Anliegen einer „lokalen Kirchenentwicklung“. Deshalb lohnt es sich, die herausfordernde Moderation solcher Strukturprozesse, die den Beteiligten in ihren unterschiedlichen Funktionen abverlangt wird, genauer in den Blick zu nehmen.
Ehrliche Bestandsaufnahmen sind Bestandteil von Leitung
In der Regel werden Gemeinden und Pfarreien zusammengeführt, die auf unterschiedliche Weise und an verschiedenen Stellen von Krisen geprägt sind. Gibt es eine dominierende, große Zentralpfarrei, sind die Ängste der kleineren Kooperationspartnerinnen schnell mit Händen zu greifen: Sie könnten in der Kooperation untergehen, an den Rand gedrängt und schließlich als verzichtbar angesehen werden. Doch auch die selbstbewusste Hauptpfarrei ist meist selbst kein kirchliches Paradies. Auch hier finden sich massive Überalterungen, Milieuverengungen und massive Rückgänge gemeindlicher Aktivitäten. Egal, ob der Grad der gemeindlichen Milieuverengung, die Vielfalt und Partizipation an der Liturgie, das Agieren in den kirchlichen Grunddiensten oder auch Öffentlichkeitsarbeit und Verkündigung als Kriterien für die Vitalität einer Pfarrei herangezogen werden. Meist wurden die vielfältigen Krisenphänomene in den vergangenen Jahrzehnten kaum wahrgenommen und noch seltener angesprochen. Dass diese Krisenphänomene schon der früheren Pfarreien kaum einmal offen kommuniziert und problematisiert wurden, um die damit einhergehenden Konflikte zu meiden, kann als Indiz kirchenspezifischer Leitungsdefizite markiert werden. Es gehört zu den kuriosen Elementen kirchlicher Kultur, dass beispielsweise Visitationen vielerorts nicht als Instrument der Leitung genutzt wurden und werden, um den vor Ort Verantwortlichen ehrliche Bestandsaufnahmen und eine Bearbeitung der Probleme zu ermöglichen. So kursieren stattdessen in den Ordinariaten die inoffiziellen, meist erschreckend kurzen Listen von Gemeinden und Pfarreien, die überhaupt noch für zukunftsfähig gehalten werden. Natürlich gibt es auch die Gemeinden mit jungem Altersdurchschnitt, agiler Ehrenamtlichkeit und dem positiven Eindruck, dass kirchliches Leben hier auch Spaß machen kann. Aber es ist eben eher die Ausnahme. Andernorts wird man sich einem jahrzehntelang eingeübten Selbstbetrug stellen müssen. Dies ohne überzogene Konfrontationen zu ermöglichen, gehört zu den Aufgaben, in denen sich Seelsorge und Leitungsverantwortung verbinden. Vielleicht liegt darin die geistliche Chance der Strukturmaßnahmen. Diese Situation bildet den Hintergrund, wenn Pfarreien in Verbünden kooperieren oder auch schrittweise zu einer ganz neuen Pfarrei fusioniert werden. Wo Bischöfe sich gegen diese bei Kirchenmitgliedern verbreitete Terminologie der Fusion wehren, ist auch ihnen ein ehrlicher Umgang mit Realitäten abzuverlangen.
