Fazit
Die Pastoralpsychologie weist auf die Notwendigkeit hin, Seelsorge als ein professionelles Beziehungsgeschehen zu betrachten. Das impliziert eine fundierte theologische wie beraterische Ausbildung mit entsprechenden Selbsterfahrungsprozessen sowie berufsbegleitende Formen der Weiterbildung in Form von Supervision, Coaching etc. In der Seelsorge geht es darum, eine Beziehung aufzubauen, in der Vertrauen und Verlässlichkeit und zugleich Unverfügbarkeit erlebt werden kann.
Das Fach Pastoralpsychologie verdeutlicht in Forschung, Lehre und Weiterbildung, dass Seelsorge eine Profession ist, die sich nur prozessual erlernen lässt. Sie hat wesentlich mit Selbsterfahrung und Reflexion, mit Kunst und Performance zu tun. Eine pastoralpsychologisch qualifizierte Form der Seelsorge setzt bei der Überwindung jenes Reduktionismus an, der Körper, Geist und Seele voneinander abspaltet. Pastoralpsychologie versteht sich als ein theologisches Fach, das sich interdisziplinär positioniert. Sie bedient sich theologischer wie naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, um Menschen in Sinn-, Lebens- und Glaubenskrisen zu helfen und lenkt dabei ihre Aufmerksamkeit besonders auf Gesellschaft und Kultur, insbesondere auf zwischenmenschliche Beziehungen. Beziehungen machen krank und zugleich sind sie der Schlüssel zu innerer Freiheit und Heilung.
Pastoral Psychology – what else?
Die Geschichte der Pastoralpsychologie geht zurück bis in die frühen neutestamentlichen Gemeinden. Psychologisches Wissen hat im Christentum Gewicht für die Handlungspraxis der Einzelnen, vor allem wenn es um Heilung und Erlösung geht. Der im zweiten Vatikanischen Konzil festgesetzte Pastoralbegriff bewirkt ein Aufbrechen der Seelsorge aus der binnenkirchlichen Verortung in die Existenz der Menschen in Zeit, Raum und Geschichte hinein. Pastoral heißt, dass die Tradition und unser Dasein sich wechselseitig auslegen.
Die Theologie anerkennt die Psychologie im interdisziplinären Diskurs als eine zentrale Ansprechpartnerin und pocht auf Reziprozität im Austausch mit den Human-, Gesellschafts- und Sozialwissenschaften. Diese Anerkennungskultur ist konstitutiv, auch wenn sie nicht immer eingelöst wird, und sie gilt für Theorie und Praxis gleichermaßen. Der Pastoralbegriff des Zweiten Vatikanums konfrontiert die wissenschaftliche Theologie mit ihrer Praxisrelevanz und die pastorale Praxis mit ihrem Theologiegehalt. Gericht und Gnade, Angst und Vertrauen, Schuld und Erlösung, Tod und Leben, Hass und Liebe – all das führt ins Zentrum menschlicher Existenz. Erst ein differenziertes Wissen über die intrapsychischen Vorgänge, die in Relation zu den Einflüssen von außen stehen, ermöglicht es, Handlungsstrategien zu entwickeln, die Wege aus der Not in die Befreiung und Erfüllung aufzeigen.
Rückspiegelung
Qualifiziertes seelsorgliches Handeln funktioniert nicht ohne ein erhebliches Maß an Selbsterfahrung. In einem seelsorglichen Prozess spielt die Wirklichkeitswahrnehmung eine zentrale Rolle. Der Kontakt intendiert das Etablieren eines Raumes, in dem die Realität, so wie wir sie vorfinden, anerkannt werden kann. Wer Auswege und Neuanfänge sucht, kommt nicht umhin, sich den real existierenden Gegebenheiten zu stellen. Seelsorge heißt, sich auf einen Prozess einzulassen, der auch für das Verborgene, Verdeckte, Verschämte – für das Tabu einen Möglichkeitsraum bereithält. Seelsorgliche Beratung hat mit hohem Reflexionsvermögen und mit dem Aushalten von Gefühlen zu tun. Traurigkeit, Ohnmacht, Zorn, Wut, Verzweiflung benötigen ebenso Raum, Zeit und Ausdrucksmöglichkeiten wie Gelassenheit, Freude, Liebe und Zärtlichkeit.
Wer Menschen in diesen Prozessen begleiten will, wird in regelmäßigen Abständen auf sich selbst zurückgeworfen. Seelsorgliches Handeln ermöglicht im Kontext professioneller Aus- und Weiterbildungsprozesse – auch in Form von Coaching und Supervision – das Entdecken der eigenen biographischen Anteile. Klienten/ Klientinnen spiegeln uns präzise unsere eigenen Schwachstellen, Verletzlichkeiten, Unversöhnlichkeiten. Im Spiegel erkennen Seelsorgerinnen und Seelsorger jedoch auch ihre Persönlichkeit und ihr Wachstumspotenzial, ihre Freude und Sehnsucht, ihr Vertrauen und ihre Liebesfähigkeit.
