Lernorte des Evangeliums im DazwischenQuartierpastoral

An vielen Orten in Deutschland sind in den letzten Jahren Initiativen und Projekte entstanden, die sich als „Quartierpastoral“ verstehen. Der Beitrag erzählt von der Herkunft dieser Bezeichnung und erläutert das innovative Potenzial für Kirche und Theologie.

In Sindelfingen schließen sich zwei Seelsorgeeinheiten und ein Seniorenzentrum zusammen und finanzieren das „AnsprechBarMobil“, einen umgebauten Kleinbus, der als flexibles Begegnungs-Café für Dialog und Verständigung im Quartier funktioniert. In Stuttgart kooperiert das offene Kirchenprojekt „St. Maria als“ mit dem diözesanen Caritasverband für eine Projektstelle „Präsenzpastoral“. Die Caritastheologin Dorothee Steiof ist im Quartier um St. Maria präsent und lässt sich dort auf nicht planbare Ereignisse und Begegnungen ein. Auch wenn heute in Städten und deren Umland ganze Wohngebiete neu entstehen, stellt sich für Kirche neu die Frage, wer sie mit den Menschen vor Ort eigentlich auf welche Weise sein will. Meist heißt es: offen, einladend, vielfältig, entdeckend statt dominierend, vernetzt und ökumenisch bis multireligiös. Mein Münsteraner Kollege Christian Bauer begleitet solche Projekte auf Konversionsflächen wie am Würzburger Hubland oder das FranZ im Wiener Nordbahnviertel, und zwar als pastorale Lernorte – Konversion / Umkehr eben. Bewährte Initiativen wie die Vesperkirche werden mittlerweile ebenso dazugezählt wie neuere Projekte, etwa an Gemeinnützigkeit orientierte Co-Working-Spaces. Auf den ersten Blick scheint die Bezeichnung „Quartierpastoral“ relativ neu. Allerdings kann die pastorale, theologische und sozialtheoretische Ausrichtung dieser Projekte mit einem breiten Geflecht an Quellen und Ressourcen in Verbindung gebracht werden.

Sozialpastorale Gemeinwesenarbeit (1980er Jahre)

Quartierpastoral ist eine Pastoral der lokalen „Zeichen der Zeit“, die aus der pastoralen Wende des II. Vatikanischen Konzils nächste und weitergehende Konsequenzen zieht: nach-nachkonziliar quasi. Bereits in den 1970er und 80er Jahre entstanden mit dem Rückenwind des Konzils und der weltweiten Aufbrüche der Befreiungstheologie Ansätze einer kirchlichen Gemeinwesenarbeit. Nicht mehr die Kirche war im Zentrum, sondern die Frage, wofür Christ/-innen im sozialen und nachbarschaftlichen Leben, im Gemeinwesen vor Ort eigentlich da sind. Die Kirche der Sonntage sollte auch eine Kirche der Werktage sein, die Sorgen und Hoffnungen von armen und ausgegrenzten Menschen vor Ort auch die Sorgen und Hoffnungen der „Jünger/-innen Christi“ (Gaudium et spes 1). Norbert Mette und Hermann Steinkamp haben diese Gemeinwesen-bezogenen Ansätze theologisch als Sozialpastoral verstanden und konzeptionell auf biblische Solidarität und Gerechtigkeit hin reflektiert. Im Hintergrund stand vor allem in der Praxis auch das interdisziplinäre Gespräch mit den Fachdiskursen Sozialer Arbeit. Die aktivierende und auf politisches Empowerment basierende Gemeinwesenarbeit galt damals neben der Einzelfallhilfe und der sozialen Gruppenarbeit als dritte Methode Sozialer Arbeit. Wichtiges Scharnierkonzept waren Paulo Freires Konzepte der Selbstermächtigung Betroffener (conscientização).

