Verschiedene Gestaltungsmodelle wurden seither erprobt und ihnen allen ist gemeinsam, dass es dabei um eine breitere Beteiligung, einen lebendigen Austausch und ein gemeinsames Suchen nach dem Weg der Kirche in die Zukunft geht. Papst Franziskus hat die gesamte Weltkirche zu einem gemeinsamen Synodalen Weg eingeladen, der in verschiedenen Etappen bis zum Ende dieses Jahres dauern wird.
Der Synodale Weg der Kirche in Deutschland
Die katholische Kirche in Deutschland hat sich auf einen Synodalen Weg begeben, auch und gerade aus den Erschütterungen heraus, die die Aufdeckung und Aufarbeitung der Problematik von sexueller Gewalt und deren Vertuschung in der Kirche ausgelöst haben. Zugleich stand dabei von Beginn an deutlich vor Augen, dass offene Fragen im Hinblick auf die konkrete Gestalt von Kirche nicht länger beiseitegeschoben werden können, sondern in synodaler Weise besprochen und angegangen werden müssen. Der Synodale Weg, den die Kirche in Deutschland seither gegangen ist, war kein einfaches und routiniert zu absolvierendes Unterfangen. In hervorgehobener Weise war dieser Synodale Weg auch ein Lernprozess. Niemand hatte tatsächlich Erfahrungen mit einer konkreten synodalen Kommunikations- und Arbeitsweise. Die Corona-Pandemie war eine zusätzliche, ganz erhebliche Erschwernis, die die Entwicklung von Arbeitsweisen, Konferenz- und Kommunikationsstrukturen an den Rand des Möglichen brachte. Dass es auf diesem Weg nicht wenige Unstimmigkeiten, Auseinandersetzungen, Missverständnisse, Verständigungs- und Abstimmungsbedarfe gab, darf eigentlich niemanden verwundern. Verschiedene Kommunikationsweisen, Konferenz- und Diskussionsstile, Tonalitäten, Konfliktverhalten und Konfliktlösungsstrategien mussten miteinander so in Beziehung gesetzt werden, dass ein konstruktives Voranschreiten bei allen Unterschieden und allen Dissensen in der Sache doch nicht unmöglich blieb. Papst Franziskus hatte zum Beginn dieses Synodalen Weges einen Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland geschrieben, in dem er seine Unterstützung und Sympathie mit dem Weg der Kirche in Deutschland zum Ausdruck brachte und ihr zugleich auch seinen väterlichen Rat mit auf diesen Weg gab.
Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland
Nach dem Ende dieses zeitlich terminiert vereinbarten Synodalen Weges steht die Kirche in Deutschland am Beginn einer neuen Etappe konkret gelebter Synodalität. Schon jetzt zeichnet sich deutlich ab, dass auch diese neue Phase sich nicht einfach gestalten wird. Anforderungen, Zielvorstellungen, Besorgnisse und Ängste treffen aufeinander, die es miteinander zu vermitteln gilt. Die Situation in Deutschland muss in ihren spezifischen Problemlagen gesehen und angegangen werden. Zugleich muss die Kirche in Deutschland sich auch als integraler Bestandteil der Weltkirche verstehen und die Gemeinsamkeiten mit anderen Kirchen suchen. Der Brief des Papstes liefert dabei wertvolle Hinweise, wie die nächsten synodalen Entwicklungsschritte in Deutschland gelingen können: Es ist unabdingbar, dass wir neben wichtigen Strukturfragen die Perspektive der Grundlagen, Grundeinstellungen und Grundhaltungen in den Vordergrund bringen. „Ohne diese Perspektive“, so muss man mit Papst Franziskus sagen, „laufen wir Gefahr, von uns selbst oder vom Wunsch nach Selbstrechtfertigung und Selbsterhaltung auszugehen, was zu Veränderungen und Regelungen führt, die auf halbem Weg stecken bleiben.“ (Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, Nr. 12) Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Satz im 11. Abschnitt des Briefes: „Mit dem Hintergrund und der Zentralität der Evangelisierung und dem Sensus Ecclesiae als bestimmende Elemente unserer kirchlichen DNA beansprucht die Synodalität, bewusst eine Art und Weise des Kirche-Seins anzunehmen, bei der ‚das Ganze mehr ist als der Teil, und es ist auch mehr als ihre einfache Summe‘.“ (Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, Nr. 11, hier mit Verweis auf Evangelii gaudium, Nr. 235) Aus dieser Grundaussage ergibt sich, dass Synodalität genau dann in einer weiterführenden Weise entfaltet wird, wenn sie in ein gedankliches Dreieck eingebunden ist, an dessen Spitze das Evangelium und an dessen dritter Ecke der Sensus Ecclesiae stehen. Dass das Evangelium in allen kirchlichen Belangen die schlechthin zentrale Perspektive darstellt, ist kaum zu bestreiten. Die frohmachende und befreiende Botschaft vom anbrechenden Reich Gottes ist in untrennbarer Unmittelbarkeit mit der Person Jesu Christi verbunden. Evangelisierung aber bedeutet nichts anderes, als sich im Innersten berühren zu lassen von seiner Botschaft. Es bedeutet, dem Evangelium Raum zu öffnen im eigenen Leben, der Liebe und Güte Gottes im eigenen Zeugnis ein Gesicht und eine tatkräftige Hand zu geben und all denen, die nach diesem Grund der eigenen Hoffnung fragen, bereitwillig Rede und Antwort zu stehen. Diese Berufung zur Evangelisierung gilt jeder Christin und jedem Christen individuell und sie gilt darüber hinaus auch der Kirche als dem pilgernden Volk Gottes.
