Fazit
Das Zweite Vatikanische Konzil bezeichnet die Kirche immer wieder als pilgerndes Volk Gottes. Dieses Bild hat sie nur ansatzweise in ihr bisheriges Selbstverständnis integriert. Von der Pilgerbewegung, den Pilgern und Hospizen auf dem Weg, kann sie in der gegenwärtigen Kirchenkrise lernen, die Transformationsprozesse in eine neue Sozialgestalt als synodale Wege zu einer Kirche unterwegs zu gestalten.
Ein Jahr später erschien von Hape Kerkeling der Reisebericht „Ich bin dann mal weg“ über seine Erfahrungen auf dem St. Jakobus-Pilgerweg nach Santiago de Compostela. Das Buch hat sich über viele Wochen auf Platz eins der Bestsellerliste behauptet und im deutschsprachigen Raum eine Welle der Pilgerbegeisterung ausgelöst. Beide Beispiele lassen sich als neue Aufmerksamkeit für das Unterwegssein und als Zeichen der Zeit deuten.
Der Mensch – ein Homo viator
Das Unterwegssein steckt dem Menschen in den Genen. Von seiner Natur her ist dieser nicht zum Sitzen und Bleiben geschaffen. Seinem Wesen nach ist er „Homo viator“, lebenslang unterwegs: „Er beginnt seinen Weg, ohne gefragt worden zu sein, ob er will. Und er läuft seine Bahn bis zum Tod, den er ebenfalls nicht in der Hand hat. Dazwischen gibt es Stationen, die er bewältigen muss, oft aber nur mit fremder Hilfe bewältigen kann“ (Jan Heiner Türk in CIG-2/2019).
Menschen sind unterwegs, soweit man in die Geschichte zurückblickt. Die einen brechen auf in einen bewohnbaren Lebensraum oder eine neue Heimat, andere fliehen vor Verfolgung, Krieg oder Naturkatastrophen. Pendler legen oft weite Wege zum Arbeitsplatz zurück; Menschen in Ländern des Südens sind auf der Suche nach Wasser, Nahrung, Bildung und medizinischer Versorgung. Eine herausragende wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung nimmt der Tourismus ein. Nicht zuletzt ist die Pilgerbewegung und das Reisen zu den unterschiedlichen Wallfahrtsorten zu erwähnen.
Unterwegssein in der Bibel
Vom Unterwegssein erzählt die Bibel von den ersten bis zu den letzten Seiten. Erinnert sei an die Vertreibung (Gen 3,24) von Adam und Eva aus dem Paradies nach dem Sündenfall oder an den gottgesegneten Aufbruch Abrams und seiner Frau Sara (Gen 12,1–3). Das Exodus-Buch erzählt vom Aufbruch des auserwählten Volkes unter Mose in die Freiheit, vom Bundesschluss mit Gott und dem Weg ins gelobte Land. Nach Landnahme und Besiedelung Palästinas und der Glanzzeit des davidischen Königtums kommt es nach der Teilung in ein Nord- und Südreich zu mehreren Deportationswellen. Sie leiten die wechselvolle Geschichte der Fremdherrschaft und den Beginn des Exils ein, in dem das Volk Israel über die Länder hinweg zerstreut wird. Seither ist die Frage virulent, mit der es seit dem Babylonischen Exil konfrontiert ist: Wie können wir im Unterwegssein unter fremden Völkern unsere Identität wahren? Die Pilger- und Wallfahrtstradition gibt darauf eine Antwort. Erste Spuren lassen sich bis in die Frühphase Israels zurückverfolgen (Gen 13,3f.,18; 35,6f. usw.). In davidischer Zeit gewinnt die Wallfahrt zum Jerusalemer Tempel immer mehr an Bedeutung (vgl. Jes 30,29; 1 Kön 12,27). Davon legt die Gattung der Wallfahrtspsalmen (vgl. Ps 84; 120–134) ein beredtes Zeugnis ab. In der Vision von einer endzeitlichen Völkerwallfahrt zum Zion (vgl. Jes 2,2–5; 60,3–6) hält die Prophetenliteratur die eschatologische Hoffnung im kollektiven Gedächtnis wach.
Das Leben Jesu ist ein Unterwegssein von Anfang an. Er bezeichnet sich selbst als heimatlos in der Umwelt (vgl. Mt 8,20; Lk 9,58). Das öffentliche Leben und Wirken Jesu liest sich bei allen Unterschieden der vier Evangelisten wie Weg- und Pilgergeschichten, die ihn von Galiläa nach Jerusalem führen. Unterwegs erzählt er den Jüngern die Gleichnisse vom Reich Gottes, lässt sie teilhaben an seinem wunderbaren Wirken und stimmt sie auf ihre zukünftige Sendung ein. Unterwegs erfährt er die Gastfreundschaft von Menschen wie Maria und Martha (Lk 10,38– 42). Unterwegs heilt er Kranke und Besessene und holt Ausgestoßene wie Zachäus in seine Gemeinschaft zurück (Lk 19,1–10). Das Ziel seiner Reisen ist Jerusalem; beginnend mit dem Einzug in die Stadt, gefolgt vom letzten Abendmahl bzw. Abschiedsmahl, dem Weg in den Ölgarten mit dem Verrat und der Passion und mit der Kreuzigung auf Golgota als grausamen Schlusspunkt seines irdischen Lebens.
