Ich komme aus einem dörflichen Vorort von Köln, der in meiner Jugendzeit in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts stark religiös geprägt war. Sonntags ging „man“ selbstverständlich zur Kirche, mittags wurde intensiv über Predigt, Gottesdienst, Glauben, über Gott und die Welt diskutiert. Meine Eltern waren Christen, die uns beibrachten, wie man „kölsch-katholisch“ mit dem eigenen Glauben kritisch und diskussionsfreudig umgehen kann. Dass Glauben nicht „von oben“ diktiert wird, sondern immer wieder neu und selbst gesagt werden muss, das habe ich hier gelernt.
Diese Erfahrung hängt eng mit meiner kirchenmusikalischen Sozialisation zusammen. Die erfuhr ich vor allem an zwei prägenden Orten. Da waren zum einen die Stadtjugendgottesdienste in St. Maria im Kapitol in der Kölner Innenstadt. Hier wurde sonntagnachmittags auf ganz ungewöhnliche Art und Weise Liturgie gefeiert. Der Klang der Texte und Gebete, die alltagsnahe Sprache, die Themen meines Lebens zum Klingen brachte, das hat mich mitgerissen. Auch durch die Musik. Hier spielten Bands und Chöre völlig neue Kirchenmusik: Stücke von Peter Janssens und Ludger Edelkötter, Texte von Wilhelm Willms oder Eckard Bücken.
Und dann gab es die Erfahrungen, die ich im Kloster Knechtsteden bei Dormagen machte. Unter der Leitung von Konrad Breidenbach machten hier die Patres der Missionsgesellschaft vom Heiligen Geist nicht nur eine unglaubliche Jugend- und Erwachsenenbildungsarbeit. Hier wurden auch neue Lieder geschrieben. Für Feste und Feiern, quer durchs Kirchenjahr und in Auseinandersetzung mit biblischen Texten und Glaubenserfahrungen.
Von diesen Erfahrungen aus war es nur noch ein kleiner Schritt, selbst Texte für Neue Geistliche Lieder (NGLs) zu schreiben. Das habe ich viele Jahre als Mitglied der Gruppe Ruhama getan. Und ich schreibe bis heute.
Am eigenen Leib habe ich erfahren, wie Glaube sich in neuen Liedern ausdrückt, ihn neu zur Sprache bringt, ganz anders als gewohnt von Fragen und Hoffnung, von Klage und Trauer, von Jubel und Erstaunen singt. Dadurch konnten diese Lieder zugleich meinen Glauben bilden und weiterbringen. Religiöse und (kirchen-) musikalische Sozialisation gingen dabei Hand in Hand. Das lässt sich im Folgenden auch systematisch entfalten.
Glaube kommt vom Singen
Es ist eine Binsenwahrheit: Glaube braucht, wenn er denn vom Hören kommt, eine Sprache, die gehört werden kann. In den NGLs wird diese Glaubenssprache verdichtet. Das gilt auch für viele traditionelle geistliche Lieder. Doch die haben für den Glauben vieler Christinnen und Christen heute keine Bedeutung (mehr). Gerade auch, weil in diesen Liedern oftmals in hoher theologischer Sprache begriffliche Leerhülsen transportiert werden. Denn was damit gemeint ist, wenn von Gnade, Vergebung, Opfer, Herr und Gott und so weiter gesprochen wird, das erschließt sich heute vielfach nicht.
Bis in die Gegenwart hinein zeichnen sich die NGLs im Gegensatz dazu durch den Versuch aus, die hohen theologischen Wörter zu verabschieden. Es ist ein Abschied von Begriffen, die auch noch im aktuellen „Gotteslob“ Heimatrecht besitzen: Jesustitel (Sieger, König, Erlöser), sakralisierende Topoi (Hohn, Ehre, Zier, das alle Welt erfreut, Flehen, gnädiglich, den gütigen Vater), dogmatisch hochaufgeladene Wendungen (Gott vor aller Zeit, Gotteslamm, kauftest durch dein Blut uns frei, Gott ist dreifaltig einer). Die derzeit boomende Szene der Praise and Worshipsongs greift interessanterweise auf diese klassischen Termini zurück und verknüpft moderne Popmusik mit traditioneller religiöser Sprache. Das NGL hingegen zeichnet sich – etwas pauschal gesprochen – dadurch aus, dass es gerade mit den Mitteln der Alltagssprache versucht, Glauben (neu) zu sagen.
