Fazit
Es ist längst nicht ausgemacht, ob der Synodale Weg zu einem gemeinsamen Aufbruch der Kirche führt oder ob er erneut Enttäuschungen zementiert. Es wird wichtig sein, kommunikativ viele mitzunehmen, damit sie Erfahrungen machen, die sie und dadurch auch die Kirche verändern.
Kirche im Aufbruch – seit wann ist eine solche Formulierung aktuell? Menschen der letzten 100 Jahre werden sie immer wieder gewählt haben und bald danach war sie wieder in der Versenkung verschwunden. So erleben es immer wieder die Protagonisten des Aufbruchs. Und schon in einer solchen Bewertung stecken unterschiedliche kirchenund zeitgeschichtliche Einordnungen:
Vor gut einhundert Jahren: Aufbruch in Bibelbewegung und Liturgischer Bewegung: Kirche erwacht in den Seelen. Etliche Menschen beginnen leidenschaftlich, ihren Glauben zu teilen und wollen keine Klerusliturgie mehr, sondern actuosa participatio. Es dauert bis zum Vaticanum II, bis dies offiziell bestätigt wird, und es ist bis heute keine selbstverständliche und alle erfassende Praxis.
Vor 75 Jahren: Aufbruch nach den Bedrängnissen des Nationalsozialismus – wenigstens in der einen Hälfte Deutschlands: Kirche und Glaube wird als Orientierung gebende Form mit klarer (auch hierarchischer) Autorität akzeptiert. Zugleich beginnt die individuelle Praxis, sich mehr und mehr von autoritären Strukturen und Normen zu verabschieden.
Vaticanum II: Aufbruch der Kirche: Die Fenster werden aufgestoßen. Die Kurie verliert ihr Monopol, Kirche wird internationaler und ökumenischer: Anerkennung der Weltreligionen in ihrem eigenen Wert, Verantwortung für alle Menschen, nicht nur Sorge um die eigenen „Schäfchen“. Rezeption der Liturgischen Bewegung. Aber: Viele Hoffnungen trügen: Die Liturgiereform bewirkt keine Wunder. Die Religionsfreiheit wird von vielen nicht rezipiert. Die Mitwirkung der Laien in der Kirche stößt an strukturelle und personale Grenzen.
Nach „Humanae Vitae“: Aufbruch in der Würzburger Synode. Sie sollte – wenn auch unter anderen juristischen Bedingungen – fast Vorbild des Aufbruchs heute sein. Viele schaffen es in einen fruchtbaren Dialog zu kommen. Es werden Positionen abgesteckt, die viel verändern (siehe: Jugendarbeit, Religionsunterricht, Gemeindekatechese, Rätestrukturen, Laienpredigt, Pastorale Berufe), die zugleich aber auch stecken bleiben, vor allem in weltkirchlich relevanten Fragen. Dies hängt aber auch damit zusammen, dass neue Verantwortungsträger, Kardinal Joseph Höffner als Vorsitzender der Bischofskonferenz, diese Veränderungswünsche nicht mehr nachdrücklich einforderte, war er doch selber kritisch zur Synode gestanden. Schon in Würzburg hatten sich bestimmte Personen, z. B. Joseph Ratzinger, aus der Kommunikation und dem Dialog herausgezogen.
Gemeindebewegung: Aufbruch in der lebendigen Pfarrfamilie und Pfarrgemeinde, die für ein Jahrzehnt viele Menschen in Aktivitäten der Gemeinden einbezieht. Zugleich schwinden weiter die, die sich fest an die Kirche binden und die, die ihren Beruf und ihre Berufung in den bisherigen Strukturen annehmen.
Aufbruch: Politische Wende mit dem Fall der Mauer und kirchlicher Aufbruch „Wir sind das Volk“. Deutsche politische Wiedervereinigung und doch bleibende Spaltung. Vergeblicher Aufstand des Kirchenvolkes. Er prallt ab an römischen Zentralisierungsmaßnahmen und der Solidarisierung vieler Bischöfe mehr mit Rom als mit dem Kirchenvolk vor Ort.
Abbruch: Das Bekanntwerden der Missbrauchsfälle und der Vertuschung in einem geschlossenen klerikalen Männersystem sorgen für einen massiven Abbruch des Vertrauens und der Kirchenbindung vieler Gläubiger. Zugleich beginnt eine Phase, in der die Bischöfe ihre Verantwortung wahrnehmen und sehen, dass es neue Formen der Gemeinschaft und des Vertrauens mit allen Kirchenmitgliedern braucht. Ein Dialogprozess verändert die Gesprächskultur, verschärft aber dort die Enttäuschung, wo er unverbindlich bleibt. Der Synodale Weg versucht dieser Enttäuschung entgegenzuwirken.
