Adventliche Spiritualität des anfänglichen GottesWelt ging verloren, Christ ist geboren

„Welt ging verloren“ – diese Zeile aus einem der berühmtesten Weihnachtslieder der Welt hat mit der Corona-Krise eine neue Bedeutung bekommen. So war es, möchte man zustimmen. In diesem kurzen Satz ist die Wirklichkeit der Pandemie enthalten. Im Nachhinein frage ich mich, wie ich diesen Vers bisher singen konnte, ohne die geringste Ahnung von seiner Aussagekraft zu besitzen. Sicher, wer Kriege und Lager erlebt hat, dem oder der geht es bestimmt anders als mir.

Fazit

Welt ging verloren. Christ ist geboren. Das alte Weihnachtslied bekommt eine neue Bedeutung. Sie verweist auf eine Spiritualität der Erwartung des anfänglichen Gottes. Die Erzählungen und Symbole von Weihnachten können aufgrund der Corona-Krise so gelesen werden: Der neugeborene Gott kommt zerbrechlich und schwach, ist angewiesen auf Achtsamkeit und Pflege, will wachsen und werden. Mehr denn je kommt es auf den Menschen an, die anfängliche Situation zu erspüren und der Welt Gottes zum Durchbruch zu verhelfen. Wohl wissend: Gott setzt den Anfang – und was daraus wird, bedarf gemeinsamen Tuns und Lassens und bleibt doch unverfügbar.

In einer Krise funktioniert vieles trotz der Krise. In einer persönlichen Trauer beispielsweise erleben viele Menschen, dass sie dennoch funktionieren. Nach außen wirken sie manchmal gefühllos, weil ihr Handeln so routiniert ist, weil sie die Alltagsabläufe meistern, als wäre nichts geschehen. Dabei wundern sie sich bisweilen selber, wie gut sie funktionieren, wobei genau dieses sie vor dem Zusammenbruch rettet.
In der Corona-Krise haben glücklicherweise viele und hat vieles funktioniert: die Wissenschaft und die Wissenschaftler/-innen, die Krankenhäuser und ihre Angestellten, die Politik, die Wirtschaft, natürlich mit Hürden und Hemmnissen, aber im Großen und Ganzen doch. Gott sei Dank.
Nur die Kirche, die hat irgendwie nicht funktioniert, einmal, weil zunächst wesentliche ihrer Leistungen nicht mehr möglich waren, dann auch, weil viele Funktionsträger/-innen der Kirche nicht weiterwussten. Im Rückblick lässt sich aber noch etwas anderes sehen: Die Kirche war, möglichweise aufgrund ihres Auftrages gezwungen wahrzunehmen, was nicht zu übersehen war: Welt ging verloren. Sie ist gleichsam mitverloren gegangen, denn Welt ging verloren und Kirche ist ein Teil der Welt. Spätestens seit dem Konzil ist ihr das selber bewusst geworden, Kirche in der Welt von heute.

Christ ist geboren

Es ist ein anderes Weihnachten, wenn wirklich „Welt verloren ging“ und die Zeile nicht nur Jahr für Jahr so dahingesungen wird. Mit der Corona-Krise kann dies auch nicht mehr auf die Sündhaftigkeit der Welt zurückgeführt und damit in einen „Wenn … dann“- Zusammenhang gestellt werden: Wenn wir sündigen, dann geht die Welt verloren und dann kommt die Rettung. So war es 2020 und 2021 nicht. Die Welt ist einfach so verloren gegangen. Ohne Sinn. Ohne Notwendigkeit. Ohne Ziel. Einfach so, wie nebenbei, man kann noch nicht einmal die Ursache richtig ausmachen.
Welt ging verloren. Noch immer wirkt diese Erfahrung nach und man weiß nicht genau, inwieweit sich die Welt aus der Krise bereits herausgeschält hat, oder die Krise, die Verlorenheit zum Dauerzustand der Welt, der Menschen, aller Lebewesen und Körper geworden ist. Christ ist geboren. In einem Lied kann sich so ein Satz nahtlos anschließen. Bewundernswert. Ohne Übergang folgt auf die Verlorenheit die Geburt des Christus, folgt Gott im Kind. Aber wer je ein Neugeborenes in den Armen hielt, weiß um dessen Verletzlichkeit, Verwiesenheit und Anfänglichkeit. So erhält auch dieser zweite Satz nach der Pandemie für mich einen neuen Klang. Denn obwohl wir Weihnachten feiern, die Krippe aufbauen und das Jesuskind hineinlegen, haben wir die besondere Situation des Neugeborenen nie auf Gott übertragen. Müssen wir dies aber genau jetzt tun?