In besonderer Weise ist das lukanische Doppelwerk vom Leitgedanken des Weges inspiriert, von der Kindheitsgeschichte bis zu den Begegnungen des Auferstandenen mit den Frauen, den Aposteln und Jüngern. Die Emmausgeschichte (Lk 24,13–35) bildet einen besonderen Glanzpunkt lukanischer Wegerzählungen. In der Apostelgeschichte werden die gläubig gewordenen Christinnen und Christen als „Menschen des neuen Weges“ (vgl. Apg 9,2; 19,23; 24,14) bezeichnet. Exemplarisch wird dieser Gedanke an den Schlüsselfiguren Petrus und Saulus-Paulus illustriert und theologisch entfaltet. Daneben ist auch das Matthäusevangelium in seiner spezifisch-theologischen Absicht vom Motiv des Unterwegsseins Jesu inspiriert. Schon die Geburt Jesu ist von Weggeschichten umrankt: Magier folgen dem Stern, der sie zum Kind in der Krippe lenkt (Mt 2,1–12). Es folgt die Flucht der jungen Familie vor den Häschern Herodes nach Ägypten (Mt 2,13–15) und ihre Rückkehr mit der Ansiedelung in Nazareth (Mt 2,19–23). Am Ende des Matthäusevangeliums ereignet sich die Begegnung mit dem Auferstandenen nicht in Jerusalem, sondern in Galiläa, wo das öffentliche Wirken Jesu seinen Anfang genommen hatte. Hier trifft er die Jünger, um sie zur Mission in seinem Geist zu beauftragen und zu senden (vgl. Mt 28,19).
Auf dem Weg nach Jerusalem hat sich Jesus als Pilger verstanden, sich in die Wallfahrtstradition seines Volkes eingefügt und mit seinen Besuchen den Tempel als zentralen Ort der Gottesverehrung gewürdigt (vgl. Lk 2,41–51; 21,1–4 u. a.). Den Kult, den er dort antrifft, bewertet er jedoch kritisch. In der Tempelreinigung geißelt Jesus die Überlagerung des Religiösen durch ökonomische Interessen (Joh 2,13– 22 parr.). In der Begegnung mit der Samariterin am Jakobsbrunnen stellt er klar: „Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet“ (Joh 4,21). Nach der Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) transformiert das Johannesevangelium diese Wallfahrt in eine Leib-Christi-Symbolik: In Jesus Christus verschmelzen Pilgerweg und Wallfahrtsziel, sie werden auf seine Nachfolge hin neu ausgerichtet: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Für die im Glauben Bedrängten und Gefährdeten zeichnet der Hebräerbrief das Leitbild vom pilgernden Volk Gottes, dem das Himmlische Jerusalem als Ziel irdischer Wallfahrt (vgl. Hebr 12,22– 24) vor Augen gestellt wird. Am Ende des Buchs der Offenbarung wird den Gläubigen das himmlische Jerusalem als Stadt des Trostes, des großen Friedens und der unverhüllten Gottesgegenwart vor Augen gestellt. Zu ihr pilgern die Völker, dort finden die Einlass, „die im Lebensbuch des Lammes eingetragen sind“ (Offb 21,27).
Kirche unterwegs – von den Anfängen bis in die Gegenwart
Das Unterwegs-Sein erweist sich als ein konstitutives Element in der apostolischen Generation und der Institutionalisierungsphase der Kirche des Anfangs. Erinnert sei an die großen Distanzen, die der Völkerapostel Saulus-Paulus auf seinen Missionsreisen meist zu Fuß zurückgelegt hat. Christen und Christinnen, die aus beruflichen und anderen Gründen im Römerreich unterwegs waren, zum Beispiel Beamte, Händler, Soldaten, Lehrer und Künstler usw. haben den christlichen Glauben innerhalb von nur 100 Jahren bis an seine Grenzen ausgebreitet. In den Städten erfahren sie die Gastfreundschaft von lokalen christlichen Gemeinden. Ihr karitativer Lebensstil trägt ebenfalls zur Ausbreitung des Glaubens bei.