Kirche, die sich mit sich selbst genügt
Die in den neuen Pfarreien und Pfarrverbünden notwendigen organisatorischen Details können indes Gremien und Hauptamtliche über viele Monate und sogar Jahre beschäftigen. Manche Diözesen geben in besonders emotionalen Themenfeldern Richtlinien vor, was die Heftigkeit und Zahl von Konflikten reduzieren kann. Dies gilt etwa bei der Namensgebung einer neuen Pfarrei, dem Wohnsitz des leitenden Pfarrers an der künftigen Pfarrkirche oder der Strukturierung eines zentralen Pfarrbüros mit kleineren Außenstellen. Die Regelung von Gottesdienstzeiten, die im Idealfall ein Minimum an Verlässlichkeit bringt und mit Ermutigungen zu neuen liturgischen Formen von Wort-Gottes-Feiern begleitet wird, entsteht meist in kräftezehrenden Aushandlungsprozessen. Wo es dabei zu wechselnden Gottesdienstzeiten in wöchentlichen oder monatlichen Rhythmen kommt, erfolgt indirekt eine endgültige Beschränkung auf den Binnenzirkel der hochidentifiziert Engagierten. Weitere Herausforderungen stellen sich in der Koordination von pastoralen Aufgabenfeldern und Zuständigkeiten in neuen Teamkonstellationen. Welche Herausforderungen in diesen Dynamiken entstehen, ist auch für Außenstehende meist schnell erkennbar. Sie führen nicht selten dazu, dass Fürsorgepflichten gegenüber Mitarbeiter/-innen und auch Ehrenamtlichen vernachlässigt werden oder einzelne Teamkolleg/- innen die direkten Kontaktflächen zu Kirchenmitgliedern und Mitbürger/-innen erkennbar reduzieren. Gemeindeleitungsmodelle nach can. 517 §2 (CIC/1983) oder zumindest kirchortsbezogene Zuständigkeiten bleiben bislang in den meisten Diözesen unberücksichtigt, dienen aber gerade der erkennbaren Präsenz personaler Seelsorgeangebote und verbreitern die Kontaktflächen für professionell- hauptamtliche Begleitung. Die Reihe emotionaler Konfliktthemen, auch über Administrations- und Personalfragen hinaus, ist lang und endet meist nicht bei den finanziellen Rücklagen der früheren Pfarreien. Diözesane Vorgaben können sehr hilfreich sei, um die Kräfte für Kompromissfindungen vor Ort nicht zu überfordern. Das gilt vor allem dann, wenn sie auf konkreten Erfahrungen in diözesanen Projekt- und Experimentpfarreien aufbauen können und nicht bloß Ausdruck eines zentralistischen Habitus sind.
Wenn Kirche sich ordentlich verwaltet
Die Gefahren dieser Strukturprozesse liegen meist auf der Hand, werden aber nur selten auch vor Ort diskutiert. Sie sind neben den persönlichen Verletzungen gerade in der Dominanz kirchlicher Administration auszumachen. Diese wird in den Themen gemeindlicher Gremien ebenso sichtbar wie in den realen Aufgabensettings von Hauptamtlichen, die als Theolog/- innen und Religionspädagog/- innen auf ganz andere, eben seelsorgliche Tätigkeiten vorbereitet waren. Dieser Tendenz zur Administration versuchen wohlhabende Diözesen mit der Installation einer gänzlich neuen Berufsgruppe, den Verwaltungsleiter/- innen von Pfarreien, zu begegnen, die auf der Basis betriebswirtschaftlicher Ausbildungen die Pfarrer, Gemeindeleiter/- innen und Gremien in den administrativen Aufgaben eines unüberschaubaren Immobilienbestandes, des Managements mehrerer Kindergärten und Friedhöfe und den Belangen der Personalführung unterstützen sollen und als Geschäftsführer/- innen fungieren. In vielen Großpfarreien werden solche Hilfen geradezu ersehnt. Das Ergebnis dürfte angesichts rückläufiger Studierendenzahlen in Theologie und Religionspädagogik und demgegenüber der mancherorts noch ansteigenden Zahl von Mitarbeiter/- innen in den diözesanen Verwaltungen jedoch eine Kirche sein, die durch die nächsten Jahrzehnte vorbildlich verwaltet bleibt. Das Abgründige dieser Situation einer zugleich in theologischer und religionspädagogischer Kompetenz armen, aber in ihren Verwaltungsabläufen funktionierenden Kirche wird bislang kaum diskutiert. Es wird entscheidend darauf ankommen, auch bei einem Rückgang der entsprechenden pastoralen Berufsgruppen eine Präsenz theologischer und religionspädagogischer Kompetenzen vor Ort zu gewährleisten und diese mit neuen Konstellationen von nebenberuflichen und ehrenamtlichen Profilen zu verbinden. Dazu ist jedoch der Effekt einer über Jahre mit eigenen Strukturprozessen und Organisationsfragen beschäftigten Kirche als eine massive Deformation an ihrem eigenen Sendungsauftrag auszumachen.
