Seit geraumer Zeit kursieren in der Pastoraltheologie und in Seelsorgeämtern der Diözesen Anleitungen zu einem Blickwechsel, bisweilen sogar Paradigmenwechsel: ermöglichen statt vorgeben, freigeben statt kontrollieren, Religion2go statt Integrationsabsichten, entdecken statt weitergeben, beteiligen statt vorsetzen. Alles schöne Theorien, von denen man bislang glauben konnte, dass sie erstens gar nicht wirklich gewollt sind und zweitens auch deshalb nicht greifen. Sie wurden eher halbherzig an den vielen kirchlichen Orten und in den Ordinariaten betrieben: ermöglichen, ja, aber doch innerhalb der bisherigen Grenzen; freigeben, ja, aber mit Bauchweh; religiöse Kompetenzen stärken, natürlich, aber doch mit der Aufforderung verbunden, sich in der Gemeinde zu beheimaten; den Glauben bei den Menschen entdecken, sehr gut, aber er soll so bleiben, wie er ist; beteiligen, gern, aber möglichst im „alten“ Ehrenamt.
Was bislang als Theorie gedacht und für die Praxis mit Vorbehalten verbunden war, ereignet sich in Zeiten von Corona an vielen Orten: Christen und Christinnen nehmen ihr Christsein in die Hand. Sie gestalten z. B. eigenständig eine Osternacht, indem sie im Garten ein Osterfeuer entzünden und sich freuen, dass die Nachbar/-innen desgleichen tun. Sie singen und musizieren über den Gartenzaun hinweg (Kirchen-)Lieder. Am Ostermorgen unternehmen sie einen Familienspaziergang und lesen auf der Anhöhe das Osterevangelium, andere stimmen bei Sonnenaufgang das Halleluja an. Mit den Kindern backen sie Osterlämmer und basteln Fahnen, segnen das Lamm und essen es gemeinsam. Sonntags setzt man sich in der Familie zusammen, lässt die Woche Revue passieren, singt und betet und eines der Kinder liest eine Jesusgeschichte aus seiner Kinderbibel.
Wer Unterstützung braucht, bedient sich im Internet. Zum Glück haben ja gefühlt alle Pfarreien, Dekanate und Diözesen haufenweise Material zur Verfügung gestellt und bieten weiterhin wöchentlich ein breites Portfolio im Sinne des Ermöglichens und Freigebens. Dabei entscheiden die Christen und Christinnen selber, wie viel Unterstützung sie brauchen und wie frei sie mit den Angeboten umgehen. Die einen suchen sich gestreamte Gottesdienste, Andachten oder Videoimpulse, die anderen verwenden digitale Vorlagen, wieder andere gestalten frei und machen mit Hilfe der angebotenen Bausteine ihr eigenes Ding. All diese Varianten ermöglichen neue Freiheiten: der Radius der Nutzungsmöglichkeiten wird viel größer, man bestimmt selbst die Gottesdienstzeit, kann Teile auswählen, und entscheidet über den geeigneten Rahmen. „Wir schauen beim Frühstück rein, hören uns die Predigt an und schalten dann wieder ab“, so eine Frau, die zu normalen Zeiten nicht zur Messe geht.
Die Rollen wandeln sich. Wer jetzt schreibt oder ins Mikrophon spricht und in die Kamera schaut, muss an User/-innen denken, die jederzeit an- und abschalten können. Die Sprache muss menschennah und die Botschaft glaubhaft sein, sonst droht der finale Klick. Liturge bzw. Liturgin sowie Hörer/ - innen rücken – trotz zwischengeschalteter Medien – näher zusammen, hören aufeinander und sind mehr denn je aufeinander angewiesen, damit die Botschaft ankommt. Die Sprache wandelt sich, die Botschaft auch.
Ermöglichen statt vorgeben und nicht wieder zurück
Die Verantwortlichen in den Diözesen und Gemeinden denken hoffentlich: Hätten wir unsere Mitglieder doch noch mehr befähigt, hätten wir ihnen doch noch mehr religiöse Kompetenz mitgegeben (Religion2go), damit sie genau dies jetzt tun können – eigenständig in der „Hauskirche“ Gottesdienste feiern, über Bibeltexte sprechen, Brot segnen, gemeinsam Meditieren, Rituale entwickeln. Ich fürchte aber, die Verantwortlichen denken stattdessen: Warum braucht uns niemand? Zum Glück haben wir uns in der Zeit der Lockerung der Maßnahmen die Genehmigung zu Gottesdiensten erstritten, damit wir wieder gebraucht werden, wieder vorgeben und integrieren können.
