Inbegriff eines entgrenzten Lebens?Homeoffice und das Fehlen des Arbeitsweges

Die Trennung von Arbeits- und Lebensorten gehört zu den Kennzeichen der Moderne und ihren industrialisierten Gesellschaftsformen. Die Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften erzeugt nicht nur eine Professionalisierung der Berufsbilder und Spezialisierung der Ausbildungswege, sie erzeugt auch eine Segmentierung unterschiedlicher Lebensorte.

Fazit

Das Verhältnis von Arbeits- und Lebensorten entwickelt sich dynamisch und erfährt in gesellschaftlichen Krisen wie der Corona-Pandemie weitreichende Impulse zur Neubestimmung. Pfarrhäuser, Gemeindebüros und Homeoffice sind als Arbeitsinstrumente wahrzunehmen und im Kontext pastoraler Dienstleistung in ihrer konkreten Ausgestaltung sozialer Beziehungen permanent kritisch zu reflektieren. In einer Topologischen Theologie werden Raumwahrnehmungen zu Impulsen für theologische Neubestimmungen.

Der Arbeitsplatz ist möglicherweise weit vom Wohnort entfernt, für besondere Erholungszeiten gibt es Urlaubsorte und für das Lebensende gibt es – entgegen verbreiteter Hoffnungen – Kliniken oder Pflegeeinrichtungen. Die Beispiele für markante Ausdifferenzierungen in modernen Gesellschaften sind vielfältig. Zugleich entstehen damit auch neue Orte mit eigenen Verhaltensweisen. Das gilt etwa für die Arbeitswege. Der Nahverkehrszug und das Auto im Stau sind so im 20. Jahrhundert zu markanten Orten alltäglicher Übergangsriten avanciert. Für viele Menschen sind diese Orte des Arbeitsweges mit festen Ritualen verbunden: dem „Coffee to go“, dem Hörbuch oder der Zeitungslektüre, mehr oder weniger wichtigen Telefonaten. Das Fahrrad, das zunehmend diese Orte des Arbeitsweges ergänzt, wird parallel zum Ort persönlicher Fitness, zum verkehrspolitischen Statement und zum kommunikativen Bestandteil einer umweltbewussten Identitätskonstruktion. Mit all dem ist der Arbeitsweg nicht nur Bestandteil einer Fülle von Mobilitätsphänomenen der Gegenwartsgesellschaft und ein leicht zu übersehendes Element der Arbeitsmigration. Er ist auch ein Distinktionsmarker, in doppelter Hinsicht: Wer einen Arbeitsweg hat und dies mit der Klage über den jüngsten Bahnstreik, die Baustellen auf der Autobahn oder schlechte Radwege auch kommunizieren kann, gehört in der Moderne zu den Leistungsträger/- innen der Gesellschaft und entspricht dem im 20. Jahrhundert etablierten Ideal leistungsbereiter Mitglieder der Gesellschaft. Im Umkehrschluss gilt das Fehlen eines Arbeitsweges schnell als Problemanzeige. Denn wer nicht arbeitet, hat auch keinen Arbeitsweg und gehört vermutlich (und oftmals fälschlich) zu den kranken, den alten oder den arbeitslosen Menschen. Diese pauschale Indienstnahme des Arbeitsweges als gesellschaftlicher Distinktionsmarker enthält freilich viele problematische Elemente, etwa die geringe Wertschätzung gegenüber häuslicher Arbeit, Care-Arbeit und den Arbeitsformen, die nicht als Erwerbsarbeit eingeordnet werden.
Erst im 21. Jahrhundert entsteht eine kleine, gegenläufige Bewegung der Zusammenführung von Arbeits- und Wohnort, etwa bei Menschen, die im eigenen Wohnmobil leben und arbeiten („Van life“) oder bei freien Mitarbeiter/-innen, bei denen das Homeoffice zum Symbol geringer sozialer Absicherung wird. Dass sich die Postmoderne durch die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen auszeichnet, ist auch am Arbeitsweg ablesbar. Denn in den Ballungszentren können sich einfache Angestellte, Pflegekräfte und Menschen mit mittleren Einkommen das Wohnen kaum noch leisten. Die Nähe zum Arbeitsplatz wird hier zum Luxus.
In einer zweiten Hinsicht wirkt der Arbeitsweg als wichtige Trennlinie: Er separiert die sozialen Beziehungen der Arbeit von den sozialen Beziehungen des Privaten. In wohl keiner Berufsgruppe wurde der Wert dieser separierten Sozialräume in den letzten Jahrzehnten so intensiv thematisiert und praktiziert wie bei Lehrer/-innen an allgemeinbildenden Schulen. Zu den Dogmen der Berufsgruppe, die jungen Nachwuchskräften vom ersten Praktikum an mit einem fürsorglichen Gesprächston im Dienstzimmer mitgegeben werden, gehört der Imperativ: „Wohne niemals in der Nähe der Schule, an der du arbeitest.“ Zu groß erscheint das Risiko, dass der Wochenendeinkauf im Supermarkt von den eigenen Schüler/-innen kommentiert wird oder die Benotung einer Klassenarbeit mit übereifrigen Eltern an der Käsetheke verteidigt werden muss. Derartige Begegnungen gelten als Grenzüberschreitungen in einem System, in dem sonst die Separierungen der unterschiedlichen Sphären zum lebensnotwendigen Strukturprinzip geworden sind, und wirken als Stressoren. Die Corona-Pandemie hat mit dem Homeoffice diesem separierenden System massive Verschiebungen eingebracht. Das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit ist damit auch für exakt bemessene Arbeits- und Freizeiten und andere Grenzdefinitionen neu auszutarieren, wie dies zuvor bereits durch die Effekte digitaler Medien erforderlich war. Die entsprechenden Aushandlungsprozesse haben neben den Fake-Hintergrundbildern für Videokonferenzen zum Verbergen der privaten Wohnsituation auch Ratgeberliteratur bis hin zu Kochbüchern für das Homeoffice hervorgebracht.

