Warum sich junge Menschen darauf einlassen, für ein ganzes Jahr ihre Heimat zu verlassen und in einem Projekt in Afrika, Asien, Lateinamerika oder Osteuropa mitzuarbeiten und mitzuleben, lässt sich nicht in einem einzigen Satz beantworten. Bestimmt gehört eine gute Portion Abenteuerlust dazu, und das ist auch völlig in Ordnung. Vielleicht kann man sich einer Antwort auf die Frage annähern, indem man einen Freiwilligendienst mit anderen Möglichkeiten, eine Zeit im Ausland zu verbringen, vergleicht. Schließlich gibt es auch Work & Travel, verschiedene Au-pair-Dienste, Praktika oder Sprachlernangebote, einmal ganz abgesehen von touristischen Reisen. Wer aber einen Freiwilligendienst leisten möchte, muss sich auf etwas ganz anderes einlassen: Es geht darum, ein Jahr des Lebens mit Menschen zu teilen. Es geht um gemeinsames Lernen, um Solidarität und Partnerschaftlichkeit. Junge Menschen, die sich auf einen Freiwilligendienst einlassen, suchen genau dies: nicht in erster Linie Spaß und Abenteuer, sondern lebendigen Austausch, gemeinsames Engagement für die Arbeit in einem Projekt und tiefe, lebensprägende Erfahrungen.
Das weltwärts-Programm
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – kurz: BMZ – rief im Jahr 2008 den entwicklungspolitischen Freiwilligendienst weltwärts ins Leben. Er richtet sich an junge Menschen im Alter von 18 bis 28 Jahren, die die deutsche Staatsangehörigkeit oder einen dauerhaften Aufenthaltstitel für die Bundesrepublik Deutschland haben. Als das Programm vor zwei Jahren sein zehnjähriges Jubiläum beging, sagte Bundesminister Gerd Müller im Rahmen der Feierlichkeiten: „Zehn Jahre weltwärts: zehn Jahre Begegnungen, zehn Jahre Miteinander für eine bessere Welt! Eine echte Erfolgsgeschichte! Mehr als 34.000 junge Menschen aus Deutschland und der Welt haben sich bereits freiwillig für nachhaltige Entwicklung und eine bessere Zukunft engagiert. Sie alle leben das globale Dorf.“ Begegnungen über die Grenzen von Kulturen, Sprachen und Nationen hinweg, eine gemeinsame Arbeit für eine „bessere Welt“ und nachhaltige Entwicklung sind die zentralen Merkmale des weltwärts-Freiwilligendienstes. Dabei spielt auch der Aspekt des Lernens eine entscheidende Rolle: Gemeinsames Mit- und Voneinander- Lernen wird möglich durch das dialogische Miteinander mit den Partnerinnen und Partnern in den Projekten, in denen sich die Freiwilligen einsetzen. Ein lernender Dienst und ein partnerschaftliches solidarisches Miteinander für eine bessere Welt gehen Hand in Hand. So ist das weltwärts-Programm keine Einbahnstraße. Inzwischen wurde das „Nord-Süd-Programm“, bei dem Freiwillige aus Deutschland in ein Land des Südens entsandt werden, durch ein „Süd-Nord-Programm“ ergänzt: Freiwillige aus den Ländern des Südens kommen nach Deutschland und arbeiten in einer sozialen Organisation mit.