Der Stall

In der mythologischen Erzählung ist es ein Stall, in dem Jesus geboren werden muss, weil die gebauten Häuser in den Ortschaften ihn nicht aufnehmen wollen. Wenn die Texte des Evangeliums einen Sinnüberschuss besitzen und wenn Mythen tiefe Wahrheiten erzählen, dann heißen diese jetzt möglicherweise so: Die gebauten Häuser, das geordnete Leben in Dörfern und Städten konnten die Heilige Familie gar nicht aufnehmen, denn die Welt war zum Stall geworden. Das Unbehauste betrifft nicht mehr nur den einen kleinen Stall, sondern die Welt. Leben im Unbehausten, im Instabilen, im Komplexen, nicht Vorhersehbaren, so beschreiben Sozialwissenschaftler/-innen die gegenwärtige Welterfahrung. Man könnte im Bild sprechen, die Welt ist zum Stall geworden. Die Wände sind nicht fest gemauert, die Türen schließen nicht mehr, der Wind pfeift durch die Ritzen, ein längerer Aufenthalt wirkt ungemütlich, das Leben erscheint einem wie eine Baustelle. Der Stall verkörpert diese lebensweltliche Unsicherheit, der Stall ist zum Symbol der verlorenen Welt geworden.

Die Weisen aus dem Morgenland

Auch die Weisen aus dem Morgenland sind nicht so wissend, wie sie scheinen. Denn um rechtzeitig im Stall ankommen zu können, müssen sie schon aufgebrochen sein, bevor der weisende Stern am Himmel stand. Sprich: Sie sind eine Weile herumgeirrt. Sie sind aufgebrochen, ohne das Ziel vor Augen zu haben, ohne die Richtung zu wissen. Mit Ungewissheit, mit Risiko, ohne genauen Plan. Sollte es sie wirklich gegeben haben, ist ihre Geschichte geschönt worden oder muss im Heute weitererzählt werden. Denn Aufbrechen ohne klares Ziel ist die Erfahrung der jungen Menschen heute. Ich meine zu beobachten, dass das Leiden der Jugend und jungen Menschen an Corona genau da begründet ist, dass die Lebensziele und Zukunftsbilder abhandengekommen sind, dass man lernen, studieren, sich ausbilden muss und nicht weiß, woraufhin, mit welchem Sinn, mit welchem Ziel. Wer einen größeren Teil des Lebens schon gelebt hat, wer den Stern schon gesehen und im Haus gewohnt hat, kann den Stall vielleicht leichter ertragen als diejenigen, die bisher nur den Stall kennen und keinen Stern.