Synodalität als modus vivendi et operandi der Kirche als Gottesvolk
Damit aber kommt auch der Sensus Ecclesiae ins Spiel. Er ist Papst Franziskus zu Recht wichtig für eine gelingende Synodalität. Der Sensus Ecclesiae ist dabei in zweifacher Nuancierung zu verstehen, wobei die beiden Aspekte aufeinander bezogen sein müssen. Es geht um den Glaubenssinn, der in der gesamten Kirche vorhanden ist. „Die Salbung des Heiligen, die über den ganzen kirchlichen Leib ausgegossen wurde, ‚verteilt seine Gaben an jeden nach seinem Willen (1 Kor 12,11)‘.“ (Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, Nr. 9, hier mit Verweis auf Lumen gentium, Nr. 12) Deshalb kann die Kollegialität der Bischöfe alleine nicht genügen, um dem Sensus Ecclesiae gerecht zu werden. Das gemeinsame Beraten und Entscheiden von Getauften und Gefirmten mit und ohne Weihevollmacht ist erforderlich, um die Stimme des Geistes zu vernehmen. Hinzu kommt aber der Aspekt des Sensus Ecclesiae als ein Fühlen mit der Kirche („sentire cum ecclesia“). Unter diesem Aspekt müssen alle, die sich beteiligen, immer wieder je einzeln und als Weggemeinschaft fragen, ob sie tatsächlich im Sinn der Kirche denken und handeln. Es geht eben nicht um die individuelle Profilierung und um partikulare Machtund Geltungsansprüche, sondern um die Kirche, die dann bei sich selbst ist, wenn sie im Geist des Evangeliums für die Menschen da ist. Wenn darin das explizite Ziel des Redens, Entscheidens und Handelns liegt, kommt der Sensus Ecclesiae zu seiner Geltung. Aus diesen Quellen heraus gilt es, die Synodalität als dritten Aspekt in diesem „Gedanken-Dreieck“ zu entfalten. Synodalität ist dabei nichts weniger als der spezifische „modus vivendi et operandi der Kirche als Gottesvolk“ (Internationale Theologische Kommission, Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche, Nr. 6). Das gemeinsame Beraten und Hinwirken auf gute Entscheidungen gehört zur konkreten Gestalt der Kirche. Geeignete Strukturen und Gremien müssen aus dieser Gewissheit heraus entwickelt werden und stellen keinen Selbstzweck dar. Ein Weiterdenken und Weiterentwickeln synodalen Handelns und Lebens wird dieses Dreieck von Evangelisierung, Sensus Ecclesiae und Synodalität immer wieder neu in den Blick rücken müssen, um vor sich selbst und auch vor den Skeptikern der Synodalität klarzustellen, worum es geht. Papst Franziskus macht dabei auch unmissverständlich deutlich, welche Haltung erforderlich ist, um hier die richtige Balance und das geeignete Verhältnis der Aspekte zu finden: „Dies verlangt vom ganzen Volk Gottes und besonders von ihren Hirten eine Haltung der Wachsamkeit und der Bekehrung, die es ermöglicht, das Leben und die Wirksamkeit dieser Wirklichkeiten zu erhalten.“ (Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, Nr. 12) Wachsamkeit und Bekehrung könnte man auch mit dem Begriff einer aufmerksam selbstkritischen Haltung wiedergeben. Halten wir dabei fest, dass das ganze Volk Gottes, aber besonders die Hirten diese Haltung benötigen. Alle, aber gerade die Leitenden, müssen sich immer wieder neu und in großer Offenheit fragen, was Synodalität im Sinne des Evangeliums und der Kirche bedeutet. Dabei gilt natürlich zuletzt immer: „Die Wachsamkeit und die Bekehrung sind Gaben, die nur der Herr uns schenken kann.“ (ebd.) Uns aber kommt es zu, um diese Gaben zu bitten, sie bereitwillig zu empfangen und sie zu entfalten.