Im Jahre 2011 ließ sich das Kindermissionswerk „Die Sternsinger“ als sogenannte weltwärts-Entsendeorganisation registrieren. Gemeinsam mit dem Internationalen katholischen Hilfswerk missio in Aachen entsendet es jährlich rund 20 Freiwillige in die Projekte von Partnern in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa. So unterschiedlich die Projekte sind: Gemeinsamer Schwerpunkt ist die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Das ist ein sehr attraktives Betätigungsfeld für junge Freiwillige. So ist die Resonanz groß und die Bewerberzahlen sind hoch. Auch wenn die meisten der Freiwilligen frischgebackene Abiturientinnen und Abiturienten sind, bewerben sich immer wieder auch junge Menschen, die eine Ausbildung oder ein Studium absolviert haben. Bei der Auswahl kommt es nicht in erster Linie auf gute Zeugnisse an, sondern zum Beispiel auf Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern, Sprachkenntnisse, soziales Engagement, körperliche und seelische Belastbarkeit und eine grundsätzliche Offenheit anderen Menschen gegenüber. Seit Beginn des Programms haben das Kindermissionswerk „Die Sternsinger“ und missio Aachen bereits 150 junge Frauen und Männer in einen Freiwilligendienst entsandt. Alle zwei Jahre wird durch die Gütegemeinschaft Internationaler Freiwillgendienst eine Qualitätsprüfung und Zertifizierung durchgeführt, die den gleichbleibend hohen Standard bescheinigt.
Freiwilligendienste als Lerndienste
Wer lernt im Rahmen eines Freiwilligendienstes von wem? Zunächst ist es sicher die oder der Freiwillige selbst. Sie oder er macht sich mit hoher Motivation auf den Weg und lässt sich ein auf die prägende und für die persönliche Entwicklung sehr wichtige Erfahrung eines solchen Auslandsjahres. So vielfältig die Einsatzstellen auch sind, so sehr ähneln sich doch die Aufgaben der Freiwilligen. Ein Beispiel: In der Kleinstadt Battambang im Nordwesten Kambodschas kümmert sich die Partnerorganisation Komar Rikreay Association (übersetzt: „Glückliche Kinder“) um verlassene und verwaiste Kinder. Die Partner nehmen Kinder und Jugendliche in ihr Zentrum auf, betreuen sie, sorgen für medizinische Versorgung und organisieren den Schulbesuch. Ziel der Arbeit ist es, die Kinder und Jugendlichen zu stärken und sie nach und nach wieder dauerhaft in ihre eigenen Familien zu reintegrieren oder in Pflegefamilien unterzubringen. Zu den Aufgaben einer oder eines Freiwilligen in diesem Projekt gehört es, das Team der Komar Rikreay Association bei der Betreuung und Förderung der Kinder und Jugendlichen zu unterstützen und die Partner bei Familienbesuchen zu begleiten. Hinzu kommt die Mitarbeit an öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen, die dazu beitragen, dass immer mehr Menschen auf das Projekt und sein Hilfsangebot aufmerksam werden.
Die Partner und Partnerinnen in den Projekten machen interkulturelle, religiöse, soziale und entwicklungspolitische Begegnungen möglich: Die Freiwilligen lernen Menschen anderer Länder, Kulturen und Religionen, unterschiedlicher ethnischer Herkunft und sozialer Wirklichkeit kennen und setzen sich intensiv(er) mit den Zusammenhängen einer globalisierten Welt auseinander. Gleichzeitig übernehmen sie Verantwortung in dieser Welt, indem sie vor Ort mitarbeiten.
So erleben sie ganz konkret, wie die persönliche Begegnung Brücken zwischen Kulturen und Menschen baut – und wie viel im täglichen Umgang voneinander gelernt werden kann. Indem sie eine andere Wirklichkeit als die ihnen vertraute kennenlernen und sich mit einer fremden Lebenswelt auseinandersetzen, erwerben die Freiwilligen vielfältige neue interkulturelle und soziale Fähigkeiten. So erweitern sie beispielsweise ihr Verständnis für die Lebenswirklichkeit anderer Menschen. Nicht zuletzt erleben sie, wie die Menschen in ihrem neuen Umfeld ihren Glauben leben – oft viel selbstverständlicher als dies in Deutschland geschieht –, und erfahren so die Vielfalt in der Weltkirche. Dadurch öffnet sich für sie ein ganzheitlicher Lernraum, der Soziales und Spirituelles miteinander verbindet. Indem er diese Erfahrungen ermöglicht, trägt der Freiwilligendienst zur persönlichen Weiterentwicklung bei und unterstützt die jungen Erwachsenen dabei, sich selbst und ihre eigene Lebenswelt aus einer neuen Perspektive zu reflektieren und kennenzulernen.
