Chancen und Grenzen kirchlicher Präsenz im TourismusZwischen Kultur und Spiritualität

Kirchen und Tourismus haben viele Schnittstellen: Das Pilgern boomt, Citykirchen und Bergkapellen laden zum Verweilen ein, Kathedralen und Klöster gehören zu den Hauptattraktionen des Kulturtourismus. In Urlaub und Freizeit nehmen sich viele Menschen nicht nur Zeit für Bildung, sondern auch für Sinnfragen und Spiritualität. Offenbar sind das Bereiche, in denen sie den Kirchen nach wie vor eine hohe Kompetenz zuschreiben. Der einführende Beitrag zu diesem Themenheft sieht sowohl im Kulturtourismus wie auch im Spirituellen Tourismus Chancen für kirchliche Präsenz, weist aber auch auf deren Grenzen hin.

Wie schon früher steht auch im Jahresbericht 2023 des Deutschen Tourismusverbands der Besuch von kulturellen Sehenswürdigkeiten auf Platz 1 der Reiseaktivitäten in Deutschland. Neben Museen ziehen dabei vor allem Kirchen und Klöster scharenweise touristische Besucher/-innen an. Der Kölner Dom war mit sechs Millionen Besucher/-innen die beliebteste Sehenswürdigkeit in Deutschland und zählte damit genauso viele Tourist/-innen wie der Petersdom in Rom. Mehr Gäste konnte 2023 nur das Münchner Oktoberfest mit 7,2 Millionen verbuchen.
Wer nach der Motivation der Menschen fragt, die Kirchen und Klöster besuchen, stößt zuerst auf den Megatrend Wissenskultur. Befördert durch die Digitalisierung hat Wissen im 21. Jahrhundert seinen elitären Charakter verloren und ist zum allgemein zugänglichen Gut geworden. Bildung zählt zu den zentralen Ressourcen von Persönlichkeitsentwicklung und beruflicher Karriere, daher gehören Erholung und Bildung für viele Menschen auch in den Ferien zusammen. Umfragen zeigen, dass 77 Prozent der Europäer/-innen im Urlaub nicht nur gerne am Strand liegen, sondern auch kulturelle Sehenswürdigkeiten besuchen, um mehr über die Kultur, Geschichte und Politik des Gastlands zu erfahren. Der hohe Stellenwert, den der Megatrend Wissenskultur in unserer Gesellschaft einnimmt, hat erhebliche Auswirkungen auf den Kulturtourismus.
Dass Reisen bildet, ist bekanntlich keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Vielmehr zieht sich das Motiv des Wissenserwerbs mit dem Ziel der Horizonterweiterung wie ein roter Faden durch die Geschichte des Reisens. Während die Grand Tour der Adligen im 17./18. Jahrhundert, die in der Regel ein Jahr dauerte und von einem Mentor als Kulturvermittler begleitet wurde, eine Angelegenheit begüterter Kreise war, wird die Bildungsreise in der Zeit der Aufklärung zum Allgemeingut, das sich auch immer mehr Bürgerliche leisten können. Die Bezeichnung der ersten touristischen Reisen als Grand Tour ist bezeichnend, denn der Begriff „Tourismus“ leitet sich ja vom französischen „le tour“ (lateinisch tornare: runden, drechseln) ab und weist auf eine zirkuläre Bewegung hin. Dabei verlassen Reisende ihre Umgebung, um ihren Bildungshorizont zu erweitern, und kehren dann wieder an den Ausgangspunkt zurück. Damals wird der Grundgedanke von Goethes ‚„Italienischer Reise“ (1786), dass nämlich die Begegnung mit dem „Guten, Wahren, Schönen“ analoge Kräfte der Seele ausbildet, zum Ideal einer breiten bürgerlichen Kultur.
Auch wenn sich die klassische Bildungsreise von damals wesentlich vom heutigen Tourismus unterscheidet, der maßgeblich durch die Kürze der Reisezeit und ihre Massenhaftigkeit gekennzeichnet ist, so ist die Idee, das Reisen bildet, doch eine Brücke, welche die vielfältigen Formen des heutigen Kulturtourismus mit seinen historischen Vorläufern verbindet. Es ist kein Zufall, dass in Reiseprospekten unserer Tage immer wieder Goethes berühmtes Zitat aus seinem Gespräch mit Caroline Herder auftaucht: „Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen.“ Diese philosophische Einsicht Goethes hat viel mit dem Bildungsaspekt des Kulturtourismus zu tun, auch wenn sich dieser heute in einem permanenten Dilemma befindet: In der Kürze der Zeit, die eigentlich Muße bräuchte, soll das Reisen einen möglichst hohen Erkenntniszuwachs durch kulturelle Bildung schaffen, obwohl den Kulturtourist/-innen, die möglichst viele Ziele auf ihrer Liste abhaken wollen, häufig gerade eines fehlt: Zeit.