Hinzu kommt bei klassischen Kirchenliedern auch, dass hier vielfach theologische Aussagen transportiert werden, die durchaus kritisch zu hinterfragen sind. Ist es theologisch heute noch richtig, dass uns die „heilige Seelenspeise“ vor „dem ewigen Tod retten“ (GL 213) wird? Ist die Bitte „Herr, verschone uns“ (GL 556.7) adäquat für die Mensch-Gott-Beziehung? Ist Gott „im hohen Thron“ (GL 393) zu loben?
Viele NGLs sind stärker als von der Dogmatik von biblischen Texten inspiriert: Von Psalmen, lyrischen Texten wie dem alttestamentlichen Hohen Lied oder den Klageliedern oder dem neutestamentlichen Hohelied der Liebe (1 Kor 13). Aber auch von bildhaften Geschichten wie den Gleichnissen Jesu. Und nicht zuletzt biblischen Redewendungen wie „auf Herz und Nieren prüfen“. In vielen NGLs dient die Bibel so als Basis einer religiösen Sprachschule. Sie wird als faszinierender Versuch wahrgenommen, in fremden und zugleich nahen Geschichten und Personen, Redewendungen und Bildern, Glauben sprachlich wieder und wieder neu zu inszenieren. Das in Alltagssprache zu übersetzen ist die große Leistung dieser neuen Lieder.
Damit stehen die NGLs für eine subkutane Katechese. Sie verbinden musikalische Sozialisation und Glaube. Statt religiöses Wissen kognitiv zu vermitteln, erzählen sie „nebenbei“ vom Glauben. Zugleich bieten sie den Menschen, die auch noch im 21. Jahrhundert in Glaube und Kirche nach Sinn suchen, eine Heimat an. Indem sie, im besten Fall, Sprache und Töne liefern für einen Glauben von heute, für Sehnsüchte und Hoffnungen, für Zweifel und Fragen. Dabei lässt sich erfahren, dass mit den Mitteln der Popmusik Glaube ausgesagt werden kann.
Demokratischer Glaube
Letztlich steht der Begriff „Neues Geistliches Lied“ für ein Konzept, dass den kulturellen Präferenzen von Menschen eine Bedeutung im religiösen Kontext zuschreibt.
Das zeigt sich in musikalischer Hinsicht. Das NGL kennt eine Vielfalt moderner musikalischer Stile von Pop bis Jazz, von Gospel bis Rap. Es sind im weitesten Sinne Lieder mit einer popularmusikalischen Prägung. Die Tonsprache schafft damit einen Gegenwartsund Alltagsbezug dieses Genres. Da sich die Popularmusik immer wieder verändert, lässt sich auch erleben, wie sich das NGL verändert. (kirchen-)musikalische Sozialisation und Popmusik bilden so kein Gegenüber. Sie lassen sich verbinden.