Die Gottesgeburt

Die Sehnsucht nach der Geburt Gottes, so meine These, ist in diesem Jahr besonders groß. Schon länger überragt bei den Kirchenmitgliedern die Bedeutung von Weihnachten das Osterfest. Dagegen lässt sich nicht leicht argumentieren und anpredigen, vielleicht sollte Kirche die gelebte Theologie einfach akzeptieren. Freilich sorgt man sich auch heute um das Danach, freilich kam mit Corona der Tod wieder einen Schritt näher, und doch nimmt den größeren Raum der Sorgen und Fragen und Unsicherheiten das Leben ein, die Bewältigung der gegenwärtigen Krise im Leben, das Weiterleben in der eigenen Welt, nachdem die Welt verloren ging.
Ich gebe zu, dass ich dem Inkarnationstopos schon immer mehr zugeneigt war als dem Auferstehungstopos. Mit dem Gott, der auf die Welt kommt, kann ich einfach mehr anfangen, als mit dem Gott, der mich nach dem ganzen Leben und Genießen, Bangen und Kämpfen hier dort empfängt. Da bin ich wahrscheinlich ein Kind der Zeit, das vor allem vor dem Tod leben will und das Danach auf ein andermal zu verschieben gedenkt. Entsprechend bewegt mich aktuell nicht der verlorene Himmel, sondern die verlorene Welt – und der Gott, die Gottheit, die in dieser neu geboren wird.
Die adventliche Erwartung bezieht sich auf dreierlei: auf die Erinnerung der göttlichen Geburt damals in Nazareth/Bethlehem, auf die Ankunft Gottes in der Gegen wart und auf die Wiederkunft des Heilands am Ende der Tage. „Wär Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du wärest ewiglich verloren.“ Auch Angelus Silesius stellt der Geburt die Verlorenheit gegenüber, bezieht aber beides auf den einzelnen Menschen. Die fortwährende Geburt des Christus im Einzelnen lehrt auch Meister Eckhart, beide Theologen sind Verfechter einer inkarnatorischen Theologie, die Gott und Welt aufs engste verbindet. Was aber in der klassischen Theologie weniger im Blick war, ist das Phänomen, dass Geburt Neues und Werden bedeutet. Es wird nichts Altes und nichts Fertiges geboren. Geburt heißt neues Werden und Neuwerden. Geburt beinhaltet, dass etwas hervorgebracht wird, das gleichzeitig noch verborgen ist, dass zwar etwas Neues geworden ist, dies aber noch anfänglich und zerbrechlich ist. Gottesgeburt heißt dann, neu anfangen mit der Welt und mit Gott. Aber eben noch mehr: als Welt und als Gott. Geburt ist immer ein radikaler Neuanfang, und dies wurde bisher zu wenig gesehen. Aber wenn die Welt verloren ist, dann geht es um diesen neuen Anfang. Es geht um nichts Geringeres als den Anfang Gottes.

Suchen und Finden

Zur Weihnachtsgeschichte gehört auch das Suchen und Finden, sogar das Finden ohne Suchen. Den Hirten wird das Finden verheißen, ohne dass sie sich ihrer Suche bewusst waren. Finden verbinden wir mit kleinen Dingen, die aufgrund ihrer Größe leicht übersehen werden können, die sich manchmal wie versteckt haben und die man dann fin den muss. Im übertragenen Sinn finden wir eine/-n Lebenspartner/-in, einen Platz im Leben, den richtigen Beruf, also im Gegensatz zu den kleinen Dingen die richtig großen Sachen im Leben, das was wirklich Bedeutung hat und uns ausmacht.
In der Weihnachtsgeschichte geht es um das Größte, was Menschen haben oder bedenken, es geht um Gott, der sich finden lässt, um die göttliche Sache, die gefunden werden muss, wenn die Welt verloren ist.
Das Größte und das Kleinste auf einen Schlag, in einer Situation. Die größten Gegensätze wie auf einer Nadelspitze vereint. Vielleicht ist es ein weihnachtlicher Irrtum gewesen, dass Gott von jetzt auf gleich wieder in voller Pracht erscheint, als wäre die Welt nicht verloren gewesen. Dabei ist sie es nicht zum ersten Mal. In eine verlorene Welt aber kann Gott nur anfänglich kommen, zerbrechlich, schwach, leise und im Werden.

