Fazit
Die große Sehnsucht nach Frieden zieht sich als roter Faden durch die Geburtsgeschichte des Erlösers. Der rettende Eingriff Gottes aber kommt nicht als globaler Marshallplan zur Welt, sondern verbreitet von den Rändern und von ganz unten ihre Hoffnung. Diese aber dringt mit ihrem Licht auch in den finstersten Winkeln der Geschichte vor und arbeitet so subversiv an den scheinbar unerschütterlichen Machtverhältnissen dieser Welt.
Ein heiliger Augenblick entführt uns aus dem Spannungsgefüge der Gegenwart in die Sphären vollkommenen Friedens. Dass Lukas mit dem Anfang seines Evangeliums so viel kreative Dynamik freisetzen konnte, kommt nicht von ungefähr. Denn der Evangelist schöpfte nicht allein aus urchristlicher Jesusüberlieferung, sondern aus mythischer Tiefe. Und seine ersten Adressaten konnten wohl auch treffsicher entziffern, worauf Lukas dabei anspielte.
Kontrastfolie der Weltgeschichte
In aller Sorgfalt will er darlegen, was schon längst Geschichte geschrieben hat (Lk 1,1–4). Und gerade in die Anfänge seiner Jesus-Vita fügt der Evangelist gleich drei Chronogramme ein. Die sollen zum einen gewiss den zeitlichen Rahmen für die Ereignisse abstecken. Aber zugleich laden sie uns zu einem fundamentalen Perspektivwechsel ein: weg von der Bühne der Weltgeschichte hin zu den Hinterzimmern des Imperiums, weg von den tonangebenden Machtmenschen der Zeit hin zu jenem Jesus von Nazareth, dem wahren Dreh- und Angelpunkt aller Geschichte. Da ist zuerst von Herodes dem Großen die Rede (Lk 1,5), der sich im Kampf um die Anerkennung seiner Herrschaft immer tiefer in Willkür und Gewalt verstrickt und vor allem als schwarze Legende im kollektiven Gedächtnis haften bleibt (vgl. Mt 2,12–18). Das zweite Chronogramm rückt die Geburt Jesu in das Licht der neuen Epoche von „Frieden und Sicherheit“ unter Augustus (Lk 2,1–2). Doch der Zensus des Statthalters Quirinius taucht die Zeitumstände in ein weniger günstiges Licht. Denn der wird unter anderem auch die zelotische Widerstandsbewegung auf den Plan rufen. Das dritte Chronogramm schließlich führt die gesamte Machtelite von Tiberius bis zu den Hohepriestern Hannas und Kaiphas auf (Lk 3,1–2). Der Bogen zu Jerusalem und zur Passion ist damit bereits gespannt.
Herrlichen Zeiten entgegen
Die Hirten auf Bethlehems Feldern spielen eine zentrale Rolle in der Geburtsgeschichte des Lukas (Lk 2,8–20). Mit ihrer Referenz vor dem Neugeborenen weisen die Hirten dieses Kind aus Davids Haus als den Messias aus (Vers 16f.), sie aktualisieren die Davidstradition (vgl. 1 Sam 17,15). Aber über der Szenerie schwebt ja auch der Name des Augustus und seine mit jedem verfügbaren Medium der damaligen Zeit betriebene Propaganda für die „Pax Augusta“, die mythisch als Anbruch des „Goldenen Zeitalters“ (aurea aetas) überhöht wurde. Die Eklogen des Vergil etwa greifen die klassische Hirtendichtung auf und verklären das Hirtendasein zum Ideal eines harmonischen und sorgenfreien Lebens im Frieden mit allem und allen. Die politische Inszenierung einer großen Zeitenwende unter Augustus und seinen Nachfolgern greift Lukas nicht frontal an. Durch Anspielungen, die immer wieder vom Gottesbild Israels her gedeutet werden, entwirft er vielmehr eine subtile Gegengeschichte: Die Geburt des Messias trug sich schließlich nicht im Zentrum der Macht, sondern in einem notdürftigen Provisorium zu. Aus extremem Platzmangel wissen die Eltern nicht so recht, wohin mit dem Neugeborenen (vgl. Lk 2,7). Den Insignien der römischen Macht stehen bei Lukas zwei schlichte, ja fast armselige Zeichen gegenüber: „Und das ist das Zeichen für euch: ihr werdet ein Neugeborenes finden, gewindelt und in einem Futtertrog liegend“ (Lk 2,12). In den ganz normalen Anfängen eines gewöhnlichen Menschen kommt das Rettende zur Welt. Die himmlischen Heerscharen bekräftigen die frohe Botschaft nicht mit Demonstrationen militärischer Stärke, sondern mit dem Lobpreis Gottes (Lk 2,14), von dem der wahre Friede ausgeht. Die Anfänge des neuen Weltenherrschers beschwören also gerade nicht eine urwüchsige Idylle herauf, sondern werden als Wendepunkt geschildert, der die Aufhebung der bisherigen, von Unterdrückung gezeichneten Verhältnisse einleitet. „Was sich durch die Lektüre der lukanischen Geburtsgeschichte verändert, ist nicht – mit den Mitteln der gewaltsamen Revolution – die politische Landschaft an sich, sondern – mit den Mitteln der Bewusstseinsbildung – die Einschätzung und Akzeptanz, das Bild der aktuellen römischen Herrschaft“ (Stefan Schreiber).
Transitzonen für das Heil
Die Weihnachtsbotschaft des Lukas zielt nicht allein auf das Innehalten an einer Oase des wahrhaft Göttlichen im Menschlichen, sie will in Bewegung bringen. „Die Geschichte Jesu entsteht aus Bewegung und setzt in Bewegung; unterwegs wird der Gottessohn geboren; das vorübergehende Provisorium und nicht der feste Ort bietet dafür den angemessenen Rahmen“ (Christfried Böttrich). Sie inspiriert zu Veränderung der sozialen und politischen Wirklichkeit, indem sie das Rettende an den Rändern des großen Tagesgeschehens aufspürt. Die beengte Absteige von Bethlehem erscheint beim Evangelisten Lukas als eine Art „Basislager“, das inmitten aller Widrigkeiten den Unerwünschten und Unzeitgemäßen aufnimmt und dadurch zum Ausgangspunkt hoffnungsvoller Anfänge wird. Unsere Kirchenräume sind geschaffen, um diesen Impuls aufzugreifen, um als realsymbolische „Transitzonen“ eine größere Hoffnung zu vermitteln und erlebbar zu machen, die Dynamik unseres Glauben zu fördern.
Gebete weiten den Horizont
Der Anfang einer Geschichte trägt schon alle Keime ihres Endes in sich, birgt bereits den Sinn, der sich im folgenden Geschehen entfalten wird. So hat Lukas in seine Geburtsgeschichte auch vier Cantica eingeflochten. Diese Lobgesänge aus dem Mund von Engeln und Menschen legen die heilsgeschichtliche Tragweite der Ereignisse frei. Im ersten und letzten Lied verdichten sich, was konkret durch die Geburt des Retters gewendet werden soll.
In ihrem Magnifikat (Lk 1,46–55) wächst die junge Frau aus Nazareth weit über die erzählte Situation, ja weit über sich selbst hinaus. Sie tritt als Prophetin in Erscheinung mit einer Botschaft von durchaus auch politischer Sprengkraft. Denn im Zentrum ihres Liedes steht das Erbarmen Gottes, das sich jetzt dem Elend seines Volkes Israel zuwendet und entschieden Partei ergreift für die Machtlosen, Unterdrückten, für die Niedrigen und Armen. Auch die Heilshoffnung der Kirche steht auf dem Fundament der Abrahamsverheißung (Vers 54f.). In jeder Vesper macht sich die Kirche die Worte Marias zu eigen. Sie verschafft der Stimme einer „niedrigen Sklavin“ damit öffentliche Geltung (vgl. Vers 48). In der alltäglichen Praxis der Kirche muss sich niederschlagen, was ihr in der Liturgie selbstverständlich geworden ist: der Stimme der Schwachen und Niedrigen, der von Ausbeutung und Missbrauch Betroffenen Raum und Gewicht zu geben. Ein rhetorisch versierter Bischof hat dieses Postulat auf ein „Lehramt der Betroffenen“ zugespitzt, wo vielleicht besser an das ureigene Recht der Prophetie in und für Gottes Volk zu erinnern wäre. Denn die in Marias Lied waltende Rhetorik will den Spieß von Macht und Autorität nicht einfach nur umdrehen, sondern den völlig neuen Verhältnissen der Gottesherrschaft die Bahn brechen. Diese aber sind von der göttlichen Macht des Erbarmens bestimmt.
