Fazit
Gewaltfreiheit im Sinn der Katholischen Initiative für Gewaltfreiheit ist kein Verzicht auf Gewalt. Denn sie „verzichtet“ nicht, sondern entscheidet sich für eine Vielzahl an lebensbejahenden Alternativen zur Gewalt. Sie richtet sich auf das Leben in Fülle aus und verändert dadurch den Lebensstil und die Spiritualität derer, die sich zu ihrer Praxis bekennen.
Ermutigt durch zahlreiche Äußerungen zu Frieden und Gewaltfreiheit, die Papst Franziskus in den ersten Jahren seines Pontifikats getätigt hatte, organisierte im Jahr 2016 die internationale katholische Friedensbewegung Pax Christi zusammen mit dem Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden eine Konferenz über Gewaltfreiheit und Gerechten Frieden in Rom. Aus dieser Konferenz erwuchs der Wunsch, mit Fachleuten aus aller Welt einen theologischen Grundlagentext zur Gewaltfreiheit zu verfassen.
Im darauffolgenden Jahr stellte der Papst seine Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Januar ganz ins Zeichen der Gewaltfreiheit. Diese Botschaft wurde als Ermutigung für den begonnenen Prozess verstanden. Auch inhaltlich konnte immer wieder darauf Bezug genommen werden. Über 120 Fachleute aus aller Welt, aus Theologie und anderen Wissenschaften, aus Friedensbewegungen und Kirchen arbeiteten anschließend zwei Jahre lang in einem digitalen Netzwerk zusammen, bis ein erstes Dokument vorlag, das im April 2019 bei einer weiteren Konferenz in Rom diskutiert und anschließend überarbeitet und schließlich 2020 in englischer Sprache veröffentlicht wurde. Die deutsche Übersetzung soll noch 2022 erscheinen.
Das Dokument reflektiert Gewaltfreiheit als eine spezifisch katholische Tradition. Im Dialog mit dem Vatikan zeigte es sich, dass es wertvoll ist, das katholische Profil dieser Spiritualität zu beschreiben, nicht um sich von anderen Kirchen abzugrenzen, sondern die tiefe Verbundenheit mit jenen Kirchen zu signalisieren, die sich schon länger klar gegen die Ausübung von Gewalt ausgesprochen hatten.
Auf über 300 Buchseiten wird nun eine katholische Theologie der Gewaltfreiheit biblisch, lehramtlich und auf der Grundlage der Tradition begründet. Diese Theologie schließt auch selbstkritisch die Notwendigkeit der Umkehr ein, etwa in Form der Abkehr von der traditionellen Lehre vom „Gerechten Krieg“, die von der katholischen Kirche in der Vergangenheit vertreten wurde.
Ein Beispiel internationaler Verflechtungen
Die Katholische Initiative für Gewaltfreiheit greift zahlreiche Beispiele aus vielen Teilen der Welt auf, in denen sowohl die Spiritualität wie auch die Effizienz gewaltfreier Konfliktlösung sichtbar werden. Eines der sieben Fallbeispiele, die im Abschlussdokument ausführlich beschrieben werden, reflektiert die Erfahrungen von Sarah Thompson Nahar, einer US-amerikanischen Friedensarbeiterin der Christian Peacemaker Teams in Kolumbien. In den Landkonflikten um die Palmölproduktion in Kolumbien verschränken sich internationale wirtschaftliche Interessen, ökologische Zerstörungen und die paramilitärische Absicherung von Landraub und Vertreibung indigener und armer Bevölkerung im Namen des sogenannten Drogenkriegs. Thompson und die Christian Peacemaker Teams verbanden die gewaltfreie Friedensarbeit vor Ort mit Protestaktionen in Kosmetikgeschäften in London, in denen Produkte verkauft wurden, die mit kolumbianischem Palmöl hergestellt waren. So machten sie die internationalen strukturellen Verflechtungen militärischer Gewalt sichtbar, mit dem Erfolg, dass die indigenen Eigentümer/-innen in Kolumbien auf ihr Land zurückkehren konnten.
Sarah Thompson ist kein Einzelfall, das zeigt die Analyse der Katholischen Initiative für Gewaltfreiheit. Es fällt vielmehr auf, dass viele dieser konkreten Beispiele das Handeln von Frauen dokumentieren. Das ist kein Zufall, denn während militärische und gewalttätige Konfliktstrategien weltweit eindeutig eine Männerdomäne sind, wird Gewaltfreiheit heute vor allem von Frauen praktiziert. Die Beispiele, die angeführt werden, unterstreichen auch, dass Gewaltfreiheit auf allen Kontinenten praktiziert wird, in sehr unterschiedlichen Konfliktszenarien und von verschiedenen katholischen Institutionen und Bewegungen.