Textlich markiert das NGL ein Gegengewicht zu einer „von oben“ verordneten Vorstellung darüber, was und wie Kirche singt. Und mehr noch: ein Gegengewicht zu einer Theologie, die von den Profis, von Theologen eben, bestimmt wird. Selbst Liedtexte zu schreiben, das war elementar für meine religiöse Sozialisation. Wie viele andere, die das auch probierten, konnte ich erfahren, was es heißt, Glaube menschennah und neu auszusagen. Viele merken, wenn sie religiöse Liedtexte schreiben oder Musik machen: „Wir haben ja etwas zu sagen. Wir zählen etwas in dieser Kirche.“
Das NGL steht so in der Fülle seiner Lieder, seiner Texte und Stile auch für eine Demokratisierung des Glaubens. Im Schreiben und Singen dieser Lieder entbirgt sich die Übernahme der Deutungsmacht dessen, was Glaube ist und ausmacht, durch Laien. Denn es sind vornehmlich Nichtkleriker, die die NGLs schaffen, Lieder des „Volkes“ schreiben und sich dadurch in der Kirche zu Wort melden. Ähnlich der liturgischen Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann sich die – wirklich enorme – Produktion von NGLs als Versuch fassen lassen, dass Menschen ihren Glauben zu Gehör bringen. „Lieder von unten“ lässt sich das programmatisch nennen.
Die NGLs stehen damit sowohl hinsichtlich der Produktion wie der Rezeption für die Ermächtigung des Volkes Gottes, das das „neue Lied“ (Ps 33,3) singt. Hier liegt ein zweites wesentliches Element einer musikalischen Sozialisation mit dem NGL. Gerade weil ihr Anliegen war und ist, „singbares Liedgut für die Gemeinde-Liturgie“ (T. Lübbers) zu bieten. So schafft das NGL auch für die jetzige Generation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen einen Raum, in dem sich Liturgie, Musik und Glauben erleben lassen. Erfahren lässt sich im Singen der Lieder, dass die Glaubenden eben kein Beiwerk für ein religiös-liturgisches Handeln sind, das allein der Priester vollzieht. Der Mitvollzug der Liturgie, wie ihn das Zweite Vatikanische Konzil theologisch setzte (CS 21), wird durch das NGL praktisch. Im gemeinsamen Singen ereignet sich die participatio actuosa der gesamten – singenden – Gemeinde. Allgemeiner formuliert: Das NGL zielt auf eine „geistliche Resonanz bei den Gläubigen“ (P. Deckert) und ermöglicht so eine Erfahrung des Miteinanders von Musik, Liturgie und Glauben.
Glaube und Handeln
Die Bedeutung des NGLs für die musikalische Sozialisation allein auf die Musik zu reduzieren, führt damit in die Irre. Im Gegensatz zu der popmusikalischen Sozialisation, die die meisten heute durch machen, zeigt sich im NGL ein Mehrwert. Hier tritt der Text und seine Aussagen noch stärker in den Mittelpunkt, als es in der Popmusik üblich ist. Musik und Text zusammen sind Medien des Glaubens, die diesen Glauben immer wieder neu und anders, kreativ und herausfordernd aussagen wollen. Was aber lässt sich durch und mit dem NGL glauben?
Das NGL ist ein kirchenmusikalisch/ liturgisch eingesetztes Medium, das gerade durch seinen alltags- und gegenwartsorientierten Ton (das umfasst Text und Musik) eine andere Kirchenmusik ist. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es überdurchschnittlich häufig „Postionen christlicher Lebensgestaltung (Ethos, Botschaft, Gebet und Suche nach Positionsbestimmung im Selbst- und Weltbild) formuliert.“ (P. Hahnen)
Insofern kann das NGL in der (kirchen-) musikalischen Sozialisation auch als Sozialisation religiöser Handlungsüberzeugungen wirken. Denn in vielen Liedtexten werden Ethos und Botschaft, Selbst- und Weltbild praktisch verstanden. So greifen Glaube und Handeln Hand in Hand. Manchmal erschöpft sich das in moralischen Appellen, manchmal werden Handlungen und ihre Folgen beschrieben, bisweilen aber auch konkrete Handlungsanweisungen formuliert.
Statt reduktionistisch allein Gott zu loben, seine Schöpfung zu preisen, den Tod Jesu zu verkünden oder die Heiligen zu verehren, thematisieren viele NGLs ethische Fragen, Fragen nach gut und gerecht. Dabei speisen sie sich aus den konkreten Erfahrungen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung, aus dem Engagement für die sogenannte Dritte Welt, aus der Wahrnehmung einer gewaltigen Lebensraumzerstörung aller Lebewesen durch den Menschen.