Die Vielstimmigkeit gelebter Synodalität
Der Synodale Weg der katholischen Kirche in Deutschland war und ist in dieser Hinsicht unser Weg der Konkretisierung von Synodalität. Insbesondere vor dem Hintergrund von sexualisierter Gewalt in der Kirche ging und geht es darum, zu konkreten Schritten der Veränderung zu kommen. Meinem Verständnis nach ist die Voraussetzung für gelingende Synodalität eine offene Diskussions- und Konfliktkultur, in der es sowohl Raum für alle Argumente gibt als auch die grundsätzliche Bereitschaft, sie zugleich kritisch und konstruktiv zu würdigen. Aber es geht auch darum, Partizipation zu ermöglichen.
Papst Franziskus stellt explizit heraus: Der Sensus fidei verbietet es, allzu starr zwischen einer lehrenden und einer lernenden Kirche zu unterscheiden. Um dem gerecht zu werden, braucht es einen strukturellen Rahmen, eine konkretisierte Gestalt von Synodalität, die es erlaubt, gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag der Kirche ernsthaft im Lichte des Evangeliums zu fördern und zu stärken. Denn darum geht es im Kern, wenn wir von Synodalität sprechen: „Synodalität ist ein Grundvollzug der Kirche. Synodalität ist auch ein geistlicher Prozess, der hilft, das Wort Gottes heute zu hören und durch die Unterscheidung der Geister, durch Gebet und durch den Austausch von Argumenten die Evangelisierung zu fördern. Synodalität ist eine Form, in der die Glieder des Gottesvolkes ihre spezifischen Geistesgaben entdecken, einbringen und miteinander verbinden können. Synodalität ist zudem eine Form des transparenten und lösungsorientierten Arbeitens.“ (Handlungstext Synodalforum I – Synodalität nachhaltig stärken)
Es bedarf einer gehörigen Portion Mut, die Vielstimmigkeit gelebter Synodalität aufzunehmen und sie tatsächlich als Reichtum zu begreifen. Die Synodalen haben es gewissermaßen am eigenen Leib erfahren, wie anstrengend es ist, hinzuhören, und nicht weniger mühevoll, miteinander zu Unterscheidungen und Entscheidungen zu finden. Man muss sich allerdings auch die Frage stellen, was die Alternative wäre: eine systematisch schön durchgestaltete Lehre ohne Brüche und Fragezeichen, die aber zur Lebenswirklichkeit der Menschen in immer größerem Abstand steht und zuletzt nur noch von Experten verstanden werden kann?
Der Synodale Weg der Kirche in Deutschland hat sich aufgemacht, um hier einen spürbaren Schritt weiterzukommen. Ich bin davon überzeugt, dass wir keinen isolierten Sonderweg gehen, sondern dass wir dabei fest verankert sind in der kirchlichen Lehre. Und wir sind getragen von der Hoffnung, dass wir aus diesen Erfahrungen heraus auch weiterführende Aspekte in den Synodalen Weg der Weltkirche einbringen können.
Abschließendes
Es wird also auf dem zukünftigen Weg der Synodalität, in der Weltkirche, in der Kirche in Deutschland, in den Diözesen und in den Pfarreien nicht allein auf gute Strukturen, auf funktionstüchtige Satzungen und auf tragfähige Texte und Beschlüsse ankommen – so unverzichtbar dies alles auch ist. Eine gute äußere Struktur dient dem, woran uns der Brief von Papst Franziskus erinnert: Das Zueinander von Evangelium, Kirche und Synodalität muss in einer Grundhaltung der aufmerksamen Selbstkritik von allen miteinander gesucht werden.
Der Auftrag, Erinnerungen an die Worte und Taten des Auferstandenen so weiterzugeben, dass sie unter den Menschen lebendig bleiben, stellt, so wie in der Apostelgeschichte beschrieben, den Anfang unserer Kirche dar. Dieser Aufgabe müssen wir treu bleiben, was nicht ohne einen entschiedenen Fokus auf den spirituellen Kern unseres Glaubens gelingen wird. Struktur und Inhalt dürfen dabei keine Gegensätze bilden, sondern sollten als miteinander verbunden begriffen werden.