Erfahrungen eines Mönches mit dem BetenDas Gebet hält lebendig

Seit 60 Jahren lebe ich als Mönch in der Abtei Münsterschwarzach. Unser Tag ist geprägt vom fünfmaligen gemeinsamen Gebet in der Abteikirche, von der Meditation und vom persönlichen Gebet. Natürlich kann das regelmäßige Beten auch zur Routine werden. Aber es vermag mich auch wachzuhalten. Es konfrontiert mich immer wieder mit Gott, aber auch mit mir selbst.

Wenn ich keine Lust zum Beten habe, dann erkenne ich, dass ich auch in mir eine gottlose Seite habe, dass ich nicht alles in die Beziehung zu Gott bringen möchte. Zugleich ist aber die Unlust dann eine Herausforderung, mich mit allen meinen Gefühlen und Stimmungen Gott hinzuhalten. Das Gebet zwingt mich immer wieder, mich meiner eigenen Wahrheit zu stellen und mich so, wie ich bin, vor Gott zu stellen.

Das gemeinsame Chorgebet

Im gemeinsamen Chorgebet rezitieren wir schon morgens um 5.00 Uhr die Psalmen. Die Psalmen der Vigil laden uns ein, unsere eigene Lebensgeschichte vor Gott zu meditieren. Indem wir die Geschichte Israels mit Gott reflektieren, die eine ständige Geschichte von Abfall und Umkehr war, begegnen wir unserer eigenen Lebensgeschichte mit all ihren Höhen und Tiefen, mit ihren Irrwegen und Umwegen, mit ihren Brüchen und Aufbrüchen. Den Schluss der Laudes und die übrigen Gebetszeiten – Mittagshore, Abendhore, Nachthore – singen wir. Im Gesang dringen die Worte der Psalmen tiefer in uns ein. Das Singen zwingt aber auch, aufeinander zu hören. Das Singen ist oft ein gruppendynamischer Prozess. Da werden die Spannungen einer Gemeinschaft hörbar. Aber zugleich ist es oft ein Weg, wie im gemeinsamen Singen auf einmal die Gemeinschaft in Einklang kommen kann. Dann wird das Singen zu einer gemeinsamen Gotteserfahrung.
Im Chorgebet stehen die Psalmen im Mittelpunkt. Sie sind die Gebetsschule, nicht nur der Juden, sondern auch der Christen. In den Psalmen drücken wir alle unsere Gefühle vor Gott aus: unsere Ängste, unsere Enttäuschungen, unsere Trauer über das Leben so, wie es ist. Wir klagen vor Gott, wir ringen mit ihm. Die Psalmen sind nicht nur fromm. Sie drücken alle Höhen und Tiefen des menschlichen Herzens vor Gott aus. Aber gerade so können sich die Gefühle wandeln: Angst in Vertrauen, Enttäuschung in Hoffnung und Wut in Liebe.
Ich kann die Psalmen nicht für mich allein beten. In den Psalmen bin ich immer schon verbunden mit den Menschen und ihren vielfältigen Nöten. Denn die Psalmen sprechen nicht nur von meinen Erfahrungen, sondern von den Erfahrungen der Menschen, denen ich in der Seelsorge begegne, von deren Nöten ich in der Zeitung lese. Die Psalmen führen mich täglich in die Solidarität mit den Menschen und ihren Ängsten und Sorgen.
Der hl. Augustinus hat mich aber auch gelehrt, die Psalmen mit Jesus zu beten, der sie als frommer Jude ja auch gebetet hat. Wenn ich Psalm 22 oder 31 bete, von denen Matthäus und Lukas sagen, dass sie Jesus am Kreuz gebetet hat, dann erlebe ich Jesu Ringen am Kreuz mit, seine Verlassenheit und Nöte, aber auch sein Vertrauen, sich trotz aller äußeren Aussichtslosigkeit Gottes guten Händen anzuvertrauen und darauf zu hoffen, dass selbst die Mörder ihn nicht der schützenden und bergenden Hand Gottes entreißen können.
Zu den vier Gebetszeiten – Vigil und Laudes um 5.00 Uhr, Mittagshore um 12.00 Uhr, Abendhore um 18.00 Uhr und Komplet um 19.35 Uhr – kommt die tägliche Eucharistiefeier. Sie ist für mich immer wieder die Einladung, alles in mir Gott hinzuhalten, damit mein Brot der Mühsal in das Brot verwandelt wird, das vom Himmel herabkommt und das Christus selber ist, damit der Kelch meines Leids und des Leids der Menschen, an die ich denke, in den Kelch des Heils verwandelt wird und der Trauerkelch zum Trostkelch wird. Und die Eucharistiefeier hält mir immer wieder vor Augen, dass wir Brüder, die so verschieden sind, in Christus eins werden. Das ist die tägliche Herausforderung, die Brüder mit anderen Augen anzuschauen und sich trotz aller Differenzen und Konflikte mit ihnen eins zu fühlen.