Wer bricht auf? Vertrauensbildende Erfahrungen
Etliche Menschen brechen auf. 230 Menschen machen sich auf den Synodalen Weg. In etlichen Diözesen sind viele eingebunden in Strukturveränderungen und pastorale Schwerpunktsetzungen. Es wird wirklich daran gearbeitet, dass die Kirche als Kirche der Beteiligung aufbricht. In der Breite unserer Kirche ist dieser Aufbruch jedoch noch kaum angekommen. Der Aufbruch wird zum Teil zurückgewiesen, vor allem dann, wenn er in konkreter Lebens- und Pfarreisituation Folgen zeitigt, die nicht allen gefallen.
Wer bricht auf: Am Beispiel des Synodalen Wegs ist es zu erkennen.
- Die Bischöfe und die kirchenleitenden Personen brechen auf: Sie spüren mehr und mehr, dass das Agieren im geschlossenen Raum und unter Betonung der je eigenen Macht den Vertrauensverlust zementiert. Aus dem Skandal des sexuellen Machtmissbrauchs kommen sie nicht alleine heraus. Sie brechen auf. Aber auch nicht alle. Immer wieder werden Stimmen laut, die diesen Aufbruch als Irrweg sehen. Sie fürchten, dass die ewige Wahrheit und die Treue zum Heiligen Stuhl durch die Mitverantwortung anderer gefährdet wird.
- Verantwortliche in vielen Funktionen des Laienkatholizismus, aus den Diözesanräten und den katholischen Verbänden. Sie engagieren sich zum Teil schon seit Jahrzehnten in ihren Aufgaben, prägen an wichtigen Schaltstellen das Bild und Wirken der Kirche in der Öffentlichkeit – zugleich gelingt ihnen, wie den Bischöfen, längst nicht immer die Nähe zum Kirchenvolk oder gar zu allen Menschen guten Willens. Die Solidarität der „Basis“ mit ihnen ist relativ, die Kommunikationsbrücke von ihnen zur Basis trägt selten.
- Bekannte Persönlichkeiten – nicht Lieschen Müller – sondern Verantwortungsträger/-innen in Wissenschaft, Politik, Medien, Ökonomie. Nicht selten sind diese Zuberufenen auch Stellvertreter für bestimmte kirchenpolitische und theologische Positionen.
Viele Menschen tragen Verantwortung mit, mit unterschiedlichen Motiven: Ungeduldige und Bremser, Skeptische und Optimisten. Die Nähe und Solidarität zum Gottesvolk und zum Heiligen Stuhl wird jeweils ihr Handeln bestimmen. Ob es gelingt, ihr Handeln zu einem Aufbruch der ganzen Kirche zu verwandeln, ist fraglich: Kommunikation und Überzeugungskraft müssen entfaltet werden.
Kritisch wird auch wahrgenommen, dass durch die Zahl der geweihten Männer die Frauen in deutlicher Unterzahl sind. Das ist heute kaum mehr vermittelbar.
Dennoch geschieht ein Aufbruch für sie als Beteiligte: Ihre Begegnungen auf Augenhöhe, informelles Zusammensein, persönliche Nähe können wesentlich dazu beitragen, dass Meinungsblasen platzen, dass festgefügte Urteile sich relativieren, dass das Vertrauen für einen gemeinsamen Weg wächst.
Gemeinsames Verstehen
Wir hören einander zu. Wir gehen nicht mit einem vorgefassten Urteil in einen Prozess. Wir versuchen, die Angst – woher auch immer sie kommt – zu überwinden. Solche Haltungen tragen dazu bei, dass wichtige Veränderungen neu verstanden werden. Es kommt auf die gewillte Gemeinsamkeit an, die wichtiger ist als die demokratische Parteienbildung und gegenseitige Abgrenzung und das Überstimmen. Grundlagenarbeit ist zu leisten für die jeweiligen Entscheidungen.
„Roma locuta, causa non finita“ (Rom hat gesprochen, die Sache ist nicht entschieden), das war schon Ende der 1970er Jahre ans Tübinger Wilhelmsstift gesprayt. Es ist nicht so, dass die Bischöfe und die Kurie einen reineren und zentraleren Zugang zum Verstehen einer Sache haben. Um in unserem Glauben etwas zu verstehen, wird es wichtig sein, viele Quellen, die auch Polaritäten darstellen, in den Zusammenklang zu bekommen:
Der Glaubenssinn des Volkes Gottes und die Tradition der kirchlichen Lehre.
Die biblische Überlieferung, in der Deutung aus ihrer Zeit und die wissenschaftliche Erkenntnis der Lebenszusammenhänge heute.
Die Wahrung der Einheit der Kirche und die Pluralität der Kulturen.
