Anmerkungen zum Umgang mit dem sensus ecclesiaeSynodalität als Lebens- und Arbeitsweise der Kirche

Mit der V. Synodalversammlung wurde am 11. März 2023 die Reihe der Synodalversammlungen auf dem Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland abgeschlossen. Zugleich befinden wir uns auf dem Synodalen Weg, zu dem Papst Franziskus die Katholiken auf der ganzen Welt eingeladen hat, und stehen hier mitten in der Vorbereitung zur Weltsynode, die vom 4. bis 29. Oktober 2023 in Rom stattfinden wird.

Fazit

Zentrales Anliegen des Synodalen Weges der katholischen Kirche in Deutschland war und ist es, im Mitfühlen mit der ganzen Kirche einen Weg in die Zukunft zu bahnen und so eine glaubwürdige Verkündigung des Evangeliums neu zu ermöglichen. Das erhoffen wir uns auch mit Blick auf den Synodalen Weg der Weltkirche.

Das große Thema dieses Synodalen Weges ist die Synodalität selbst, über die die Internationale Theologische Kommission die prägenden programmatischen Worte gesagt hat: „Die Synodalität deutet in diesem ekklesiologischen Kontext auf den spezifischen modus vivendi et operandi der Kirche als Gottesvolk, das seine Existenz als Gemeinschaft und Weggemeinschaft manifestiert und konkretisiert, indem es in der Versammlung zusammenkommt und indem alle seine Mitglieder aktiv an seinem Auftrag der Evangelisierung teilnehmen.“ (Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche, Internationale Theologische Kommission 2018, Nr. 6)
Wie aber sieht diese spezifische Lebens- und Arbeitsweise der Kirche ganz konkret aus? Es lohnt sich, gerade in der gegenwärtigen Situation einen Blick darauf zu werfen. Wir konnten viele synodale Erfahrungen beim Synodalen Weg sammeln, ebenso bei der europäischen kontinentalen Etappe von 5. bis 9. Februar 2023 in Prag. Gleichzeitig blicken wir auf die Versammlung im Oktober in Rom mit der Frage: Was können wir von diesen Erfahrungen in die gesamtkirchliche Diskussion einbringen? Dabei soll es hier nicht in erster Linie um Einzelheiten oder gar „praktische Tipps“ gehen, sondern vielmehr um einen grundsätzlichsystematischen Blick darauf, was Synodalität in der Kirche bedeuten kann.

Synodalität in der Kirche

Papst Franziskus hat in seinem „Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ (2019) besonders zwei Bezugsgrößen herausgestellt, die für die Synodalität im Gesamt der kirchlichen Praxis entscheidend sind. Diese Bezugspunkte sind das Evangelium und der sensus ecclesiae. Das Evangelium ist der Kirche einerseits zur Annahme als frohe Botschaft und Richtschnur für das eigene Leben anvertraut, andererseits zur Verkündigung im Namen ihres Herrn Jesus Christus. Beide Aspekte sind untrennbar miteinander verwoben: Als von der Freude des Glaubens erfüllte Menschen sollen die Jünger und Jüngerinnen des Herrn seine frohe Botschaft weitertragen. Weil es dabei immer auch um die Gemeinschaft der Glaubenden geht, die miteinander das Evangelium zu leben und weiterzutragen haben, ist es wichtig, dass sowohl die einzelnen Glaubenden als auch Gruppen, Verbände und Teilkirchen das Ganze der kirchlichen Gemeinschaft im Blick behalten. Diesen Sinn für das Ganze von Kirche, lateinisch sensus ecclesiae, gilt es einerseits wachzuhalten und andererseits auch bei den Fragen und Entscheidungen, die dieses Ganze der Kirche betreffen, erstrangig zu berücksichtigen. Der sensus ecclesiae bedeutet deshalb immer den Sinn für die Kirche und zugleich auch den Sinn der Kirche, beides gespeist aus dem Hören und dem Sich-Ausrichten auf das Evangelium. Wenn man nun fragt, wie denn der sensus ecclesiae seinen Ausdruck findet und in welchen Bezügen und Organisationsstrukturen er zur Geltung gebracht werden kann, dann kommt man eigentlich unweigerlich zur Synodalität. Denn in dieser Hinsicht ist die Synodalität das Strukturprinzip, das erforderlich ist, um den am Evangelium orientierten sensus ecclesiae mit sich selbst zu vermitteln. Die Synodalität der Kirche sorgt dafür, dass das hierarchische Amt auf Grundlage des Weihesakraments konkret in der Rückbindung an den sensus ecclesiae der Gläubigen verbleibt und sich nicht klerikalistisch davon entkoppelt.

