Es scheint, dass die katholische Kirche an ihrem Amt zugrunde geht. Ausgerechnet! – wo doch das Amt der Kirche dienen soll. Nun aber ist es ihr größtes Problem. Und ausrechnen kann man es sich:
- Die Zahl der Priester geht schon seit langer Zeit und auch weiter absehbar zurück. Bald wird die sakramentale Grundversorgung nicht mehr gewährleistet sein. Die Priesterkirche ist an ihr Ende gekommen. Die pastoralen Konsequenzen sind verheerend. Mehr als durch alle Folgen der Säkularisierung ist die Kirche durch sich selbst bedroht.
- Die Zugangsbedingungen zum geistlichen Amt werden kaum mehr verstanden und von einer wachsenden Zahl auch kirchentreuer Katholiken und Katholikinnen nicht mehr akzeptiert. Dass Frauen nicht zum Weihesakrament zugelassen sind, wird heute offen als Frauenfeindlichkeit interpretiert. Maria 2.0 ist hier nur die Spitze eines Eisbergs. Gerade engagierte Frauen wollen und können sich mit ihrer Rolle in der Kirche nicht mehr identifizieren und verlassen sie scharenweise. Sehr viele treten der altkatholischen Kirche bei, um damit jedenfalls zu dokumentieren, dass ihr Austritt aus der katholischen Kirche nicht das Ende ihrer Kirchlichkeit bedeutet. Der Zölibat gilt aus Ausdruck von Sexualitätsfeindlichkeit; dazu weiß man genug von der Einsamkeit vieler Priester, die mit ihrer Überlastung nicht ab-, sondern zunimmt.
- Die herausgehobene Rolle der Bischöfe und Priester wird immer mehr unter der Frage der Machtverteilung diskutiert und kritisiert. Der Bischof leitet die Diözese, der Priester leitet die Gemeinde, er predigt und steht der Eucharistie vor. Diese Akkumulation von geistlicher, aber auch administrativer und finanzieller Macht wird unter dem Vorzeichen des gesellschaftlichen Gleichheitspostulats zurückgewiesen.
- Durch die Missbrauchsfälle und den kirchlichen Umgang damit ist das Systemvertrauen in die Amtskirche nachhaltig erschüttert. Der Priester besitzt heute keinen Amtsbonus mehr, sondern einen Amtsmalus. Welche negativen Auswirkungen dies auf zukünftige Berufungen zum priesterlichen Amt nach sich zieht, ist kaum zu ermessen.
- Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat an vielen Stellen zu Formen des Gottesdienstes geführt, die ohne Priester auskommen. Sehr viele Menschen haben dies nicht als einen Mangel, sondern als eine Bereicherung empfunden. Das Priestertum in seiner bisherigen Form scheint entbehrlich zu sein.