Gerade Vertreter des Lehramtes müssen mehr denn je eingestehen, dass die autoritative Feststellung dessen, was „göttliches Recht“ sei oder „Naturrecht“, nicht ausreicht, wenn nicht Begründungszusammenhänge transparent werden, die entsprechende Positionen rechtfertigen.
Verschiedene Verantwortung
In diesem Verständigungsprozess tragen die einzelnen Rollenträger unterschiedliche Verantwortung. Gerade die Bischöfe werden ihrer pontifikalen Brückenbaueraufgabe erst gerecht, wenn sie in ihrer Person die Hirtensorge für das Volk Gottes und die Gemeinschaft mit der Weltkirche immer neu ausbalancieren und zur Sprache bringen. Sie sind nicht einfach Ausführungsorgane der Kurie und sie sind nicht einfach Vertreter ihrer Diözesen mit imperativem Mandat der Mehrheiten. Diese Verantwortung kann und muss sich auch in den Diskussionen des Synodalen Weges zeigen.
Vertreter der Verbände und der Diözesen haben jeweils den spezifischen Hintergrund ihrer Tätigkeiten und Verhältnisse. Wer sich spezifisch den Frauen der Frauenverbände verpflichtet sieht, hat andere Verantwortung und politische Agenden als diakonische oder traditionell aufgestellte Vereine. Wer aus einer finanziell reichen und großen Diözese des Westens stammt, hat andere Erfahrungen als diejenigen, die aus einer kleinen armen Diaspora-Diözese kommen. Solche Unterschiede müssen sich zeigen auf dem gemeinsamen Weg der Kirche, wenn er ein wirklicher Aufbruch sein soll. Wer auf Wanderungen in Gruppen unterwegs ist, kennt die Gefahr, dass sonst die Gruppe auseinanderfällt und die Gemeinschaft bricht.
Plurale Einblicke ins Kirche-Sein
Im Rahmen der Strukturpläne der Diözesen und auch bei der Erarbeitung von pastoralen Leitbildern wird immer wieder deutlich, dass unterschiedliche Bilder von Kirche und unterschiedliche Erfahrungshintergründe die Diskussionen und die Optionen für die Entscheidungen prägen. Diese Pluralität ist keine postmoderne Erscheinung und Ausdruck eines „Zeitgeistes“. Sie wurzelt bereits in der Überlieferungsgeschichte unseres Glaubens (warum gibt es sonst vier Evangelien, statt eines Textes?). Es ist letztlich nur eine Zeit von knapp 200 Jahren, die versuchte, in unserer Kirche alles ultramontan und autoritär zu ordnen. Die Differenzen der Kirchen in der Weltkirche, aber auch die Differenzen der Kulturen innerhalb unseres Landes, zum Teil zwischen Nachbarpfarreien, die Differenzen, die sich in den Interessen verschiedener Verbände, Vereine und Begegnungen zeigen, die Differenzen verschiedener geistlich-spiritueller Ausrichtungen sind spannend und bereichernd. Zugleich birgt jedes Anders-Sein des anderen eine Provokation in sich, nämlich die Frage an mich und mein eigenes Selbst- und Glaubensverständnis. Ein Aufbruch der Kirche braucht die Bereitschaft, diese Verschiedenheiten voll Freude wahrzunehmen und zu kultivieren, statt sie gegeneinander abzugrenzen. In Fulda hat sich für die Bonifatiuswallfahrt und andere Feste die Inszenierung erhalten, dass die Vereine und Pfarreien mit ihren unterschiedlichen Fahnen und Bannern die Pluralität darstellen. Jedoch ist diese Pluralität noch sehr traditionell begrenzt und die Symbole etlicher Gruppierungen, die schon lange um ihre Anerkennung ringen, fehlen noch. Der Weg der Kirche muss hier noch mehr Pluralität hervorlocken.
Zukunftsbilder der Bibel
Es war nicht einfach für das versklavte Volk aus Ägypten aufzubrechen. Und trotz dem erfolgreichen Zug durch das Rote Meer wuchs schnell die Unzufriedenheit. In Ägypten waren wir besser versorgt. Der Wegführer ist unzuverlässig. Wir bauen unser goldenes Kalb. Manche Proteste und Abbrüche in den kirchlichen Veränderungen lassen sich gut auf die Exodustradi tion projizieren. Und wenn ich auf die vielen Aufbrüche der letzten 100 Jahre schaue, kommt es mir vor, dass die Kirche schon mehr als 100 Jahre – nicht nur 40 Jahre – unterwegs ist. Auch von diesen Frauen und Männern der Kirche sind etliche nicht über den Jordan, ins gelobte Land gekommen.
Wenn wir heute aufbrechen, sollte unser Vertrauen wachsen und die biblische Sicherheit dazu, dass Er uns in die Zukunft führt.