Den sensus ecclesiae strukturell einfließen lassen

Papst Franziskus findet in dieser Hinsicht in seiner programmatischen Ansprache zur 50-Jahr-Feier der Wiedererrichtung der Bischofssynode klare Worte: „Der sensus fidei (der Glaubenssinn) verbietet, starr zwischen Ecclesia docens (der lehrenden Kirche) und Ecclesia discens (der lernenden Kirche) zu unterscheiden, weil auch die Herde einen eigenen ‚Spürsinn‘ besitzt, um neue Wege zu erkennen, die der Herr für die Kirche erschließt.“ Es genügt deshalb auch nicht, die Synodalität allein als eine Frage des Stils und des gepflegten Umgangs der Amtsträger mit den Gläubigen zu sehen. Dazu wäre Synodalität nicht zusätzlich zum sensus ecclesiae erforderlich. Das aufeinander Hören und sich gegenseitig Ernstnehmen sollte für alle in der Kirche schon allein aufgrund des sensus ecclesiae unabdingbar zur kirchlichen Praxis gehören. Das Plus, das hier durch die Synodalität hinzukommt und hinzukommen muss, ist tatsächlich auch ein StrukturAspekt: Eine synodale Kirche ist eine Kirche, die auch konkrete Strukturen des gemeinsamen Beratens und des Entscheidens auf der Grundlage dieses gemeinsamen Beratens ausbildet. Papst Franziskus zitiert in seiner bereits erwähnten Ansprache dazu einen alten Grundsatz des kirchlichen Rechts: „Quod omnes tangit ab omnibus tractari debet – Was alle angeht, muss von allen besprochen werden.“
Das entspricht dem, was wir in Deutschland auf unserem Synodalen Weg in den zurückliegenden Jahren praktiziert und erlebt haben. Angesichts der bleibend erschreckenden Erkenntnisse über sexualisierte Gewalt in der Kirche und angesichts der nicht minder verstörenden Erkenntnisse über die kirchliche Vertuschungspraxis hat die katholische Kirche in Deutschland einen Prozess des strukturbezogenen Lernens und Entwickelns begonnen. Dabei geht es darum, das sakramentale und insbesondere das bischöfliche Amt strukturell besser an einen Kontext gemeinsamen Beratens und Erarbeitens von Entscheidungen rückzubinden. Entgegen manchen Befürchtungen wird das Amt dabei nach meiner Wahrnehmung keineswegs geschwächt, sondern in der heutigen vielgestaltigen Welt, in der die Vorstellung von einem einsamen Entscheider wirklichkeitsfremd ist, durchaus gestärkt. Die Entwicklung dieser strukturellen Prozesse war ein gemeinsames Lernfeld und damit selbst schon vergemeinschaftet. Und wir haben dabei auch miteinander gerungen, z. B. bei der Suche nach den geeigneten Gremien und ihrer angemessenen kirchenrechtlichen Form. Es stellen sich unzählige Fragen nach den Kriterien für den Kreis der Beteiligten, nach den passenden Konferenzstrukturen, nach funktionstüchtigen und krisenfesten Satzungen und Geschäftsordnungen. Gut möglich, dass diese Herangehensweise etwas typisch Deutsches hat, um das allgemein verbreitete Klischee aufzugreifen. Aber so ist eben die ortskirchliche Konkretion, mit allen Eigenheiten und Nachteilen, aber auch Vorzügen. Im Ergebnis hat der Synodale Weg zu einem Lernprozess gefunden.

Der Synodale Weg geht weiter

Auch nach der V. Synodalversammlung kann man nicht sagen, dass dieser Prozess schon zu seiner Reife, geschweige denn zu einem Abschluss gekommen wäre. Man wird kritisch fragen müssen, wie in diesem bisherigen Prozess mit konträren Meinungen, mit erhobenen Bedenken und auch mit Minderheiten umgegangen wurde. Ebenso kann man fragen, ob die Art und Weise, Beschlüsse und Handlungsansätze über Texte zu erarbeiten, immer eine angemessene Effizienz und den nötigen Überblick erreicht hat. Nicht bezweifeln kann man hingegen, dass tatsächlich in großer Offenheit und ohne „Blatt vor dem Mund“ über die identifizierten Themen gesprochen und verhandelt wurde, manchmal auch gestritten. Es gab einen Austausch der Meinungen, eine Suche nach dem Weg für die Kirche und dabei immer wieder ein Vergewissern im Gebet, in der Feier der Eucharistie und im Einhalt. Guten Gewissens kann ich sagen: Allen, die am Synodalen Weg beteiligt waren, liegt diese Zukunft der Kirche und die Strahlkraft des Evangeliums am Herzen. Die Art und Weise des Diskurses und auch seine strukturelle Ausgestaltung mag holprig und nicht perfekt gewesen sein – etwas anderes wäre gar nicht zu erwarten gewesen –, aber der sensus ecclesiae stand im Fokus. Insofern sind es wichtige Erfahrungen und ortskirchliche Konkretionen, die wir zum Synodalen Weg der Weltkirche beitragen können. Dass es dabei in verschiedenen Teilkirchen unterschiedliche Herangehensweisen, verschiedene Problemlagen und zuletzt dann eben auch unterschiedliche Entscheidungen gibt, ist eine Erkenntnis, die zum wachsenden Bewusstsein einer global vernetzten Kirche unabdingbar dazugehört. In dieser Hinsicht war auch die Synodalversammlung der europäischen kontinentalen Etappe in Prag ein wichtiger Lernschritt, bei dem Verschiedenheiten wie auch Ähnlichkeiten und Vergleichbarkeiten der europäischen Teilkirchen deutlich wurden. Gerade dann, wenn es nicht nur die Bischöfe allein waren, die für ihre Ortskirche sprachen, wurde spürbar, dass doch viele Fragen, die sich dort stellen, eine Nähe zu den Fragen aufweisen, die auch wir uns auf unserem Synodalen Weg gestellt haben und immer noch stellen. Deutlich wurde in Prag auch, dass das bloße Hören dessen, was die Gläubigen vorbringen, für eine gelebte Synodalität zwar ein erster und unverzichtbarer Schritt, aber für sich alleine noch nicht hinreichend ist.