Gemeindebüro und Pfarrhaus als Anachronismen?

In diesen gesellschaftlichen Entwicklungen und den Aushandlungsprozessen wirkt das Pfarrhaus mit den Büros der gemeindepastoralen Mitarbeiter/-innen wie ein steingewordener Anachronismus. Hier kommen privates Wohnen und pastorales Arbeiten an einem Ort besonders markant zusammen. Dabei ist das Pfarrhaus längst nicht mehr nur Wohnort von Klerikern, sondern wird, bedingt durch Priestermangel, neue Gemeindeleitungsmodelle oder diverse Nutzungskonzepte, längst von unterschiedlichen Bewohner/- innen und Lebenskonzepten geprägt. Die Geschichte von Pfarrhaus und Gemeindebüro ist durchzogen von unterschiedlichen Macht- und Kontrollinteressen, die in erheblichem Maß bis in die Gegenwart zu beobachten sind. Die gegenseitige Kontrolle der Lebensführung von Klerikern und durch Kleriker gehörte gerade im 19. und 20. Jahrhundert zu den Mechanismen eines problematisch männerbündischen Kontrollsystems. Die Kontrolle der Angehörigen einer Pfarrei am Machtzentrum Pfarrbüro drückte sich dort in der detaillierten Sammlung von Informationen über alle Familien in exakt geführten Dateikästen und dem ambivalenten Seelsorgemotiv des „guten Hirten“ aus. Die Kontrollmechanismen setzten sich in den gemeindetheologischen Konzepten der Nachkonzilszeit, in der Kirche, Pfarrhaus und Büro auch architektonisch miteinander verschmolzen, in der sprichwörtlichen Schlüsselgewalt fort. Das Büro im Pfarrhaus als Knotenpunkt der gemeindlichen Informationsflüsse konnte so zum Kulminationspunkt der Pastoralmacht werden (Beck, Pfarrhaus, S. 402).
Neben diesen problematischen Traditionssträngen sind auch die Potenziale und positiven Spezifika des (Pfarr-)Büros wahrzunehmen. Um sie zu identifizieren bedarf es einer Reflexion des Büros von Seelsorger/- innen und anderen kirchlichen Mitarbeiter/-innen als Arbeitsinstrument für seelsorglichen und gemeindepastoralen Dienst.
Dass Büros und Dienstwohnungen kirchlicher Mitarbeiter/-innen zwar zu den teuersten Arbeitsmitteln der Diözesen und Landeskirchen gehören, der Umgang mit ihnen aber nicht das geringste Interesse erfährt, gehört zu den bemerkenswerten Professionalitätsdefiziten der Kirchen. Das (Pfarr-) Büro bietet nicht nur Arbeitsplätze zur Vorbereitung kirchlichen Handelns oder für Verwaltungstätigkeiten. Es ist immer auch Ort für gemeindliche und seelsorgliche Gespräche – und damit vor allem ein Beziehungs- und Kommunikationsangebot. Das Pfarrbüro signalisiert bis in seine bauliche Präsenz das seelsorgliche Angebot: Wir sind erreichbar und ansprechbar. Nicht wenige Seelsorger/-innen unterschiedlicher Berufsgruppen, die Pfarrhäuser bewohnen, haben darunter zu leiden, dass dies auch als Totalverfügbarkeit „rund um die Uhr“ missverstanden wird. Auch unter vielen Seelsorger/-innen gibt es längst den Wunsch, Privates und Dienstliches zu trennen.
Zugleich zeigt die klerikale Distanziertheit mancher Pfarrhauskulturen, dass mit der örtlichen Präsenz noch lange keine persönliche Erreichbarkeit für seelsorgliche Anliegen verbunden sein muss. Nicht nur zu früheren Zeiten, sondern bis in die Gegenwart, wirkt das Pfarrbüro (in manchen Regionen wird es sogar als „Pfarrkanzlei“ oder „Pfarramt“ bezeichnet) auf viele Menschen abschreckend oder sogar angsteinflößend. Es ist eben vielerorts auch ein Ort von Machtmissbrauch und arrogantem Überlegenheitshabitus.
All das gilt nicht für alle Pfarrämter und Gemeindebüros. Aber es sollte mit den Verantwortlichen vor Ort immer wieder reflektiert werden, ob solche ungewollten Wirkungen minimiert und das Selbstverständnis kirchlicher Dienstleistung weiterentwickelt werden können. Es gehört zur Professionalität pastoralen Handelns, Menschen für seelsorgliche Gespräche neben dem Büro auch alternative Orte anzubieten, um (nicht nur bauliche) Barrieren zu reduzieren. Erst in solch einem reflektierten Umgang mit Gemeindebüros drückt sich auch das glaubwürdige Bemühen aus, mit dem Büro Gesprächsbereitschaft und Erreichbarkeit zu kommunizieren.