- Nichts deutet darauf hin, dass die katholische Kirche mit der Krise des Amtes fertig wird. Am 27. Juli 2021 hat der Bonner Kirchenrechtler Prof. Norbert Lüdecke in der SZ deutliche Worte gefunden: Ebenso wie der frühere Dialogprozess sowie diverse diözesane und gemeindliche Synoden werde auch der Synodale Weg keine Lösung des Amts- und Hierarchieproblems erreichen. „Die katholische Kirche versteht sich unabänderlich als stände und geschlechterhierarchisch verfasst Religion. […] Ein echter Dialog kann in der katholischen Kirche per definitionem nicht stattfinden.“ Der Synodale Weg und vergleichbare Reforminitiativen seien nichts anderes als Versuch der Bischöfe, Dampf aus dem Kessel abzulassen. Umso böser werde das Erwachen sein, wenn auch der Synodale Weg scheitert. Lüdecke empfiehlt, der Institution Kirche die Finanzen zu entziehen. In Deutschland geht das nur auf dem Wege des Kirchenaustritts. „Ein Austritt muss ja nicht den Abfall von der katholischen Kirche bedeuten, sondern es geht darum, instrumentelle Ressourcen jenen Männern zu entziehen, von denen man sich nicht mehr in angemessener Weise vertreten sieht.“
Die Frage ist, ob massenweise Kirchenaustritte einen Sinneswandel der Kirchenleitung bewirken. Was sind die Gründe für die Reformunwilligkeit der Bischöfe und auch des Vatikans? Unter den vielen Motiven, die man hier nennen könnte, ist das sicher nicht unbedeutendste das Fehlen von alternativen Modellen des kirchlichen Amtes. Seltsam: Man spricht über mehr Partizipation, über die Verantwortung der Laien, über eine Pastoral der Berufung, über die Konzentration auf das Wesentliche im priesterlichen Amt. Aber die überkommene Amtsstruktur der katholischen Kirche wird so gut wie nicht in Frage gestellt. Soweit ich die Literatur überschaue, gibt es keine neuen Ideen, wie das Amt der Kirche im 21. Jahrhundert aussehen könnte. Reformvorschläge, die an die Ordnung und Struktur der Kirche rühren, sind mir nicht bekannt. Woran könnten sich also reformwillige Bischöfe halten? Sind sie von der Theologie gut beraten?
Von 2012 bis 2016 hat sich eine Forschungsgruppe, an der alle Disziplinen der Theologie und auch die Soziologie beteiligt war, mit dem Thema „Das dreifache Amt Jesu Christi und das Amt in der Kirche“ beschäftigt. In dem Buch Balance of Powers habe ich die Ergebnisse dieser Arbeit zusammengefasst und für ein konkretes Amtsmodell ausgewertet (Thomas Ruster, Balance of Powers. Für eine neue Gestalt des kirchlichen Amtes, Regensburg 2019). Dieses Modell für eine andere Form des Amtes werde ich kurz vorstellen und danach seine Stärken und Potenziale benennen. Für die genauere theologische Begründung und die Klärung der Begriffe verweise ich auf das genannte Buch.
Gewaltenteilung in der Kirche. Das Modell
Leitidee: Die bisher im Amt des Priesters zusammengefassten drei Aufgaben des Leitens, Heiligens und Lehrens – das königliche, priesterliche und prophetische Amt – werden entkoppelt und auf drei Personen verteilt. Zu einer Gemeinde gehören mithin immer drei Amtsträger. Beim Bischofsamt bleibt die Kopplung der drei Ämter bestehen.
(Relative) Ordination: Zu allen drei Ämtern erfolgt eine sakramentale Ordination. Diese ist im Unterschied zur herkömmlichen Priesterweihe nur auf das jeweilige Bistum bezogen und gilt nur, solange das entsprechende Amt auch ausgeübt wird.
Findungsprozess und Eignungsprüfung der Kandidat/-innen: Von den Gemeinschaften, die sich als kirchliche Gemeinden verstehen – das müssen nicht nur die bestehenden Ortsgemeinden sein –, werden Personen, die für eines der drei Ämter eine besondere Eignung besitzen – selbstverständlich Frauen und Männer – für eines der drei Ämter berufen. Die Berufenen werden um ihre Zustimmung gefragt; dies kann in einem Gottesdienst geschehen. Falls die Zustimmung erfolgt, werden die Kandidat/-innen dem Ortsbischof zur Ordination vorgeschlagen. Dieser prüft ihre Eignung und trägt für eine angemessene Ausbildung Sorge (das muss nicht immer ein volles Theologiestudium sein). Der Bischof nimmt dann ggf. die Ordination vor.
Ämter auf Zeit/Haupt- und Nebenamtlichkeit: Die Ämter werden für eine begrenzte Zeit vergeben. Nach dem Vorbild der Diözese Poitiers mit ihren Erfahrungen einer „culture de l’appel“ empfiehlt sich eine Amtszeit von drei Jahren mit der einmaligen Möglichkeit einer zweiten Amtszeit. Die Ämter können je nach Gegebenheit haupt- oder nebenamtlich, d. h. bezahlt oder ehrenamtlich ausgeübt werden.