Doch es gibt keinen Weg zurück. Den Blick- oder Paradigmenwechsel lassen sich die Christen und Christinnen nicht mehr nehmen. Die Pastoral an allen Orten muss die ins Laufen gekommene Theorie jetzt mit vollem Herzen umsetzen: Christinnen und Christen ermächtigen, ihr Christsein zu leben und sie genau darin zu unterstützen. Matthias Sellmann hat dies auf den Punkt gebracht: „Denn das Ziel des Christseins ist nicht die Bildung von Kirche; sondern das Ziel von Kirche ist die Entwicklung von Christsein.“ Wenn die christliche Religion wie alle Religionen aus den fünf Subsystemen Weltanschauung (Theologie), Ethik, Liturgische Ordnung, institutionelle Verfassung und Spiritualität besteht, dann bezieht sich der Paradigmenwechsel auf alle fünf. Christen und Christinnen sind nicht nur zu ermächtigen und zu unterstützen, ethisch zu handeln, sondern auch Leutetheolog/-innen zu sein, Rituale zu feiern und zu leiten, eine für ihren Alltag taugliche Spiritualität mitzuentwickeln und die Organisation mitzugestalten.
Die Gemeinde und die Hauskirche dürfen dabei nicht gegeneinander ausgespielt werden. Auch andere kirchliche Orte werden durch diese neue Bewegung nicht überflüssig, es werden auch wieder Wallfahrten stattfinden und Kurse in geistlichen Zentren, aber zum einen muss die Theorie, die jetzt ins Laufen kam, an all diesen Orten umgesetzt werden. Es geht immer ums Ermöglichen und Freigeben, um Religion2go und um Ermächtigung. Zum anderen muss die „Hauskirche“, müssen alternative Versammlungsorte pastoral im Fokus sein. Christen und Christinnen sind durch Taufe und Firmung geistbegabt, sie sind Subjekte christlichen Handelns und Denkens, christlicher Spiritualität und Liturgie, sie vermögen, Theologie zu treiben und zu segnen. Die Teilhabe aller an den drei Ämtern Christi – Priester/-in, Hirte/Hirtin, Prophet/-in – ist das theoretische Fundament, das jetzt endlich in die Umsetzung kommt. O-Töne lauten z. B.: „Hoffentlich gibt es auch nach Corona diese wöchentlichen Gottesdienstvorlagen für Familien, denn wir wollen das weiter machen.“ „Ich war auf einmal viel mehr beteiligt.“ „Als wir das Brot segneten, sind wir kurz erschrocken, aber wir dürfen das doch.“ Der Neutestamentler Benjamin Schließer fragt daher beim Innovationstag FreshX 2019: „Was hindert uns daran, dort zu sein, wo sich das Leben der Menschen abspielt? Weshalb sollten wir nicht wieder provozieren mit unseren Versammlungsorten?“ – wie in der Urkirche, in der sich Christusgruppen in Privat- und Mietshäusern, Werkstätten, Gewerberäumen und Wirtshäusern trafen.