Meditation

Nach dem Frühchor, der von 5.00 bis 5.50 Uhr dauert, meditiere ich in meiner Zelle. Ich zünde die Kerze an, die vor meiner Christusikone steht und meditiere mit dem Jesusgebet: Beim Einatmen sage ich mir still vor: „Herr Jesus Christus“, und beim Ausatmen: „Sohn Gottes, erbarme dich meiner!“ Natürlich schweife ich da manchmal ab und alle möglichen Gedanken tauchen auf. Aber dann versuche ich, in all das, was da in mir hochkommt, das Jesusgebet hineinzusprechen, in der Hoffnung, dass der Geist Jesu das Chaotische in mir ordnet, das Zerstreute sammelt, das Verwundete heilt und die negativen Emotionen verwandelt.
Das Jesusgebet taucht tagsüber immer wieder einmal auf, wenn ich durch den Kreuzgang gehe oder vor einem Seelsorgegespräch. Beim Gehen sammelt mich das Jesusgebet, dass ich nicht in den Räumen meiner Fantasie spazieren gehe, sondern das, was mich gerade beschäftigt, immer wieder Christus hinhalte. Vor einem Gespräch oder auch während des Gesprächs bete ich oft: „Herr, erbarme dich ihrer, erbarme dich seiner.“ Dann öffnet mich das Jesusgebet für den andern. Und es entlastet mich von meinem eigenen Leistungsdruck, als ob ich dem anderen helfen oder ihn heilen sollte. Wenn etwas Heilendes im Gespräch geschieht, ist es letztlich immer Gnade, immer der Geist Jesu.

Das persönliche Gebet

Die Meditation ist geprägt durch eine klare Methode: den Atem mit dem Jesusgebet verbinden und das immer wieder üben. Das persönliche Gebet hat keine Methode. Ich setze mich einfach vor Gott hin und lasse ungeschützt all das hochkommen, was mich gerade bewegt. Aber das Gebet ist kein Selbstgespräch oder eine Selbstanalyse. Ich halte alles, was in mir auftaucht, Gott hin. Das kann in Worten geschehen oder einfach im Schweigen. Das persönliche Gebet konfrontiert mich immer wieder neu mit meiner eigenen Wahrheit. Es führt zu einer ehrlichen Selbsterkenntnis. Das persönliche Beten muss nicht fromm sein, sondern ehrlich, so dass alles, was in mir ist, Gott hingehalten wird. Nur das, was ich annehme und Gott hinhalte, kann verwandelt werden. Wenn ich Gott darum bitte, mir meine Angst zu nehmen, benutze ich ihn als Zauberer. Aber ich stelle mich meiner Angst nicht, sondern möchte sie möglichst schnell loswerden. Aber was ich loswerden will, das bleibt an mir hängen. Nur was ich annehme, kann ich loslassen. Und nur was ich annehme, kann verwandelt werden.

Gebet und Rituale

Mir helfen Rituale, das Gebet täglich in den Alltag zu integrieren. Da ist für mich vor allem das Morgenund Abendritual wichtig. Natürlich haben wir Mönche die gemeinsamen Rituale im Chorgebet und in der Eucharistiefeier. Aber bevor ich in den Frühchor gehe, mache ich ein kurzes Segensritual. Ich stelle mich aufrecht hin und erhebe meine Hände zum Segen. Ich stelle mir vor, dass der Segen Gottes durch meine Hände zu den Menschen strömt, denen ich heute begegne, dass der Segen Gottes in die verschiedenen Termine strömt, die heute anstehen, oder einfach in den Tag. Dann gehe ich in einen gesegneten Tag und ich werde heute gesegneten Menschen begegnen. Das verwandelt meinen Blick auf den Tag und auf die Menschen, mit denen und für die ich heute arbeiten werde.
Den Abend beschließe ich immer mit einem anderen Segensritual. Ich stelle mich hin und öffne die Hände. In den geöffneten Händen halte ich den Tag Gott hin mit allem, was heute war. Wenn etwas nicht optimal war, halte ich es Gott hin, anstatt mir ständig Vorwürfe zu machen: Hätte ich doch anders reagiert, wäre ich doch achtsamer oder freundlicher gewesen. Ich kann den Tag ja nicht mehr ändern. Der ist, wie er ist. Aber ich vertraue darauf, dass Gott das, was nicht optimal war, in Segen verwandeln kann. Und dann schaue ich mit der Brille der Dankbarkeit auf den vergangenen Tag. Dann kann ich ihn in aller Ruhe und Dankbarkeit loslassen. Dieses Ritual mache ich auch, wenn ich nachts spät von einem Vortrag heimkomme. Ich fühle mich dann nicht unter Druck, noch irgendetwas vom Brevier nachbeten zu müssen. Ich stelle mich einfach hin und halte den Tag, den Vortrag, die Fahrt, auch wenn sie beschwerlich war, Gott hin. Dann kann ich den Tag loslassen und ruhig schlafen.