Entscheidende Irritation mit drei Fragen
Aufgrund örtlicher und regionaler Spezifika erscheint es kaum sinnvoll, in den Leitungsfragen von Strukturprozessen allgemeine – und damit oberflächliche – Tipps zu formulieren. Gegenüber solchen Hinweisen zu gelingender Leitung auf Pfarrei- und Dekanatsebene entstehen zu Recht schnell Abwehrreaktionen. Deshalb soll hier lediglich ein Element herausgestellt werden, das als zentrale Aufgabe der Leitungspersonen zu gelten hat und dennoch häufig übersehen wird: die Rückbesinnung auf den solidarisch-dienenden Charakter kirchlichen Lebens. Gerade in einer kirchlichen Entwicklungsphase, in der die Bearbeitung kirchenspezifischer, administrativer Belange zu dominieren droht, erscheint es als zentral in allen Gremien und Teambesprechungen von Haupt- und Ehrenamtlichen, mindestens jährlich einen Bruch mit den üblichen Verwaltungs- und Organisationsthemen zu suchen und eine Vergewisserung über die Ausrichtung des haupt- und ehrenamtlichen Engagements zuzumuten. Dazu kann der folgende Dreischritt hilfreich sein. Zunächst ist die Frage aufzuwerfen: „Was beschäftigt eigentlich die Menschen derzeit in der Region und den Stadtteilen jenseits von Gemeinde- und Konfessionsgrenzen vor Ort?“ Wo dieser Frage mit der gebührenden Zeit und variierenden Instrumentarien der Sozialraumerkundung, der Soziologie oder auch der Ethnografie nachgegangen wird, mündet sie in die zweite Frage: „Wie könnte unser Beitrag als Pfarrei im Umgang mit diesen Themen konkret aussehen, um mit unseren Kräften und Möglichkeiten Hilfen anzubieten?“ Natürlich droht an dieser Stelle das übliche Konzert von kirchlichen Statements im Modus des „man müsste“ und „man sollte“. Sie werden schnell mit der floskelhaften Gegenfrage weggewischt: „Was sollen wir denn noch alles machen?!“ Doch hier geht es nicht einfach um eine maßlose Ausweitung des Aufgabensettings mit zu erahnenden Überforderungen. Es geht vielmehr um eine Wahrnehmungskunst, um die konkreten Antworten dann in den bestehenden Tätigkeitsfeldern aufzugreifen. Um außerdem die zwei Fragen von Gegenwartsanalyse und kirchlicher Reaktion darauf mit der gebotenen Ernsthaftigkeit und als wichtiges Element zur kirchlichen Entwicklung begreifen zu können und entsprechend in den gemeindlichen Kontexten immer weiter zu etablieren, braucht es eine dritte Frage, die als Kontrollmechanismus fungiert: „Ist gewährleistet, dass die Pfarrei und Gemeinde selbst keinerlei Gewinn aus den konkreten Ideen erzielt?“ Diese Kontrollfrage ist in kirchlichen Kontexten ungewohnt und unüblich und müsste doch zu ihrem Standard gehören. So selbstverständlich wird mancherorts davon ausgegangen, dass der Einsatz für die Gemeinde etwas ist, das dem ganzen Menschheitswohl dient, dass sich dahinter problematische Mechanismen der Selbsterhaltung verstecken. Dann werden Jugendarbeit und Sakramentenpastoral mit gemeindlichen Rekrutierungserwartungen versehen und soziale Anliegen als Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit umfunktioniert. Und unter der Hand entwickeln sich alle pastoralen Aktivitäten zu Elementen des kirchlichen Selbsterhalts. Um diese Logik des institutionell-gemeindlichen Eigennutzes zumindest punktuell zu durchbrechen, vermag die Kontrollfrage und ihre Ausrichtung auf die Uneigennützigkeit pastoralen Handelns zu einem wichtigen Korrektiv zu werden. Der skizzierte Dreischritt als wertvolle Irritation jenseits organisationaler Zwänge wäre eine der wichtigsten Aufgaben, die mit der Leitung von Pfarreien, Gemeinden und auch Einrichtungen und der Moderation ihrer gegenwärtigen Strukturprozesse verbunden ist. Mit ihm geht die Relativierung mancher Kirchenorganisationsfragen und Konflikte einher – und die Erinnerung an den dienenden und solidarischen Charakter gelingenden kirchlichen Lebens.