Im Einzelnen bleiben hier noch viele Fragen offen: Wie sind die Aufgabenbereiche der drei Ämter abzugrenzen? Welche Ausbildung ist erforderlich? Kann eine Person auch mehrere Ämter zugleich innehaben? Wie ist der Übergang vom alten zum neuen Amtsmodell zu gestalten? Gibt es in Zukunft zölibatäre Vollkleriker und „Teilkleriker“? Aus welchem Personenkreis rekrutieren sich die Bischöfe? Weiterhin kann man auch überlegen, ob die Dreiteilung des Amtes auch auf der Bischofsebene vorgenommen werden soll. Dafür spricht einiges, ich plädiere allerdings für die Beibehaltung der Einheit der drei Ämter bei den Bischöfen. Dies zum einen wegen der Treue zur katholischen Tradition, zum anderen wegen der Weihekompetenz: Wer zu einem Amt ordiniert, muss es auch selber innehaben. Die besondere Aufgabe der Bischöfe nach dem neuen Ämtermodell würde darin bestehen, für die gute Zusammenarbeit der drei Ämter auf Gemeindeebene zu sorgen.
Eine neue Theologie des Amtes
Nur stichwortartig kann ich hier ausführen, dass dem auf den ersten Blick schlicht wirkenden Amtsmodell eine neue Theologie des Amtes zugrunde liegt.
Gewaltenteilung: Der neuzeitliche Staat hat auf die Monopolisierung der Macht mit dem Prinzip der Gewaltenteilung reagiert. Zwar deckt sich die Unterscheidung von Legislative, Judikative und Exekutive nicht mit der Unterscheidung von königlichem, priesterlichem und prophetischem Amt, der Sache nach liegt aber ein vergleichbares Verhältnis vor: Macht muss so aufgeteilt werden, dass sich die Instanzen gegenseitig korrigieren und kontrollieren. Mit dem Modell der drei Ämter kommt die Kirche somit auf den Stand des neuzeitlichen Umgangs mit Macht.
Biblische Begründung: Im Unterschied zum alten Amtsmodell, dessen Leitidee, Jesus habe beim Abendmahl die Apostel gleichsam zu Bischöfen geweiht und ihnen eine spezielle Amtsvollmacht mitgegeben, theologisch schon lange nicht mehr gedeckt ist, steht das neue Amtsmodell auf einem soliden biblischen Grund. Königtum, Priestertum und Prophetie sind die drei Ämter, die durch Gottes Berufung in Israel eingerichtet worden sind. Ein idealer Verfassungsentwurf findet sich in Dtn 17f. Geht man den zahlreichen Erzählungen über die Kooperation, aber auch die Konflikte zwischen den drei Ämtern in der Bibel nach, zeigt sich deutlich das Prinzip der Gewaltenteilung. Im Neuen Testament ist zwar nicht systematisch, aber doch der Sache nach von Jesu Königtum, Priestertum und Prophetentum die Rede; die kirchliche Tradition hat das aufgegriffen und in verschiedenen Zusammenhängen von den drei Ämtern Jesu Christi gesprochen.
Abkehr vom Konzept der priesterlichen Vollmacht: Nach der im Mittelalter entwickelten Amtstheologie verleiht die Weihe dem Priester eine besondere Vollmacht (potestas ordinis) zur Konsekration der eucharistischen Elemente und zum Nachlass der Sünden. Von dieser theologisch längst überholten, nur historisch zu erklärenden Lehre kann Abstand genommen werden.