Wozu Kirche da ist – praktische Antworten auf die Gretchenfrage
Die aktuellen Prozesse der Kirchenentwicklung in den meisten deutschsprachigen Diözesen können die Corona-Krise als Kairos nutzen, ohne zu übersehen, dass die schlimmen Seiten der Krise überwiegen. Man darf sie nicht schönreden, und wer betroffen ist, weiß das und erzählt es zum Glück weiter. Auch Tomáš Halík hat jüngst in seinem viel beachteten Artikel in Christ & Welt von einem Kairos gesprochen: „Vielleicht sollen wir das jetzige Fasten von den Gottesdiensten und vom kirchlichen Betrieb als einen kairos annehmen, als eine Zeit der Gelegenheit zum Innehalten und zu einem gründlichen Nachdenken vor Gott und mit Gott. Ich bin überzeugt, dass die Zeit gekommen ist, in der man überlegen sollte, wie man auf dem Weg der Reform weitergehen will, von deren Notwendigkeit Papst Franziskus spricht: weder Versuche einer Rückkehr in eine Welt, die es nicht mehr gibt, noch ein Sichverlassen auf bloße äußere Reformen von Strukturen, sondern eine Wende hin zum Kern des Evangeliums, ein ‚Weg in die Tiefe‘“. Die Kirchenentwicklungsprozesse in den Diözesen sind immerhin bereits bei der Frage nach dem Wozu gelandet: Wozu sind wir Kirche? Wozu sind wir Kirche an diesem Ort? In den Ordinariaten, Fakultäten und Gemeinden mehr oder weniger erfolgreich mit theoretischen Antworten beschäftigt, gibt es jetzt auch diesbezüglich praktische.
„Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts.“
Dieses geflügelte Wort des französischen Bischofs Jaques Gaillot fällt mir ein, wenn die Wozu-Frage angesichts der Corona-Krise gestellt wird: Welchen Dienst bietet Kirche den Menschen, die krank, einsam, gefährdet oder ängstlich sind? Welchen Dienst bietet sie der verunsicherten Gesellschaft? Als Antwort kann sie auf die zahlreichen Dienste der organisierten Caritas verweisen, das ist Kirche, wie sie jetzt gebraucht und sichtbar wird. Allerdings ist darüber kaum etwas zu lesen. Die Kirchen sind vor allem in den Schlagzeilen, weil sie mit „Wehleidigkeit“ auf die Gottesdienstverbote reagieren, wie kürzlich der Journalist Paul Kreiner in der Stuttgarter Zeitung konstatierte. Einen wichtigen Dienst leisten die professionellen Seelsorger/-innen in den Krankenhäusern und in den Gemeinden, die z. B. unter den gegebenen Bedingungen würdige Beerdigungen ermöglichen müssen. Aber auch sie sollten in Interviews der Presse nicht darüber klagen, sondern den Menschen signalisieren, dass dies möglich ist. Die Seelsorgehotlines der Gemeinden, Dekanate und der Diözese, so hört und erlebt man, werden weniger genutzt. Auch im Blick auf die Wozu- Frage verschiebt sich die Perspektive: Die Antwort geben die vielen verschiedenen Dienste, die jetzt Christen und Christinnen an allen Orten füreinander leisten – indem sie im Alltag einsame oder kranke Menschen anrufen, Einkäufe für sie erledigen, über den Zaun Gespräche führen, Briefe schreiben, einander Mut zusprechen, auf Onlineangebote hinweisen und füreinander beten; indem sie beruflich an der Kasse sitzen, im Altenheim arbeiten oder sich als Bürger/-innen anderweitig nützlich machen, damit diese Gesellschaft und ihre Wirtschaft weiter bzw. wieder funktionieren können. Die Christen und Christinnen landauf landab – und man muss mit Karl Rahner noch die anonymen Christ/-innen hinzunehmen – beantworten die Frage auf das Wozu der Kirche praktisch: indem wir füreinander da sind und uns mit denen vernetzen, die denselben menschlichen Auftrag verspüren. Dieses Christsein im Alltag, wie es konkret geht, wie es unterstützt werden kann, wo man darüber ins Gespräch kommen kann, um sich in schwierigen Fragen und Aufgaben gegenseitig zu unterstützen, das wäre das wichtigste Thema in den Gremien der Kirchengemeinden, in den Sitzungen kirchlicher Orte bis zum Bischöflichen Ordinariat – aber wieder nicht nur im ethischen Sinn, sondern auch rituell, spirituell und theologisch.