Der anfängliche Gott

Welt ging verloren. Christ ist geboren. Gott fängt neu an. In jeder Situation kann Gott einen neuen Anfang setzen. Das ist Gottes Macht. Und seine Ohnmacht, denn der Anfang ist anfänglich, schwach und leicht übersehbar, ist angewiesen, entdeckt zu werden und zur Entfaltung zu kommen. Das Anfängliche, Geburtliche ist auf Wachsen und Werden angewiesen, auf ein Klima der Aufmerksamkeit und Entfaltung. Es braucht Menschen, die den Keim entdecken, hüten und pflegen wollen, es braucht eine Welt, die dem Anfang eine Chance gibt. All das lässt sich an Weihnachten ablesen, wenn das Kind gefunden werden will, wenn von Eltern die Rede ist, die es trotz der widrigen Umstände aufnehmen, wenn Drei Könige von ihrer Königlichkeit absehen und niederknien vor dem göttlichen Anfang, vor dem Beginn, den Gott setzt. Weihnachten ist die Sehnsucht, dass Gott neu anfängt. Deshalb, so Matthias Morgenroth, sehnen wir uns an Weihnachten nach Schnee, der Symbol von Reinheit, Unschuld und Anfang ist. Doch erst jetzt merken wir, dass wir Gottes Neuanfang radikal verstehen müssen. John D. Caputo nennt dies eine radikale Theologie. Jesus von Nazareth hat keine Begriffe dafür, aber Erzählungen vom Reich Gottes, das seinen Anfang im Senfkorn nimmt und das sich zu einem großen Baum entfalten kann, in dem die Vögel nisten. Der Mensch kann weder den Anfang setzen noch den Baum zum Wachsen und Blühen bringen, aber es braucht seine Aufmerksamkeit für das Senfkorn, seine Bereitschaft, es zu hegen und zu pflegen, dem Wachsen und Werden Raum zu geben. Es braucht das Fingerspitzengefühl für Tun und Lassen, in der Tradition für Arbeiten und Beten, Kampf und Kontemplation. Damit wären wir bei einer adventlichen Spiritualität in Erwartung des anfänglichen Gottes. Gott setzt in jeder Situation einen Anfang. Der Philosoph Heinrich Rombach versteht die Situation daher als Angang. Sie kommt auf mich zu und geht mich an. Sie erwartet meine und der Welt Antwort. In einem konkreativen Geschehen kann auf den Angang Aufgang folgen, kann der anfängliche Gott werden und wachsen und mit ihm jeder beteiligte Mensch und die ganze Welt.

Die Krippe

Die Weihnachtskrippe ist die eingefangene Situation des Anfangs und gleichzeitig das Bild adventlicher Spiritualität. Menschen, Engel und Tiere richten ihre Aufmerksamkeit auf die Mitte des Anfangs. Sie verkörpern die Situation, in der Gott einen Anfang setzt. „Aus der Welt steigt ein Rauschen auf, das den Menschen anspricht, fordert, schreckt und beruhigt“, wie der Theologe Jörg Lauster schreibt. In der Krippendarstellung sind dieses Rauschen und die darauf antwortende Stille eingefangen, das Innehalten und das Gespür für die heilige Möglichkeit, für den geschehenden Angang und den möglichen Aufgang. Erst wenn sich die Aufmerksamkeit aller oder möglichst vieler in einer Situation auf den Keim des Anfangs richtet, kann Aufgang, göttliches Werden gelingen, kann sich Gottes Welt durchsetzen. Und genau dafür braucht es Weihnachten, braucht es die Lieder, die Erzählungen und die Darstellungen und das Spiel der Weihnachtskrippe: um uns zu vergegenwärtigen, dass Gott in jeder Situation einen Anfang setzt und dass es darauf ankommt, dass die an der Situation Beteiligten ein Gespür für die keimende Welt Gottes besitzen und ihr durch ihr Handeln und Nichthandeln zum Durchbruch verhelfen. Glaube heißt, auf einen Gott vertrauen, der in jeder Situation einen Anfang setzen kann und es auch tut, trotz Corona und mit Corona und vielleicht erst richtig entdeckt durch Corona. Auch Michael Schrom, Ressortleiter bei Publik Forum, sucht nach den „Spuren, die den christlichen Glauben auch unter den Bedingungen der Gegen - wart als eine lohnende Herausforderung aufblitzen lassen. Sicher: Gott ist keine feste Burg mehr. Aber war er oder sie das jemals?“ Ein Blick auf die Krippe gibt die Antwort.

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