Vorbereitung und Begleitung
Um solche Lernerfahrungen zu ermöglichen und die Freiwilligen für die Herausforderungen eines solchen Auslandsaufenthalts fit zu machen, steht vor der Ausreise eine gründliche Vorbereitung und Begleitung. Dabei werden Fragen des interkulturellen Lernens und der Kommunikation über den Umgang mit Armut oder kulturell unterschiedlichen Erziehungskonzepten ebenso behandelt wie Gesundheits- und Sicherheitsaspekte. In der Vorbereitung ist auch Raum für einen Austausch über die oft hohen Erwartungen der Freiwilligen an sich selbst und ihren Dienst: Viele der jungen Frauen und Männer haben das Ziel, einen wirksamen Beitrag zur Verbesserung der Lebensverhältnisse im Einsatzland zu leisten. Eine solche Erwartung ist gut – und sie darf zugleich nicht zu Enttäuschung und einem Gefühl des Scheiterns führen, wenn man erfahren muss, dass die eigenen Möglichkeiten begrenzt sind. Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen in der Vorbereitung der Freiwilligen kann einen Realitätsschock natürlich nicht vollständig verhindern. Sie kann aber den Blick für das Sinnvolle und Machbare und dessen Grenzen schärfen. Grenzen gibt übrigens auch eine wichtige Regelung des weltwärts-Dienstes vor: Die Freiwilligen dürfen in ihren Einsatzstellen keine Fachkräfte ersetzen, sondern diese nur unterstützen.
Während des Einsatzes im Partnerprojekt werden die Freiwilligen kontinuierlich betreut. Diese Aufgabe übernehmen vor allem zwei pädagogische Referentinnen. Mit der fachlichen Unterstützung durch weitere Mitarbeitende begleiten diese die etwa 20 Freiwilligen pro Jahrgang vom Beginn des Auswahlprozesses an intensiv. So ist sichergestellt, dass die jungen Menschen schon in den drei Vorbereitungsseminaren und dann auch während ihrer Einsatzzeit mit ihren individuellen Bedürfnissen und auch Sorgen ernst genommen werden. Es entsteht eine vertrauensvolle Beziehung, auf deren Grundlage die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Erwachsenen unterstützt wird. Sie werden beispielsweise ermutigt, sich ihren persönlichen Herausforderungen zu stellen. Dazu gehören etwa die Anpassung an kulturelle Gepflogenheiten, der Umgang mit Arbeitsaufträgen im Projekt oder mit Konflikten. Der Dialog mit den begleitenden Referentinnen regt die Freiwilligen zum Nachdenken an und trägt dazu bei, Überforderung zu verhindern. So unterstützt die fachlich-pädagogische Begleitung der Freiwilligen durch die Werke die jungen Menschen darin, einen neuen Blick auf sich und die Welt zu entwickeln.
Engagement der Freiwilligen
Die Erfahrungen in ihren Einsatzstellen lassen die meisten, wenn nicht gar alle Freiwilligen verändert heimkehren. Vielen ist es wichtig, sich als Rückkehrerinnen und Rückkehrer in Deutschland und anderswo für eine bessere und zukunftsfähige Welt einzusetzen. Auch dabei werden sie von einer Mitarbeiterin unterstützt. So können sie sich beispielsweise als Multiplikatoren und Multiplikatorinnen für globales und weltkirchliches Lernen engagieren und die deutsche Gesellschaft und Ortskirche mitgestalten und bereichern. Dies verleiht den vielen Partnerschaften in Deutschland konkrete Gesichter und gibt der Erfahrung Ausdruck, dass eine von Austausch, Verständnis und gegenseitiger Unterstützung geprägte „Eine Welt“ möglich ist.
Das Kindermissionswerk „Die Sternsinger“ und missio Aachen verstehen ihren Freiwilligendienst als soziales, pastorales, gesellschaftliches und politisches Lernfeld – und die Freiwilligen als Lernende und Botschafter zugleich. Denn mit ihrer Anwesenheit und durch den Austausch mit Menschen aus unterschiedlichen Ländern lassen sie Partnerschaft und Weltkirche lebendig werden. Dazu gehört gerade auch das Lernen von den Freiwilligen – denn durch die Begegnung und Auseinandersetzung mit ihnen entwickeln sich auch die aufnehmenden Partner sowie die Trägerorganisationen des Freiwilligendienstes weiter.