Kirchen und Klöster als Hotspots im Kulturtourismus

Wer Kirchen und Klöster als Objekte des Kulturtourismus in den Blick nimmt, muss sich auch mit dem unübersehbaren Trend zur „Musealisierung“ der Religion auseinandersetzen. Schon vor Jahren haben die Tourismusforscher Wolfgang Isenberg und Albrecht Steinecke darauf hingewiesen, dass es sich bei Kirchenräumen, die von Tourist/-innen besucht werden, zwar um religiöse Stätten handelt, dass Kirchen aber vor allem in ihrer historischen und kulturellen Dimension wahrgenommen werden. Touristische Besucherströme konzentrieren sich besonders auf Kirchen und Klöster, die bestimmte Alleinstellungsmerkmale aufweisen: Entweder imponiert ihre eindrucksvolle Größe, wie etwa beim Dom zu Speyer, der größten erhaltenen romanischen Kirche Europas. Oder es beeindruckt die imposante Lage wie bei der Kathedrale Notre-Dame im Herzen von Paris oder dem Mont St. Michel hoch über der Küste der Normandie. Oft sind Kirchen Touristenmagneten, weil sie einen wertvollen Kunstschatz zu bieten haben, wie das ehemalige Antoniterkloster in Colmar mit dem berühmten Isenheimer Altar von Matthias Grünewald. Daneben sind Kirchen auch touristische Hotspots, wenn sie durch berühmte Künstler/-innen erbaut wurden, so wie Gaudís Sagrada Familia in Barcelona. Die Tatsache, dass Tourist/-innen auf ihren Reisen Besonderheiten und Superlative suchen, darf jedoch nicht als Ausdruck ihrer Oberflächlichkeit verstanden werden. Vielmehr ist sie die Folge eines knappen Zeit- und Geldbudgets, das zur Auswahl und zum selektiven Blick zwingt. In der kulturtouristischen Urlaubsplanung findet man deshalb häufig eine Art von Hierarchie der Attraktionen, die bewusst ausgewählt und in der Reihenfolge ihrer Bedeutung „abgehakt“ werden, um hinterher zeigen zu können, wie viele must sees besucht wurden.
Wie reagieren die Kirchen auf die Herausforderungen des Kulturtourismus? An vielen Urlaubsorten gibt es Initiativen wie die Aktion „Verlässlich geöffnete Türen“. Sie bieten die Chance, Menschen durch geöffnete Kirchenräume mit Fragen der Religion und des Glaubens in Berührung zu bringen. Andererseits zeigt sich bei Kirchenbegehungen mit Tourist/-innen häufig, dass pastorale Aktivitäten schnell ihre Grenzen haben. Oft wollen Tourist/-innen die Kirchen zwar als Sehenswürdigkeiten kennenlernen und sich bilden. Für ihre persönliche Sinnsuche erwarten sie von den Kirchen allerdings keine Orientierung. Es ist bezeichnend, dass die religionspädagogischen Methoden im Rahmen der seit vielen Jahren etablierten „Kirchenraumpädagogik“ auf museumspädagogische Ansätze zurückgreifen. Viele Ehrenamtliche aus Pfarreien und Kirchengemeinden haben eine Kirchenführer-Ausbildung absolviert, um den Gästen ihre Kirchenräume zeigen und erschließen zu können. Wenn diese nach dem Besuch einer Kathedrale, Basilika oder Klosterkirche dann nach ihren Erfahrungen befragt werden, vergleichen sie die Kirchenbesichtigung häufig mit einem Museumsbesuch. Religion und Glaube werden in diesem musealen Setting als Phänomene der Vergangenheit betrachtet. Damit steht zunächst ein historisierender und ästhetisierender Blick im Vordergrund, der das Religiöse in gewisser Weise auf Abstand bringt, obwohl die Kirchen als Anbieter im Feld des Tourismus genau das Gegenteil intendieren, nämlich Nähe zu Religion und Glaube statt Distanz. Daher ist es wichtig, dass nach den Besichtigungen genügend Zeit zum Gespräch bleibt, damit Sinnfragen nach Religion und Glauben tatsächlich Platz haben. Die Spannung zwischen Megatrends und Musealisierung hat für die Kirchen eine paradoxe Situation zur Folge, die vielleicht am ehesten mit der Formel „Menschen gehen, Räume bleiben“ zu beschreiben ist: Einerseits ist die Zahl der Kirchenaustritte anhaltend hoch, andererseits haben die steinernen Wahrzeichen der Kirchen wie auch ihre Riten und Bräuche Hochkonjunktur.