Amt und Öffentlichkeit: Der Unterschied von privatem und amtlichem Handeln liegt im Bezug auf Öffentlichkeit. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Liturgie als cultus publicus bezeichnet (SC 7), deswegen ist dort amtliches Handeln vonnöten. Die Kirche feiert Eucharistie vor der himmlischen und irdischen Öffentlichkeit. Die allen Christinnen und Christen bei der Taufe verliehene Teilhabe an den drei Ämtern Christi befähigt sie zu königlichem, priesterlichem und prophetischem Handeln. Bei den Amtsträgern wird dieses Handeln öffentlich, nur darum gibt es in der Kirche Ämter, theologisch gesprochen.
Umsetzung des Konzils: Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Kirche durch ihre Teilhabe am dreifachen Amt Jesu Christi bestimmt, das ist seine eigentliche ekklesiologische Innovation (vgl. LG 13 u. ö. und dann in fast allen Dokumenten des Konzils, die auf LG folgen). Der Begriff com-munio ist mit Gemeinschaft nicht richtig übersetzt, gemeint ist vielmehr die gemeinsame Teilhabe an den Ämtern (lat. munus/munera) Christi. Die Unterscheidung zwischen Bischöfen und Laien macht das Konzil an ihrer unterschiedlichen Wahrnehmung der drei Ämter fest (vgl. LG Kap. 2f.). Dem Kompromisscharakter des Konzils ist es geschuldet, dass unter dem Einfluss der Lehre von dem nicht nur graduellen, sondern wesentlichen Unterschied zwischen allgemeinem und besonderem Priestertum (LG 10) Aussagen zu finden sind, nach denen die Bischöfe das munus regendi ausüben, indem sie die Kirche leiten, die Laien aber, indem sie sich der Leitung unterwerfen; und das munus sanctificandi, indem sie die Sakramente verwalten, die Laien aber, indem sie sie empfangen; und das munus docendi, indem die Bischöfe vollmächtig lehren, während die Laien ihnen gehorchen. So erklärt sich, dass das Reformanliegen des Konzils nicht zur Wirkung kam. Erbe und Auftrag des Konzils liegen aber eindeutig darin, die Kirche und dann insbesondere das kirchliche Amt von ihrer Teilhabe am dreifachen Amt her zu verstehen. Das neue Amtsmodell wird diesem Reformanliegen des Konzils gerecht. Der lange ersehnte, bislang aber ausgebliebene Erneuerungsschub durch das Konzil könnte endlich zum Durchbruch kommen.
Eine neue Praxis der Berufung: Vom neuen Modell her ist Berufung als aktives Handeln zu verstehen. Christinnen und Christen entdecken die Berufung von Menschen und sprechen sie ihnen zu. Die Kunst der Berufung in der Kirche hat ihren theologischen Anhalt am Berufungshandeln Gottes und Jesu, wie es die Bibel bezeugt. Sie ist getragen und gestützt von sozialpsychologischen Erkenntnissen zur Dynamik von Berufung, die sich auch Gottes Geist zunutze macht.
Umsetzbarkeit: Die Bischöfe sind „mit der Fülle des Sakraments der Weihe ausgezeichnet“ (LG 26), das war ein wesentliches und hart erkämpftes Ergebnis des Konzils. Sie handeln nicht in Delegation des Papstes, sondern in eigener Weihevollmacht. Die Bischofsweihe aber „überträgt mit dem Amt der Heiligung auch die Ämter des Lehrens und des Leitens“ (LG 21). Nichts spricht dagegen, diese Ämter auch je für sich zu verleihen. Wenn Bischöfe Menschen zum königlichen, priesterlichen oder prophetischen Amt ordinieren, kann keine Macht der Welt, auch nicht der Papst, die Gültigkeit dieser Weihen anfechten. Diese Bischöfe hätten allenfalls disziplinarische Konsequenzen zu fürchten. Dafür würden sie von der späteren Kirchengeschichtsschreibung als Retter der Kirche aus ihrer tiefen Krise gefeiert werden, einer Krise, die durch eine theologisch völlig überholte und in der Praxis untaugliche Ämterstruktur verursacht worden ist.