Das Vorbild Jesu
Die spirituelle Dimension der Gewaltfreiheit stützt sich vor allem auf die Praxis und das Vorbild Jesu. Im Einsatz für gewaltfreie Konfliktlösung können sich Menschen heute als seine Nachfolger/-innen erkennen. Die Katholische Initiative für Gewaltfreiheit macht deutlich, dass Jesus sehr unterschiedliche Formen der Gewaltfreiheit praktizierte, um seine Botschaft erfahrbar zu machen: So behandelt er Menschen aus Samaria, aus dem benachbarten Ausland und sogar einige Römer nicht als Fremde oder gar als Feinde. Vielmehr sieht er in ihnen die Menschen und wehrt so der Gewalt, noch bevor sie entstehen kann. In der Bergpredigt ruft Jesus dazu auf, Gewalt mit kreativen, entwaffnenden Mitteln zu unterbrechen, etwa bei der Aufforderung an die Jünger, unter Zwang nicht nur eine, sondern eine zweite Meile mitzugehen. Strukturelle Gewalt macht Jesus sichtbar, indem er ihr Widerstand leistet, etwa wenn er sich bei ausgegrenzten Menschen zum Essen einlädt. Zur Lösung von Konflikten rät Jesus zur nachhaltigen Versöhnung, also siebzigmal siebenmal zu vergeben. Die Heilungen von Frauen, die als unrein gelten, verweisen auf Jesu Engagement gegen genderbezogene Gewalt.
Gemeinsam mit seinen Jünger/ -innen begründet und lebt Jesus eine gewaltfreie und egalitäre Gemeinschaft, in der die Verantwortlichen sich im Sklavendienst und nicht in der Machtausübung ausweisen sollen. Jesus lebt diese gewaltfreie Spiritualität konsequent bis zum Ende: Auch bei seiner Verhaftung und der Hinrichtung am Kreuz bleibt er gewaltfrei und vergibt sogar noch seinen Henkern.
Das Kreuz scheint zwar die endgültige Bestätigung dafür zu sein, dass Jesu Gewaltfreiheit letztlich dann doch gescheitert ist. Dem widerspricht jedoch die Erfahrung der Jüngerinnen und Jünger, denen Jesus nach seinem Tod als Lebendiger erscheint und denen er den Frieden zuspricht: als Geschenk und als Auftrag. Gewaltfreiheit als befreiende Spiritualität bleibt so in Kraft und wirkt durch die Praxis der Menschen fort, die sich an Jesus orientieren.
Von Jesus ausgehend beschreibt die Katholische Initiative für Gewaltfreiheit eine umfassende katholische Theologie der Gewaltfreiheit. Von den Schöpfungserzählungen über die Propheten und andere biblische Texte bis zu Kriegsdienstverweigerern in der Kirchengeschichte und Heiligen Foto © ARTKucherenko/GettyImages wie Franz von Assisi zeigt sich eine fortwährende christliche Tradition der Gewaltfreiheit. Gewaltfreiheit erweist sich so als die wirklich christliche und katholische Antwort auf Gewalt, sie ist die Strategie zur Lösung von Gewalt, die sich auf Jesus und auf die Tradition des Glaubens an ihn berufen kann.
Gewaltfreiheit wirkt
Gewaltfreiheit ist bis heute mehr als nur eine wirksame Lösungsstrategie. Die Katholische Initiative für Gewaltfreiheit erklärt, dass sie das effizienteste und nachhaltigste Mittel der Austragung von Konflikten bis in die Gegenwart ist, sowohl im internationalen wie im lokalen und zwischenmenschlichen Bereich. Das zeigen nicht nur die vielen konkreten Beispiele, die von der Initiative dokumentiert wurden. Auch wissenschaftliche Studien belegen, dass Gewaltfreiheit Konflikte nicht nur effizienter verhindern und beenden kann als Gewalt, sondern auch mit einer höheren Sicherheit anschließend zu stabilen und demokratischen Gesellschaften führt. Denn sie fördert schon im Prozess der Konfliktaustragung friedliche, gerechte und partizipative Beziehungen, die nach dem Konflikt wirksam bleiben.