„Du bist nicht allein.“
Die praktische Antwort vieler Christen und Christinnen provoziert auch die Gretchenfrage nach der Botschaft. Weil das gesamte Pfarreiprogramm nicht mehr stattfindet oder nur noch eingeschränkt möglich ist, weil die Ablenkungen wegfallen, die Kirche von sich selber wegführen, ist sie zurückgeworfen auf den Kern. Weil jede/-r allein zu Hause ausharrt und sich auch die Kirche über das Internet ins Spiel bringen muss, schält sich ein einfacher Kern heraus: Du bist nicht allein. Erstens: Gott ist einer, der bei dir bleibt – in Einsamkeit und Krankheit, in Angst und Unsicherheit, und auch im Sterben. Zweitens: Gott in seiner Gegenwart verbindet uns untereinander – im Gebet, im Aneinanderdenken, im Füreinanderdasein; und diese Verbindung, so glauben und hoffen wir, bleibt auch über den Tod hinaus bestehen. Die Kirche hat in der Corona-Krise die Möglichkeiten des Internets erst so richtig entdeckt, diese Botschaft ins Wohnzimmer und Krankenzimmer hinein zuzusagen. So schreibt beispielsweise eine Frau, dass sie sich über eine abendliche Hoffnungszeit im Netz mit ihrer Mutter im Altenheim täglich im Gebet verbindet und verbunden fühlt. Alle Streamings von Gottesdiensten haben hoffentlich vor allem diese Absicht, genauso die vielen kleinen Impulse rund um Evangelium und Gebet, nämlich die Menschen miteinander zu verbinden, die nicht beieinander sein können. Auch das Glockenläuten am Abend in vielen Kirchen der Diözesen oder die Übertragung des Gebetsrufs des Muezzins über kommunale Lautsprecher während des Ramadan in Rottenburg und hoffentlich auch anderswo sagen schlicht das eine: Du bist nicht allein. Gott ist da; wir Christen und Christinnen, wir Religiösen sind mit Gott untereinander verbunden und so mit dir.
Eine organisierte Kirche ist zukünftig als Impulsgeberin nicht nur deshalb wichtig, damit Menschen zu dieser gegenseitigen Zusage angeleitet und ermächtigt werden, es braucht sie auch, damit diese Zusage gesellschaftspolitisch übersetzt wird und in den Systemen säkulare Relevanz gewinnt. Der Kairos der Krise ist auch ein „Prozess der Arbeit am Allgemeinen“, wie Andreas Reckwitz ihn fordert und wie er meines Erachtens praktisch begonnen hat. Solidarität und Kooperation werden gerade über Grenzen hinweg praktiziert und gleichzeitig strapaziert, so dass der begonnene Diskurs über Werte im Widerstreit – provokativ von Boris Palmer, besonnen von Wolfgang Schäuble, differenziert von Franz-Josef Overbeck – die Chance bietet, gemeinsam auszuhandeln, welche Werte einer Gesellschaft zugrunde liegen sollen, die prinzipiell alle einbezieht und auch die folgenden Generationen im Blick hat. Dazu könnten die Kirchen etwas beitragen, nicht nur inhaltlich, sondern auch als Orte des Diskurses, aber nicht um etwas für sich zu gewinnen, sondern als Dienst an der Gesellschaft.
Die Krise als Katalysator für eine Kirchenentwicklung, die viele bisher nur gedacht haben, jetzt aber erzwungen ist. Das ist der Gewinn der Kirche in der Krise: die Seelsorger/- innen werden pastoral freigebender und medial einfallsreicher, die Christ/-innen im Umgang mit der Botschaft mündiger und das Karitative rückt in die Mitte. Die Kirche als Institution hat jetzt die Chance, das Gute im Licht des Evangeliums gerade in der Krise und in der Bedrohung durch Populisten entschieden zu formulieren, Kirche in der Anwaltschaft des menschlich Allgemeinen und der Leidtragenden. Wenn das nicht genügend Perspektiven sind für eine sich erneuernde Kirche in der Krise und durch die Krise.
FAZIT
Wenn die Kirche auf den Kopf gestellt wird, dann kommen die aktuellen Theorien der Kirchenentwicklung ins Laufen. Was Programme in Glanzbroschüren über Jahre nicht schafften, ereignet sich in den Häusern der Christinnen und Christen und an den Orten, wo sie sich solidarisieren, vernetzt kooperieren und andere unterstützen. Mit Hilfe des Internets und aufgrund von Taufkompetenz und Charismen gestalten Christen und Christinnen ihr religiöses Leben in allen Bereichen selber: Ethik, Theologie, Spiritualität und Rituale. Die Institution Kirche muss sich darauf fokussieren, wie sie dieses „autonome“ Christsein zukünftig besser unterstützt.