„Ein Licht zur Enthüllung für die Völker“
Auch das Loblied des Simeon ist als „Nunc dimitis“ zum festen Bestandteil der Tagzeitenliturgie geworden (Lk 2,29–32). Es übersteigt die Perspektive der anderen Lieder aus der lukanischen Geburtsgeschichte durch seine explizit universale Weite. „Alle Völker“ sind nun in den Blick genommen (Vers 31). Sprachlich ist daran von Interesse, dass die Ehrenbezeichnung für das Gottesvolk Israel (ȜȐȠȢ) hier auf die gesamte Menschheit übertragen ist. Während sie noch in dem Vergleichstext Jes 52,10 bloß als Zuschauer bei der Wiederherstellung Israels galten, haben sie im Loblied Simeons zusammen mit Israel vollen Anteil an Gottes Heil. Das Licht des Messias soll auf alle Menschen fallen und sie aufklären, damit sie sich dem wahren Gott anschließen können. Mag auch das „Erstaunen“ der Eltern primär jener Universalität gelten, in die Simeons Worte das Wirken Jesu stellen, es steht auch uns Nachgeborenen aus den „Heidenvölkern“ gut zu Gesicht. Das leibhaftige Kommen Gottes mitten unter die Menschen kann uns immer nur als etwas Unerhörtes wirklich erreichen. Es muss dann auch an unseren Unterscheidungen und Grenzziehungen rütteln dürfen. „Das Staunen ist der Anfang des betroffenen Glaubens, bevor er zum Verstehen durchfindet“ (Heinz Schürmann ).
Ein Weg zwischen Fremde, Flucht und Vertreibung
Josef bricht mit der schwangeren Maria nicht aus freien Stücken nach Bethlehem auf. Lukas schildert den historischen Hintergrund mit einigen Ungereimtheiten, die die Maßnahme des Quirinius mal als Erhebung von Kopfsteuer, mal von Grundsteuer erscheinen lassen. Vielleicht hatte der Evangelist gar keine präzise Kenntnis mehr von den tatsächlichen Zusammenhängen. Der Spekulation wäre ein größerer Spielraum gegeben. Die junge Familie würde dann nicht wie bei Matthäus vor den Nachstellungen des Herodes nach Ägypten fliehen (Mt 2,13–15), sondern vor der römischen Steuerveranlagung? Mit keinem Wort seiner Geschichte legt der Evangelist Lukas uns das nahe. Aber es muss jeden Leser merkwürdig berühren, dass der Messias ausgerechnet an dem Ort, wo er eigentlich hingehört, keinen Platz finden kann. Sein Anfang nimmt Anteil am Ursprung des auserwählten Volkes, der in der Fremde liegt (vgl. Dtn 26,5). Die Fremde hat den weiteren Weg des Gottesvolkes bis auf den heutigen Tag geprägt wie ein theologisches Existential. Und der Gottessohn, der Himmel und Erde verbindet, droht schon gleich zu Beginn seiner Geschichte aufgerieben zu werden von den komplizierten Machtverhältnissen seiner Zeit. Doch die Verkündigung der Gottesherrschaft findet ihren Weg, angefangen im Abseits lagernder Hirten über Jerusalem bis an die Grenzen des Erdkreises (vgl. Lk 24,47), der nach der Verfügung des Augustus doch erfasst und damit unter die Kontrolle des Imperiums gebracht werden sollte (Lk 2,1).