Professionalität
An der Schnittstelle von Psychologie und Theologie ergeben sich viele unterschiedliche Ressourcen für spezielle Beratungskompetenzen. Seelsorgliches Handeln erfordert multiperspektivische Zugangsweisen auf komplexe Phänomene. Pastoralpsychologisches Knowhow qualifiziert für die Seelsorge und zwar in Form eines fundierten wissenschaftlich-theologischen Studiums, das reziproke Lehr- und Lernformen mit Praxisbezug beinhaltet, sowie mittels fundierter Fort- und Weiterbildung, wie zum Beispiel Supervision, Coaching u.a.
Professionelles Agieren in der Seelsorge benötigt Wissen und Kenntnisse aus Theologie, Psychologie und Psychotherapie. Sie sind konstitutiv für die Beratung und Begleitung von Menschen – vor allem wenn diese sich mit kritischen Lebensereignissen konfrontiert sehen. Lernprozesse in Gruppen schärfen den Blick auf die eigenen inneren Vorgänge und auf den Kontakt untereinander. Es geht in einer professionellen pastoralpsychologischen Ausbildung immer darum, die eigenen Potenziale zu vertiefen und weiterzuentwickeln. Wissensvermittlung inkludiert in der Seelsorgeausbildung immer die Frage, wie dieses Wissen integriert werden kann. Methodisch heißt das, sowohl individuell als auch in der Gruppe zu arbeiten, um Erkenntnisse zu strukturieren und zu systematisieren. Die im Studium erworbenen wissenschaftlichen Inhalte werden mit den eigenen persönlichen Lebensbezügen und Erkenntnissen in Verbindung gebracht. Professionalität wächst durch Wissen, Interventionsmöglichkeiten und praktische Fertigkeiten, die eng gekoppelt sind an das Wachstum der eigenen Persönlichkeit. Dazu gehört das Entfalten der eigenen Möglichkeiten und Potenziale wie das Anerkennen der eigenen Begrenzungen und Unzulänglichkeiten.
Disziplinen und das „Inter“
Die Verortung der Pastoralpsychologie als „interdisziplinäre Wissenschaft“ bringt diese Disziplin konstant in prekäre Situationen. Sie steht häufig „dazwischen“. Die Kirche benötigt ihre Kompetenzen, zugleich fürchtet sie sich davor. Die Wissenschaft estimiert ihren interdisziplinären Charakter, reagiert jedoch mit Abwehr und Exklusion, wenn sie sich in ihrem Machtrefugium hinterfragt fühlt. Im wissenschaftlich und gesellschaftlich allgegenwärtigen „Care-Boom“ wird ihre theologische Identität samt aller kirchlichen Implikationen womöglich mitleidig belächelt. Das fachlich konstitutive „Dazwischen“ korreliert demnach mit ihrer faktischen Ort- und Heimatlosigkeit. Es ist ihre Schwachstelle und Stärke zugleich.
Interdisziplinarität heißt, dass ein Perspektivenwechsel induziert ist. Das bedeutet immer eine Distanz zu den eingeübten Denkweisen und Handlungsmustern. Der Blickwechsel bedeutet aufmerksam zu werden auf jene Phänomene, die aus der Perspektive der eigenen Disziplin, der individuellen Biografie oder des eigenen beruflichen Profils zu kurz kommen. Interdisziplinarität heißt, die Türen in andere Bereiche hinein zu öffnen, weil der eigene Raum als zu begrenzt empfunden wird, er zu klein, zu eng, zu verstaubt, zu dunkel geworden ist, oder weil man sich womöglich sogar in einer Sackgasse gefangen sieht. Die geöffneten Türen verändern den Blick und die Wahrnehmung – sie ermöglichen Erweiterung und Vertiefung, ergänzen das, was unzulänglich ist und fehlt. Es können neue Impulse, Inspirationen, Kontakte und Netzwerke entstehen. Interdisziplinarität heißt, dass bestimmte Phänomene aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden und dass ganz unterschiedliche Fragen gestellt werden. Im „Inter“ gibt es auch eine Leerstelle, die es auszuhalten gilt und die nicht vorschnell übergangen oder zugedeckt werden darf, weil dort immer etwas Neues entsteht. Für den seelsorglichen Kontakt und den Prozess der Beratung ist das von zentraler Bedeutung. Das Neue offenbart sich jedoch nicht sofort, sondern erst dann, wenn das, was jetzt ist, zugelassen wird.
Paradoxon: Einen Schritt voraus folgen …
Das Leben ist innerhalb einer Zeitspanne von Wachsen und Altwerden, Reifen und Sterben vollgefüllt mit Glück und Freude, Unwegsamkeiten und Leere, Krisenmomenten und Scheitern. Menschliches Leben ist kontingent. Es gelingt und zerbricht, bäumt sich auf und wird erniedrigt, entfaltet sich und lässt Fragen offen. Christliche Seelsorge geht von der Gewissheit aus, dass im Leben selbst eine Gesetzmäßigkeit wohnt, die sich jedem Einzelnen/jeder Einzelnen zu erschließen vermag und sie/ihn ermächtigt, damit sich das erfüllen kann, was die Sehnsucht bereits weiß und noch verborgen signalisiert.