Erfahrungen und Wirkungen des Betens

Der klare Rhythmus des Gebets, den wir Mönche praktizieren, konfrontiert mich immer wieder mit meiner eigenen Wahrheit. Wenn ich keine Lust habe zum Beten oder wenn ich mich innerlich leer fühle, dann spüre ich: Ich muss mich dieser Wahrheit stellen. Ich bin nicht nur fromm oder spirituell. Ich habe auch andere Seiten, die ich vor Gott am liebsten verstecken möchte. Aber das regelmäßige Chorgebet zwingt mich immer wieder, mich in aller Ehrlichkeit mit Gott zu konfrontieren. Ich kenne natürlich auch negative Gefühle, die in mir hochkommen, wenn ich mich über Mitbrüder oder über Menschen ärgere, mit denen ich gesprochen habe. Und ich kenne die Tendenz, solch negativen Gefühlen viel Raum zu geben. Das regelmäßige Gebet ist immer wieder Unterbrechung dieser negativen Gedanken, die in sich die Tendenz haben, als ständiges Kopfkino in mir abzulaufen. So verwandelt der Rhythmus des Gebetes immer wieder meine Beziehung zu den Menschen und er bewahrt mich davor, mich in negative Gedanken hinein zu verlieren.
Ich erlebe in der Begleitung viele spirituelle Menschen, die sich innerlich leer fühlen. Und ich kenne selber auch dieses Gefühl der Leere. Dann gehen die Gebete an mir vorbei, ohne dass sie mich berühren. Viele wollen diese innere Leere nicht wahrhaben und stopfen sie dann mit vielen Aktivitäten zu. Gerade seelsorgliche Aktivitäten sind ja eine gute Ausrede, sich der eigenen Leere nicht zu stellen. Doch das immer wiederkehrende Stundengebet zwingt mich, mich der eigenen Leere zu stellen. Dann wecken die Psalmen in mir die Sehnsucht, die unterhalb dieser Leere ist. Es ist die Sehnsucht, dass Gott meine Leere ausfüllen möge. Wenn ich mit dieser Sehnsucht beim Beten in Berührung komme, dann wandelt sich meine Leere. Ich spüre dann, dass die Leere mich einlädt, mein Ego loszulassen, das Gott gerne dazu benutzen möchte, immer gute Gefühle zu haben. Aber es geht nicht um gute Gefühle, sondern um die Bereitschaft, mich ganz und gar in Gott hinein loszulassen, ohne die Erwartungen, immer schöne Gefühle dabei zu bekommen.
Das regelmäßige Gebet gibt mir aber auch Halt. Ich spüre, dass meine Seele nicht von selbst immer in Ordnung ist. Die äußere Ordnung des Gebetes bringt meine manchmal chaotische Seele in Ordnung. Und der Rhythmus des Gebetes vermittelt mir Geborgenheit. Ich fühle mich daheim in dieser klaren Ordnung. Natürlich wird diese Ordnung immer wieder auch durchbrochen, etwa wenn ich Auswärtstermine habe. Dann halte ich mich nicht sklavisch an die Ordnung, sondern lasse mich auf das ein, was gerade von mir erwartet wird. Aber dann kehre ich gerne wieder in die vertraute Ordnung des klösterlichen Tages zurück. Es ist dann wie ein „Nach-Hause-Kommen“. Und es vermittelt das Gefühl von Heimat, von spiritueller Heimat.
Der Rhythmus des Gebetes hindert mich nicht an der Arbeit, im Gegenteil, er befruchtet meine Arbeit. Denn der Rhythmus hält wach. Schon C. G. Jung wusste, dass der, der im Rhythmus arbeitet, effektiver und nachhaltiger arbeiten kann. Manche Besucher von außen meinen, die Zeit für das Gebet fehle uns an der Zeit für die Arbeit. Doch gerade weil mein Tag durch die Gebetszeiten so gut strukturiert ist, ist die Zeit zum Lesen und Schreiben für mich kostbar. Der Rhythmus bewahrt mich davor, mich hängen zu lassen. Er führt dazu, dass ich die Zeit, die mir zum Arbeiten bleibt, auch nutze.
Das ständige Gebet ist keine Garantie, ein spiritueller Mensch zu werden. Aber es konfrontiert mich ständig mit meiner Wahrheit und so hält es mich lebendig. Und es unterstützt das, was Benedikt als Ziel des Mönchseins gesehen hat: der Mönch ist einer, der sein Leben lang Gott sucht. Gerade wenn ich im Gebet eine innere Leere spüre, drängt es mich dazu, nach Gott zu suchen, oder – wie es von Maria Magdalena heißt – den zu suchen, den meine Seele liebt. Die Suche nach Gott ist für mich aber immer auch die Suche nach mir selbst, nach meiner eigenen Wahrheit, nach dem Geheimnis meines Lebens.

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