Sozialraumpastoral (2000er Jahre)

Um die Nullerjahre hat sich daraus das Fachkonzept der Sozialraumorientierung entwickelt. Mit Wolfgang Hinte stehen jetzt einige zentrale Handlungsprinzipien Sozialer Arbeit im Vordergrund (und zunächst weniger die Raumkategorie):

  1. Orientierung am Willen der Menschen vor Ort, was nicht als utopische Wünsche, sondern als erreichbare Ziele guten Lebens verstanden wird,
  2. Förderung von Eigeninitiative (Ressourcenorientierung) statt Betreuung von Menschen, die auf bestimmte Defizite reduziert wurden,
  3. Empowerment unter Einbezug auch nichtprofessioneller Ressourcen vor Ort,
  4. ziel- und bereichsgruppenübergreifende Sicht- und Arbeitsweise sowie
  5. Vernetzung verschiedener Dienste und Lebenswelten.
  6. Mit dem „Spatial Turn“ zu Raum und Materialität wurde dann noch stärker gesehen, wie das Leben der Einzelnen in territoriale und soziale Räume eingebettet und von diesen geprägt ist.

Entsprechend haben sich in Kirche und Theologie Handlungs- und Reflexionskonzepte einer „Sozialraumpastoral“, zum Teil auch einer „Pastoralgeographie“ entwickelt. Allerdings ist hier ein kritischer Blick auf den binnenkirchlichen Rezeptionskontext aufschlussreich. In zeitlicher Nähe zum Aufkommen von „Sozialraumorientierung“ belegte der „Sinus-Schock“ die Milieuverengung der Kirchengemeinden und beginnen die Diözesen diese gemeindliche Territorialstruktur dem Priestermangel entsprechend in pastorale Großräume umzustrukturieren. Es startet die steile Karriere der Rede von „Kirchenentwicklung“ und dem Adjektiv „missionarisch“ als Veränderungsanspruch an gemeindliche Orte. Diese stellten sich dabei aber häufig die Frage: Was sollen wir eigentlich „im Sozialraum“? Es überlagerten sich wohl mehrere Erwartungen: Lässt sich mit einer Geh-hin-Pastoral der Gebietsverlust territorialer Pastoral für die Kirche aufhalten? Können die großen pastoralen Räume unterhalb der priesterlichen Leitungsebene wieder verlebendigt werden? Gewinnt man wieder mehr Menschen für die vertrauten Gemeindestrukturen und die kirchlich vorgesehenen Ehrenämter? Werden vielleicht neue Zielgruppen erschlossen für Katechese und Kirchenbindung? Lassen sich die enger werdenden konzentrischen Kreise um den Altar „missionarisch“ wieder ausweiten? Um es kurz zu machen: Als derart binnenzentriertes Gemeinderettungsprogramm ist Sozialraumorientierung theologisch problematisch und kirchensoziologisch gescheitert. Im Gegensatz zur Aufbruchsrhetorik bescheinigen auch neuere Untersuchungen einen pastoralen Habitus, der als vergangenheitslastig, binnenorientiert und priesterzentriert beschrieben wird (wobei Habitus die empirischen Handlungsroutinen meint, die im Rücken der Akteure oft so ziemlich das Gegenteil des Gesagten und Gewollten ausdrücken). Symptomatisch etwa die Erfahrung eines Sozialraum-Teams der Caritas, dass sich in den anonymen Wohnblocks ihres Quartiers überraschend viele Menschen und Initiativen haben verwickeln lassen – nur die katholische Kirchengemeinde nicht.
Der Innovationsanspruch von Gemeinwesenarbeit und Sozialraumpastoral war jedenfalls anders gelagert und zielte auf die theologischen Grundlagen pastoralen Handelns. Rolf Zerfaß, der zu seiner Zeit als Würzburger Pastoraltheologe an diesen Debatten intensiv und wegweisend beteiligt war, schreibt in einer Art Magna Charta von Sozialraum- und Quartierpastoral: „Es geht nicht um die Präsenz der Kirche in der Gesellschaft, sondern um das Kommen Gottes in der Welt; und dies ereignet sich überall, wo mit Schuldigen Erbarmen geübt, Gebeugte aufgerichtet, Gefangene befreit und Trauernde getröstet werden […]. […] Im Horizont der Gottesherrschaft erledigt sich alle falsche Ekklesiozentrik. Positiv gesagt: es eröffnet sich eine weite, alles Wirken Gottes in der Welt bejahende, wahrhaft ökumenische Perspektive. Wir fixieren uns nicht länger auf den eigenen ‚Verein‘, sondern lernen uns aufrichtig zu freuen über alles, was die anderen in der Macht des Geistes Gottes – wodurch denn sonst? – Zustande bringen.“
Eine neugierige Netzwerkperspektive des Dazwischen ersetzt die Zentralperspektive konzentrischer Kreise, weil Gott eben nicht im Zentrum wohnt, sondern sich ins Netz seiner/ihrer Schöpfung inkarniert hat, sich an deren verletzbarsten Orten zeigt. Kirchliche Pastoral bringt keineswegs Gott in die Welt, so das hartnäckig falsche Selbstbild, sondern muss wieder neu lernen, wo sich das Evangelium auf womöglich irritierend fremde Weise überhaupt ereignet.