Partnerdialog
Es zeigt sich: Ein weltkirchlicher Freiwilligendienst stellt die direkte Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft in den Mittelpunkt. Dazu gehört der solidarische Umgang miteinander in der Gemeinschaft in der Weltkirche, der nationale, ethnische und kulturelle Unterschiede überwindet. So ergänzt der Dienst im Sinne eines partnerschaftlichen Dialogs die finanzielle Unterstützung der Projekte durch die Hilfswerke. Diese Ergänzung trägt bei zu einer Balance des Verhältnisses zwischen den Hilfswerken als Geldgeber und den Partnern, die die Hilfe vor Ort umsetzen. Diese Asymmetrie wird durch den Freiwilligendienst nicht aufgehoben. Der Dienst und der mit ihm verbundene Austausch zwischen Partnerorganisation, Freiwilligen und Trägern wirkt jedoch für alle Beteiligten als Lernfeld – und damit als Korrektiv. Denn ob ein Freiwilligendienst die oben beschriebenen Lernerfahrungen ermöglicht und somit „gelingt“, hängt neben der Vorbereitung maßgeblich von den Partnerorganisationen ab. Sie sind als gleichberechtigte Akteure in der Planung und Durchführung des Freiwilligendienstes von zentraler Bedeutung. Ohne die Projektpartner und ihre Arbeit gäbe es weder die Hilfswerke, noch ihren Freiwilligendienst.
In der konkreten Arbeit bedeutet das, dass die Referenten der Werke gemeinsam mit den Partnern überlegen, ob in ihrem jeweiligen Projekt ein solcher Dienst möglich ist und sinnvoll durchgeführt werden kann. Auch die Lernziele werden gemeinsam formuliert. Zu einem partnerschaftlichen Verhältnis gehört es außerdem, Pausen zu vereinbaren oder den Wechsel von Freiwilligen in ein anderes Projekt zu ermöglichen, wo dies nötig ist. Die Projektpartner in den Einsatzstellen gestalten den Freiwilligendienst entscheidend mit, indem sie – in Abstimmung mit den Referentinnen im Kindermissionswerk – die Einsatzbereiche der Freiwilligen festlegen. Bei Bedarf unterstützen sie die jungen Menschen auch darin, die lokale Sprache zu lernen. Nicht zuletzt benennen sie eine Mentorin oder einen Mentor im Projekt, die oder der den Freiwilligen als Vertrauensperson in dienstlichen oder persönlichen Anliegen zur Verfügung steht. Zu einem partnerschaftlichen Freiwilligendienst gehören auch gemeinsame Auswertungen zur Halbzeit und nach Abschluss der jeweiligen Dienstzeit. Diese Auswertungen helfen sowohl akuten Handlungsbedarf zu identifizieren wie auch künftige Einsätze zu planen.
Ein Beitrag zur ganzheitlichen Bildung
Partnerschaftlichkeit über Grenzen hinweg ist also das Wesensmerkmal des Freiwilligendienstes von missio Aachen und dem Kindermissionswerk „Die Sternsinger“: Der Dienst vor Ort macht Begegnung im gelebten Miteinander möglich. Was Partnerschaftlichkeit über Kontinente hinweg bedeuten kann, wird im Dialog zwischen den Einsatzstellen, den Freiwilligen und den Werken konkret. Ein so verstandener weltkirchlicher Freiwilligendienst leistet nicht nur einen konkreten Beitrag zur ganzheitlichen Bildung der Freiwilligen in einer wichtigen Übergangsphase ihres Lebens. Er entspricht zudem dem zunehmenden Bewusstsein für die gegenseitigen Abhängigkeiten und Entwicklungschancen in einer globalisierten Welt und einer pluralen Weltkirche.