Dies zu beachten, würde in der Gegenwart nicht nur viele militärische Auseinandersetzungen unnötig machen. Auch angesichts zahlreicher gesellschaftlicher und innerkirchlicher Konflikte ist es hilfreich, sich auf Formen der Konfliktaustragung zu besinnen, in denen die scheinbaren Gegner zunächst einmal als Menschen angesehen werden, die berechtigte Interessen und Ängste haben. Auch das Aufdecken von tiefer liegenden strukturellen Konflikten und kulturellen Ausschlussmechanismen kann helfen, auf gewaltfreie Weise die Wurzeln eines Konflikts sichtbar zu machen, um sie bearbeiten zu können. Die Kreativität und unbedingte Lebensbejahung, die gewaltfreien Konfliktstrategien eigen sind, ermöglichen es, immer wieder neue konkrete Lösungsschritte zu suchen und zu gehen. Dabei sind grundsätzlich keine Wege versperrt – nur die verletzende Gewalt wird ausgeschlossen, die einen anderen Menschen nicht in seinem Menschsein anerkennt.
Spiritualität der Gewaltfreiheit
Die Spiritualität, die von der Katholischen Initiative für Gewaltfreiheit beschrieben wird, wirkt nicht nur in militärischen Konflikten hilfreich. Als christliche, katholische Antwort auf das Phänomen der Gewalt enthält sie auch eine ganzheitliche Dimension, die eine umfassende Transformation des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebensstils in allen Lebensbereichen zur Folge hat. Sie lebt aus einem kontemplativen Kern, der in jedem Menschen einen Menschen sieht, sei es dass er oder sie Gewalt leidet oder Gewalt übt. Jeder Mensch ist wie ich. Darüber hinaus wird nicht nur die Menschheit, sondern die gesamte Schöpfung als eine vielfältige Einheit wahrgenommen, in der nach dem Willen des Schöpfers alles miteinander in lebendiger Verbindung steht. Diese lebendigen Beziehungen erfordern eine grundlegende spirituelle Haltung der Umkehr, damit sie immer wieder neu ausbalanciert werden können.
Denn die Schöpfung und die zwischenmenschlichen Beziehungen sind permanent von Verletzung und Verwundung bedroht. Menschen, die gewaltfrei handeln, wissen um die eigene Verletzlichkeit und um die aller anderen. Sie fühlen sich daher insbesondere mit allen Opfern der Gewalt verbunden. Als Gefährt/-innen eines Gekreuzigten kennen sie die Verwundbarkeit eines gewaltlosen Friedensprojektes, sind aber überzeugt, dass dieser Weg der einzig mögliche ist. Und sie hoffen darauf, dass der Einsatz für Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und die Heilung der Wunden von der Kraft der Auferstehung zeugen können.
Gewaltfreiheit wirkt lebensbejahend: Ihre Mittel sind bunt und vielfältig. Sie schließen Kunst und Musik ein, Tanz und Feier – alles, was Menschen dazu bewegen kann, im Feind den Menschen zu sehen und zu lernen, dass in dieser Welt alles miteinander verbunden ist. Auch Selbstsorge und Solidarität untereinander ist Teil dieser gewaltfreien Spiritualität auf dem Weg zur Fülle des Lebens.
Eine Spiritualität für die Praxis
Gewaltfreiheit ist eine Spiritualität, die sich in konkreter konfliktlösender Praxis verwirklicht. Sie sucht dabei nicht nur nach Alternativen zur offenen, körperlichen Gewalt, sondern widersetzt sich auch struktureller, kultureller und anderer verdeckter Gewalt. In der Kraft dieser gewaltfreien Spiritualität ist es möglich, in Konflikten die tiefen Ursachen bloßzulegen und dadurch zu einem gerechten Interessensausgleich zwischen den Parteien zu gelangen.
Solche Konfliktaustragungsmechanismen sind gegenwärtig in vielen Bereichen mehr als nötig. Auch innerhalb der katholischen Kirche selbst, die durch die Aufdeckung von Missbrauch und Vertuschung, durch Klerikalismus und Sexismus sowie durch widerstreitende Reformprojekte zerrissen und verfeindet erscheint, ist es mehr als nötig, zu gewaltfreien, ehrlichen und partizipativen Aushandlungsstrategien zu gelangen, in denen die strukturellen Elemente erfahrener Gewalt nicht weiter verborgen bleiben.
Eine Kirche, die solche kreative Formen der Konfliktaustragung praktiziert, könnte auch zum Motor von gewaltfreien Strategien innerhalb der vielfältigen gesellschaftlichen Konflikte, bis hin zu politischen und internationalen Gewaltstrukturen werden. Sie könnte sich dabei mit zahlreichen anderen, auch nichtkatholischen Akteur/-innen verbünden, in denen diese Spiritualität bereits lebendig ist.