Das Homeoffice ist nicht das Ende der Erreichbarkeit – eigentlich!

Zu den Herausforderungen der Corona-Pandemie gehörte auch für kirchliche Mitarbeiter/-innen in der gemeindepastoralen Arbeit die Neuorganisation von Arbeitsabläufen. Wo Seelsorger/-innen auch für familiäre Care-Arbeit oder das Homeschooling der Kinder zuständig waren, ergaben sich massive Belastungen, aber auch kreative Aufbrüche im eigenen Arbeiten. Gerade mit dem Nutzen digitaler Medien und mit der Präsenz in den Social Media war es möglich, Kontakte zu pflegen und Beziehungen zu gestalten, worauf seelsorgliches Arbeiten in der Regel aufbaut. Doch wurden gerade im Bereich der katholischen Kirche auch die verbreiteten Ressentiments gegenüber neuen, digitalen Formen der Pastoral und eine lähmende Wirkung diözesaner Vorgaben zur Nutzung von Social Media sichtbar. Hinter vorgehaltener Hand galt vielen Seelsorger/-innen während der Corona-Pandemie: Wer den seelsorglichen Auftrag ernst nimmt, wird mit privater Technik arbeiten und gegen kirchliche Datenschutzbestimmungen verstoßen müssen. Damit entsteht ein Arbeitsumfeld, in dem Seelsorger/-innen sich nur wenig unterstützt gesehen haben, wie mit einer Erhebung im Sommer 2020 im Rahmen der CONTOC-Studie (Churches Online in Times of Corona: www.contoc. org) abgebildet worden ist. Mit der Pandemie und über sie hinaus ist damit auch die Frage aufgeworfen, wie Seelsorger/-innen in gemeindepastoralen und kategorialen Arbeitsfeldern von den diözesanen Strukturen wirksame Unterstützung erfahren können. Im Umgang mit dem Homeoffice pastoraler Mitarbeiter/-innen ist deshalb die Frage wachzuhalten, ob dort auch neue Formen sozialer Interaktion gesucht und gepflegt werden. Wo dies geschieht, erwachsen aus dem Homeoffice wichtige Initiativen. Wo es nur als beschaulicher Rückzugsort verstanden wird, wäre es zu problematisieren.

Warum sich Theologie mit Homeoffice und Gemeindebüro beschäftigt?

Die Betrachtungen zum Arbeitsweg haben zu Beginn beispielhaft die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse beschrieben, die sich in der Moderne für das Verhältnis von Arbeit und Freizeit, von Öffentlichem und Privatem vollziehen. Orte und Räume kommunikativ zu gestalten, ist ein unabschließbarer Prozess, der sich vor allem in sozialen Interaktionen vollzieht. Deshalb wird die veränderte Raumwahrnehmung des 20. und 21. Jahrhunderts in den Geisteswissenschaften als „spatial turn“ markiert. In der Theologie entstehen deshalb theologische Konzepte, in denen Raum- und Ortswahrnehmungen als Ausgangspunkt theologischer Reflexionen dienen. Beispielhaft sei hier auf das Salzburger Projekt „Glaubensräume“ von Hans-Joachim Sander und Gregor M. Hoff verwiesen. In einer Topologischen Dogmatik und einer Topologischen Fundamentaltheologie wird die Ortsverschiebung des Zweiten Vatikanischen Konzils und insbesondere seiner Pastoralkonstitution aufgegriffen, Theologie an den markanten Lebensorten der Gegenwartsgesellschaft zu entwickeln, anstatt sie nur dorthin zu tragen. Wer sich theologisch dieser solidarischen Wahrnehmung von konkreten Lebensorten eigener Zeitgenossen verpflichtet sieht, wird mit der kritischen Relecture eigener Lebens- und Arbeitsorte die persönliche Wahrnehmungskompetenz weiterentwickeln. Oder: Wo Theolog/-innen und Seelsorger/-innen mit dem Homeoffice und der Neujustierung ihres pastoralen Arbeitens ringen, problematische Facetten eigener Distanzierungen bedenken und kreativ nach Möglichkeiten suchen, das Evangelium heilsam und ermutigend ins Gespräch zu bringen, da entstehen auch neue theologische Schwerpunktsetzungen. Nach persönlichen und gesellschaftlichen Krisenerfahrungen solche Reformulierungen des Christlichen zu heben, ist die Aufgabe der Theologie. Sie beginnt im Blick auf eigene Lebens- und Arbeitsräume. 

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