Eine Pilgerbewegung lässt sich für das frühe Christentum noch nicht nachweisen. Bezeugt ist sie seit dem zweiten Jahrhundert. Kaiserin Helena, die ca. 324, und die Pilgerin Egeria, die (zwischen 381 und 384) ins Heilige Land gereist sind, initiieren in der Spätantike eine christliche Wallfahrtstradition. Die Pilgerwege führen zu den Heiligen Stätten in Palästina sowie zu den Gräbern der Apostel und Märtyrer in Rom. Im Hochmittelalter kommt es in Europa zu einer Blüte der Wallfahrtsbewegung, nicht zuletzt aufgrund der abgeschnittenen Pilgerwege ins Heilige Land. Neben dem Wunsch nach sinnlich erlebbaren Ausdrucksformen des Religiösen kommt darin auch die Sehnsucht nach Halt und Trost bei persönlichen Schicksalsschlägen und Pestpandemien, in Krieg und Hungersnot zum Ausdruck. Wachsende Missstände beim Pilgern, magische Praktiken an den Wallfahrtsorten sowie der Reliquien- und Ablasshandel leiten dann eine Kirchenkrise ein, die nicht unwesentlich zum Ausbruch der Reformation beigetragen hat. Seit Beginn der Neuzeit lassen sich wechselnde Zeiten der Begeisterung und der Ablehnung des Pilgerns und der Wallfahrt nachweisen. Gegenwärtig erlebt diese Bewegung, nicht nur der St. Jakobus-Weg, wieder eine Blütezeit. Nicht zuletzt durch die digitalen Medien ist diese zu einer über Europa reichenden Bewegung spätmoderner Spiritualität und populärer Religion mutiert. Selbst die Corona-Pandemie konnte sie nicht gänzlich stoppen. Die zeitgenössische Pilgerbewegung hat jedoch einen Emanzipationsprozess durchlaufen und sich weitgehend von institutionellen Bindungen an die katholische Kirche als Träger der Wallfahrtstraditionen gelöst. Heute sind Pilger eher Sinnsucher aufgrund unterschiedlicher Reiseanlässe und Motive als religiöse und kirchlich gebundene Gläubige.
Die Kirche auf synodalen Lernwegen
In den synodalen Prozessen auf weltkirchlicher und deutscher Ebene wird an die biblischen Weg- und Pilgermotive erinnert. Für den synodalen Weg dient vor allem die Emmauserzählung als Orientierung bei konfliktbesetzten Themen. Sie könnten sich auch bei der Diskussion über die Zukunft der kirchlichen Pilgertradition mit den zahlreichen und vielfältigen Wallfahrtsorten und bei der partizipativ angelegten Verhältnisbestimmung zur spätmodernen Pilgerbewegung als hilfreich erweisen. Das Konzil (1962–1965) hat die Metapher vom pilgernden Volk als leitmotivisch für das Selbstverständnis der Kirche in den vier Konstitutionen betont (vgl. SC 8; LG 6.7.14.21.48– 50.58.62; DV 7; GS 1.45.57 sowie im Dekret AG 2). Eine Kirche, deren Handeln und Kultur sich vom Weg Jesu inspirieren lässt, sagt ja zum Aufbrechen, Unterwegssein und Ankommen in der Fremde, zu einem Leben mit leichtem Gepäck, zum Annehmen und Pflegen der Gastfreundschaft usw. Das bleibt nicht folgenlos im Habitus ihrer Rollenträger und der Kirchenkultur, von der Ortskirche bis zu den vielen lokalen Orten geistlich-caritativen Lebens. Auf dieser Basis erhält auch das Eingestehen von Fehlern und die Implementierung einer Fehlerkultur eine tiefere, eine geistliche Bedeutung. Somit hält die Metapher vom pilgernden Gottesvolk das Wissen um die fragmentarische Identität der Kirche, ihren diakonisch-missionarischen Sendungsauftrag und ihre eschatologische Zielbestimmung wach.
Ausblick
Zum Abschluss möchte ich diese Gedanken pastoraltheologisch auf drei Aspekte hin ausmünzen:
- Die Kirche unterwegs kann von der Pilgerbewegung lernen, mutig den Übergang in eine neue Sozialgestalt zu wagen. Sie wird sich dabei von der zu Ende gehenden Epoche verabschieden, ihre Erfolge und Niederlagen, ihr Licht und ihren Schatten kritisch betrachten, ihre Trauer „unter die Füße nehmen“, unterwegs mit Überraschungen rechnen und Angebote „heiliger Gastfreundschaft“ (Christoph Theobald) annehmen.
- Eine Kirche, die den Einzelnen in seiner Einzigartigkeit würdigt, wird ihre Seelsorge und die pastoralen Angebote für biographische Begegnungen öffnen, um Menschen im Sinne der Gradualität auf ihrem aktuellen Wegabschnitt zu begleiten.
- Vor allem kann die Kirche unterwegs durch die Zeitgenossenschaft mit der Spätmoderne lernen, sich selbst geistlich auf erschütternde und beglückende Transzendenzerfahrungen mit dem geheimnisvollen trinitarischen Gott einzulassen.
Nicht zuletzt der Schriftsteller Peter Handke, der in „Gestern unterwegs“ (2005) Lebenserfahrungen aus einer Zeit ohne festen Wohnsitz und wie ein Fußpilger unterwegs reflektiert hat, könnte zum Aufbrechen ermutigen und uns mutige Zukunftsperspektiven vor Augen stellen.