Seelsorge heißt, Menschen und ihre Lebensumstände so wahrzunehmen und auszuhalten, wie sie sind, und ihnen Wohlwollen, Achtung und Respekt entgegenzubringen. Gute Seelsorger/-innen verzichten auf die Anstrengung, Änderungen vornehmen zu wollen, sondern bemühen sich in erster Linie um Präsenz. Seelsorge bedeutet vor allem, sich in sensibler Wahrnehmungskompetenz zu üben, Gefühle zu fördern und auszuhalten, sich berühren zu lassen vom Schicksal anderer, empathisch mitzugehen, das stimmige Wort zu finden, zu schweigen. In der Begleitung gibt das ratsuchende Gegenüber das Tempo und die Art und Weise des Voranschreitens an. Zugleich geht der Seelsorger/die Seelsorgerin einfühlsam mit, bietet Bewegungsabläufe an, schreitet womöglich auch, wenn es angebracht ist, einen kleinen Abstand voraus. Dabei bleibt er/sie auf dem so schmalen Nähe-und-Distanz-Grat und spürt aufmerksam, wo das Gegenüber bleibt. Im seelsorglichen Kontakt kristallisiert sich heraus, wie sich die Balance von Nähe und Distanz gestalten lässt. Die Begegnung formt beide. Nur die gegenseitige Resonanz kann klären und Neues anstoßen.
Seelsorge und Theologie kennen das Paradoxon und wissen, welches Ambivalenz-Potenzial aufgrund ihrer Geschichte und Herkunft in ihnen wohnt. Das Leben ist in sich konflikthaft strukturiert, zugleich sehnen sich Menschen nach Angenommen- und Anerkannt-Sein, nach Zugehörigkeit und Autonomie. Auch das ist paradox und zugleich so menschlich. Mit Ambivalenzen ist immer und überall zu rechnen. Als Seelsorger und Seelsorgerinnen werden wir konfrontiert mit dem Thema der Abhängigkeit, der Angst vor Trennung und der Gewissheit der Endlichkeit. Seelsorge heißt, sich im Schritttempo, in der Schrittlänge und im Schrittmodus auf das Gegenüber hin einzupendeln. Die Initiative vorauszuschreiten und sich zugleich hintanzustellen, erfordert Können, Geduld, Kraft und Demut. Es ist paradox: Im bewussten Zulassen dieser Schwäche entwickelt sich eine Stärke, die beiden zugänglich ist.
Unverfügbarkeit
Die Pastoralpsychologie mahnt mit Blick auf seelsorgliche Prozesse. Die Ermahnung erinnert uns an die Qualitäten und Fallstricke helfender Beziehungen. Das Helfen-Wollen läuft Gefahr, die Suchprozesse des Gegenübers für die eigene Bedürftigkeit zu missbrauchen. Seelsorge kann verlässlichen Kontakt, Nähe und Bindung ermöglichen und zugleich in den Abgrund der Abhängigkeit führen. Leid und Schmerz haben die Tendenz, dem seelsorglichen Gegenüber eine eigenartige Symbiose anzubieten. Diese Prozesse laufen meist unbewusst. Missbräuchlichem Agieren – und sei es noch so subtil – ist vor dem Hintergrund dessen, was an Dynamiken des Missbrauchs seit Jahrzehnten im Binnenraum der Kirche sichtbar wird, mit großer Entschiedenheit entgegenzutreten. Wer hier nicht bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und sich in Reflexions- und Schulungsprozesse zu involvieren, macht sich schuldig.
Seelsorge nimmt ernst, dass Menschen nach Sinn suchen. Die Tradition des Christentums und die Theologie offerieren ein breites Instrumentarium, um sich Sinnfragen zuzuwenden und sie zu bearbeiten. Dabei kann sie die Weite und Tiefendimensionen spiritueller Ressourcen ins Spiel bringen, ohne sich ihrer bemächtigen zu wollen. Antworten auf die Frage nach Sinn, den letzten Dingen, Wachsen, Reifen, Vergänglichkeit und Tod bleiben – so wie die seelsorgliche Beziehung selbst – unverfügbar. Eine professionelle Form seelsorglicher Beratung und Begleitung impliziert ein durch und durch vertrauensvolles Beziehungsgeschehen. Ihre Absicht ist es, dass Menschen darin die eigenen Potenziale, Kraftquellen und Ressourcen in sich entdecken und erobern können. Das Ziel besteht darin, die innere Freiheit und Unabhängigkeit im Kontext der eigenen Lebensbewältigung zu entdecken. Das Leben gewinnt so an Tiefe und Kraft, wird bunter, intensiver und lebenswerter.