Spiritualisierung des Tourismus und Touristifizierung der Religion

Die Soziologinnen Kornelia Sammet und Uta Karstein haben am Beispiel von Wanderwegen im Schwarzwald ein interessantes Phänomen beschrieben: Einerseits sei eine „Spiritualisierung des Tourismus“ feststellbar, wenn Tourismusbüros Wanderwege anbieten, die auf Religiöses in Form von Artefakten, Orten oder Erzählungen Bezug nehmen. Das ist etwa beim „Klosterpfad Bad Herrenalb – Frauenalb“ oder beim „Kapellenwanderweg rund um den Feldberggipfel“ der Fall. Letzterer wird explizit mit spirituellen Impulsen verknüpft, der auf den Gottesglauben der Schwarzwaldbauern in früheren Zeiten Bezug nimmt. Religion wird dabei sowohl als kulturelles Erbe beschrieben wie als verkaufsfördernde Kulisse genutzt. Umgekehrt ist so etwas wie eine „Touristifizierung der Religion“ feststellbar, wenn eine berühmte Citykirche wie das Fraumünster in Zürich am Sonntag gerade einmal 50 Gottesdienstbesucher/-innen zählt, während am Montagmorgen Hunderte von Tourist/-innen in Reisegruppen das Gotteshaus mit den berühmten biblischen Glasfenstern von Marc Chagall besichtigen wollen. Die Thematisierung von Religion aus der Innenperspektive (religiöse Sprache, z. B. im Gottesdienst) und aus der Außenperspektive (Sprache über Religion, z. B. in Kirchenführungen) gehen in der touristischen Kommunikation häufig Hand in Hand. Diese Schnittstelle wird künftig ein wichtiges Forschungsfeld für empirische Untersuchungen sein.

Spiritueller Tourismus: Reisen als Reisen zu sich selbst

„Machen Sie sich auf den Weg und begeben Sie sich auf eine PilgerReise zu sich selbst.“ Mit diesen Worten wird der Meditationsweg im oberbayrischen Naturpark Ammergauer Alpen beworben. Der aus fünf Etappen bestehende Pilgerweg beginnt bei der Wieskirche (UNESCO-Weltkulturerbe) und endet beim Schloss Linderhof im Graswangtal. Die Pilgernden werden nicht nur zu religiösen und spirituellen Stätten geführt, sondern haben auch die Möglichkeit, sich beim Gehen in der Natur in Selbstreflexion zu üben und sich mit den großen Fragen des Lebenssinns auseinanderzusetzen.
Sich auf den Weg zu begeben und dabei zu sich selbst zu reisen, sind wesentliche Merkmale des Spirituellen Tourismus, der oft als Sammelbegriff für verschiedenste Formen des Tourismus verwendet wird. Die beiden genannten Bewegungen hin zu einem Ort und zugleich hin zum eigenen Selbst verdeutlichen die Spannbreite dieses Phänomens. Den Terminus „Spiritueller Tourismus“ zu systematisieren, fällt dementsprechend schwer, wobei diese Tourismusart im Allgemeinen in die Bereiche des Gesundheits-, Kultur- und Naturtourismus eingeordnet wird.
Am Beispiel des Ammergauer Meditationsweges lassen sich zwei Reisekategorien im Feld des Spirituellen Tourismus erkennen. Zum einen umfasst Spiritueller Tourismus das Reisen, welches an ein religiöses oder spirituelles Ziel führt. Damit kann der Besuch von Altötting als einem bedeutenden Wallfahrtsort, der Besuch des Kölner Doms oder der Besuch des Jüdischen Friedhofs „Heiliger Sand“ in Worms gemeint sein. Entscheidend dabei ist, dass das religiöse Ziel, also die Frage nach dem „Wohin?“, die ausschlaggebende Motivation für die Reise war. Manche Autor/- innen bezeichnen diese Form des Tourismus auch als Religionstourismus oder religiösen Tourismus.
Zum anderen kann die Individualität im Zentrum des Spirituellen Tourismus stehen, wobei die Reise als Reise zum eigenen Selbst gesehen wird. Dabei geht es nicht so sehr um das Ziel als um die innere Haltung, die von den Reisenden eingenommen wird. Durch das Unterwegssein werden die Tourist/-innen angeregt, sich selbst zu reflektieren und über Sinnfragen nachzudenken. Obwohl das Reiseziel nicht ausschlaggebende Motivation ist, kann es gerade die ungewohnte Umgebung sein, welche Anreiz für Reflexion, für die Beschäftigung mit dem eigenen Selbst oder für die Auseinandersetzung mit spirituellen Fragen bietet. Angebote wie der Ammergauer Meditationsweg greifen diese Art von Tourismus auf und verbinden religiöse Sehenswürdigkeiten mit dem Nachdenken über die eigene Spiritualität. Jenseits aller Grenzen, die in diesem Beitrag beschrieben werden, zeigen die zahlreichen Aktivitäten der Tourismuspastoral, dass es neben dem Kulturtourismus gerade auch Formen des Spirituellen Tourismus sind, die seelsorgliche Chancen für die Kirchen bieten. Denn Reisen ist immer auch Reisen zu sich selbst.

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