Quartierpastoral (2020er)

Damit zur Quartierpastoral. Nach den beiden Konzeptbegriffen Gemeinwesen und Sozialraum kommt es in der Stadt-, Migrations- und Diversitätsforschung seit einiger Zeit zu einer „politischen ‚Renaissance‘ der Quartiersidee“. Ein Quartier, so Olaf Schnur, „kann man mit einem ‚fuzzy system‘ vergleichen, dessen Unschärfe sowohl in der Vielfalt subjektiver Perspektiven als auch in der Unmöglichkeit der allgemeingültigen Abgrenzung begründet ist“. Inhaltlich geht es etwa um Fragen der unternehmerischen Gentrifizierung von Stadtteilen, nach sozialem und ökologischem Wohnungsbau, der Rolle von Nachbarschaften für ältere Menschen oder das multiethnische und multireligiöse Zusammenleben in einer Migrationsgesellschaft. Sieht man sich die eingangs genannten Beispiele des pastoralen Engagements im Quartier an, dann gehen diese von der grundsätzlichen Vielfalt und Verbundenheit der Menschen vor Ort aus und stellen jeweils lokal die Frage nach Gerechtigkeit und Solidarität, nach dem (von Gott verheißenen) guten Leben und einem möglichst undramatischen Zusammenleben in kritischen Nähe-Beziehungen. Vielleicht ist es auch theologisch der produktivste Lernprozess, sich in solch komplexen Situationen von Diversity und Dazwischen als Kirche nicht mehr in der Rolle einer überlegenen Problemlöserin und unfehlbaren Antwortgeberin zu inszenieren: Kirche weiß es oft auch nicht besser. Und das zu wissen ist Teil einer glaubwürdigen Theologie, also einer Rede von Gott als dem letzten Geheimnis unserer verwundeten Existenz.
Vom Willen der Menschen her zu denken, von ihren Sorgen und Hoffnungen, das erfordert auch ein Überdenken kirchenstruktureller und pastoraler Differenzierungen. Im Quartier werden viele der geläufigen Unterscheidungen schräg und falsch: Caritas und Kirche, Caritas und Pastoral, Kategorial- und Gemeindeseelsorge, religiös und säkular, Seelsorge und Sozialarbeit u.a. Denn diese reproduzieren meist kategoriale Trennungen (im Kopf, in den Professionen, in den Zuständigkeiten), die im Ansatz einer Quartierpastoral durch Mischfinanzierungen und fachliche Kooperationen situativ und oft sehr mühsam in ein hilfreiches Dazwischen überführt warden müssen. In der Begleitung solcher Projekte wird Praktische Theologie deshalb gerade zu einer explorativtheologischen Praxistheorie, weil die offene Frage lautet, wie diese handlungsleitenden Unterscheidungen und Kategorien überhaupt praktisch hergestellt, mit welchen Folgen benutzt und im Alltag häufig dekonstruiert werden. Was zeichnet sich hier ab?