Dahinter gibt sich eine „Moral“ der NGL zu erkennen, die im Kern auf die Frage nach dem gelingenden Leben zielt. Und zwar nicht nur dem individuellen Glück, dem eigenen Fromm-Sein und -Werden, der persönlichen Erlösung. Viele NGLs suchen und bieten Töne für die Sehnsucht nach einem gerechten und befreiten Leben. Dadurch singen diese Lieder von einem anderen Glauben als dem tradierten, von einem anderen Gott als dem bekannten.
Nicht von ungefähr sind NGLs eng mit dem konziliaren Prozess und der Forderung nach Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung verbunden. Weit vorher nimmt das NGL Anleihen bei Spirituals und Gospels, die ab den 1950er Jahren in Deutschland populär werden. Dabei werden neue (religiöse) Texte auf bekannte Melodien geschrieben. Nicht nur, weil die Musik mitreißend ist. Sondern auch, weil in Spirituals und Gospels der Entstehungskontext dieser Lieder transportiert wird. Spirituals entstehen mit Beginn der Sklaverei im 17. Jahrhundert in den USA als christliche Liedgattung unterdrückter, unfreier und versklavter Menschen. An vielen NGLs lassen sich Spuren dieser Geschichte entdecken, wenn Texte um Gerechtigkeit und Freiheit kreisen, um Sehnsucht und Hoffnung, um Protest gegen etablierte Zustände und den Willen, etwas zu verändern.
Die NGLs wurzeln nicht von ungefähr deshalb auch in der Tradition der Liturgischen Nacht und den politischen Liturgien im Gefolge der Achtundsechziger. Dass die bestehenden Verhältnisse immer noch jeder Vorstellung von Gerechtigkeit spotten, diesen Glauben brachten viele dieser neuen Lieder zum Klingen. Musikalische Sozialisation mit und an NGLs heißt demnach auch, ihren aufrüttelnden, engagierten und weltverändernden Gestus wahrzunehmen. Ihre „moralische“ Botschaft wahrzunehmen, aufzunehmen und mit dem eigenen Handeln zu verbinden.
(Kirchen-)musikalische Sozialisation und NGL?
Viele NGLs aus den 1970er und 1980er Jahren muten heute wie Oldies an. Oft gespielt, aber aus der Zeit gefallen. Damit teilen sie das Schicksal, das viele Popstücke ebenfalls ereilt. Auch ich kann heute viele alte Stücke nicht mehr singen. Zum Glück hat die Produktion dieser Lieder nicht aufgehört. Es werden immer wieder neue Songs geschrieben, die auch musikalisch auf der Höhe der Zeit sind.
Für meine musikalische Sozialisation waren und sind sie alle wichtig. Als Lieder eines kritischen Glaubens, als Lieder der Ermächtigung von Glaubenden, als Lieder, die das Handeln nicht vergessen. Nicht zuletzt transportiert das NGL so auch einen kritischen Widerstand in der Kirche gegen eine Kirche. Genauer: gegen eine hierarchische, dogmatisierende, klerikale Kirche, gegen Leerformen des Glaubens, die mit dem Alltag der Glaubenden nichts zu tun haben, gegen eine weltfremde Spiritualität, in der die Praxis des Lebens ausgeblendet wird.
FAZIT
Es gibt viele Formen musikalischer Sozialisation – auch in der Kirche. Eine davon ist das Neue Geistliche Lied (NGL). Im allgemeinen Sinn sind alle Lieder neue geistliche Lieder – zu ihrer Zeit. Neu ist das Lied, das den Menschen neu macht (D. Bonhoeffer). Im Speziellen aber steht das NGL für die Aufbruchs- und Ausbruchserfahrung gerade in der katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Als solche hat das NGL auch für morgen eine wesentliche Bedeutung für die religiöse Sozialisation von Glaubenden.