Entscheidungskompetenz im Dialog

Im bereits erwähnten Text der Internationalen Theologischen Kommission zur Synodalität wird in dieser Hinsicht die Differenz hervorgehoben, die zwischen einem decision making, also der Vorbereitung einer Entscheidung durch Beratung und Abwägung, einerseits und einem decision taking, dem abschließenden Fällen der Entscheidung, andererseits besteht (vgl. Nr. 69). In der Diskussion wird immer wieder darauf abgehoben, dass die Synodalität eng mit dem Aspekt des decision making verbunden ist, während das decision taking den Hirten, insbesondere dem Bischof und auf Weltkirchenebene dem Papst, zukommt. Das ist ein eingängiges Modell des Verstehens, auf das häufig verwiesen wird. Das Vorbereitungsdokument für den Synodalen Weg der Weltkirche „Für eine synodale Kirche: Gemeinschaft, Teilhabe und Sendung“ vom 07. September 2021 stellt aber ganz zu Recht die Reflexionsfrage: „Wie wird die Phase der Konsultation mit derjenigen der Entscheidung verbunden, der Prozess des decision-making mit dem Moment des decision-taking? Auf welche Art und Weise und durch welche Mittel werden Transparenz und Rechenschaft gefördert?“ (Nr. 30, IX.) Man kann das decision making und das decision taking differenzieren, und in Deutschland haben wir auf unserem Synodalen Weg von Anfang an immer betont, dass die dogmatisch und kirchenrechtlich umschriebene Autorität des Bischofsamtes gewahrt bleibt. Ein Bischof aber, der tatsächlich Bischof einer synodalen Kirche ist, wird immer auf diese hier angesprochene enge Verbindung der beiden Aspekte achten, ebenso auf Transparenz und Rechenschaft. All dies sind Themen, die wir auf unserem Synodalen Weg besprochen haben und die wir in den Synodalen Weg der Weltkirche einbringen können.

Zentrale Fragen müssen diskutiert werden

Daraus ergibt sich fast wie von selbst noch ein weiterer Aspekt: Nicht zuletzt das Hören auf den sensus ecclesiae hat in sehr vielen Teilkirchen thematische Fragen zutage gefördert, die den Gläubigen dort wie hier auf der Seele liegen, sei es die gleichberechtigte Teilhabe der Frauen in der Kirche, sei es der Umgang mit sexualethischen Fragestellungen oder sei es auch ein nicht klerikalistisches Verhältnis zwischen Priestern und Gläubigen, um nur einige exemplarisch zu nennen. Man wird diese Fragen aufgreifen müssen, auch wenn immer wieder betont wird, der Synodale Weg der Weltkirche befasse sich ausschließlich mit dem Thema Synodalität, nicht mit darüberhinausgehenden Sachthemen. Letztlich lässt sich die Synodalität der Kirche nicht in den Blick nehmen, ohne auch die im Rahmen dieser synodalen Strukturen und Beratungen sichtbar werdenden Themen aufzunehmen. Es ist klar und nachvollziehbar, dass die Weltsynode im Oktober nicht in der Lage sein wird, diese Themen gewissermaßen „einfach mitzubehandeln“. Wünschenswert im Sinn der Kirche wäre aber doch die Eröffnung einer, zumindest zukünftigen, Perspektive für die Befassung mit diesen und weiteren Fragen, die mit zunehmender Sichtbarkeit im Raum der Kirche stehen. Auch dieses Anliegen, das in enger Verbindung mit dem Synodalen Weg der Kirche in Deutschland steht, werden wir mit nach Rom nehmen.

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