Lernerfahrungen im Dazwischen

In der Diözese Rottenburg-Stuttgart trifft sich seit einiger Zeit eine Gruppe aus verschiedenen Professionen und von unterschiedlichen katholischen Trägern als „Vernetzung Quartier“, das bereichsübergreifend durch Annegret Hiekisch (Dekanat Böblingen / Keppler-Stiftung), Joachim Reber (DiCV), und Christiane Bundschuh-Schramm (HA Pastorale Konzeption) begleitet wird. Bundschuh-Schramm hat mit den diözesan angestellten Quartierseelsorger/-innen das interne Erfahrungs- und Konzeptpapier „Im Quartier Pastoral neu lernen“ erarbeitet, das 15 Lernerfahrungen auflistet. Die erste und grundlegende Einsicht betrifft die Frage, wo auf welche Weise mit Gott gerechnet werden kann: „Quartierpastoral bringt Gott nicht, Gott ist schon da. […] Quartierpastoral ist offen für das Ereignis des Evangeliums, aber sie ist sich bewusst, dass sie die Erfahrung der Wirkmacht Gottes nicht herstellen kann.“ Das führt zu einer Umkehr im pastoralen Habitus von Kirche: „In der Quartierpastoral ist Kirche nicht die Gastgeberin, sondern Gast. Die Menschen müssen nicht kommen, sondern bleiben in ihrem sicheren Kontext, wo nicht die Kirche die Deutungshoheit besitzt, sondern die Menschen im Quartier.“ Für pastorale Mitarbeitende liegt hier eine große Herausforderung, weil sie die Sicherheit und Souveränität kirchlicher Orte, seelsorglicher Settings und liturgischer Sprache zugunsten einer neugierigen Offenheit verlernen müssen. „Quartierpastoral ist keine herkömmliche Programm- oder Angebotspastoral. […] Quartierpastoral […] eröffnet Räume für Begegnung und Beziehung. Sie schafft Ermöglichungsräume, damit sich Menschen gegenseitig unterstützen oder gemeinsam Projekte gestalten können.“ Verlernt wird dabei auch der Gestus der Mitte und der Zentralität als Ort Gottes samt der Raummetapher konzentrischer Kreise um ein „Eigentliches“. „Quartiersarbeit ist Kirche an vielen Orten, wobei diese Quartiersorte kirchlich nicht vordefiniert sind. Sie sind nicht kirchliche Orte, weil Kirche als Organisation vorhanden ist, sondern weil sich dort das Wesen von Kirche ereignet, nämlich Zeichen und Werkzeug des Evangeliums zu sein.“ Quartierpastoral versteht sich als ereignisbasierte Kirche bei Gelegenheit, die aus der Vielfalt der Kulturen, der Religionen, der Lebens- und Liebesformen heraus entsteht. „Diversität muss nicht mühsam organisiert werden, sie ist da. […] Gelegenheiten, die das Quartier bietet, sind zum Beispiel der Dialog der Religionen, weil die unterschiedlichen Religionen vor Ort sind, oder die Kommunikation der Nationen, weil das Quartier multinational ist.“ Dafür braucht es auch einen Wandel pastoraler Professionalität, die weniger von Weiheständen oder kirchlichen Berufsbildern ausgeht, sondern von theologischen und multifachlichen Kompetenzen, die „iterativ“ auf eine plastische „Rollenklarheit angesichts einer fluiden Situation“ reflektiert und entwickelt wird.
Quartierpastoral zeigt sich damit momentan als ein Feld gegenwartsfähiger Praxisprojekte von Kirche mit großem theologiegenerativem und solidaritätsstiftendem Potenzial.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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